Die politische Ideengeschichte erschöpft sich nicht in Klassikerlektüre und in der Rekonstruktion intellektueller Deutungskämpfe, sondern berührt das Feld der Traditionsbildung. Parteien schöpfen ihre Identität nicht zuletzt aus der Pflege eines Pantheons von Persönlichkeiten, deren Leitbildcharakter vergegenwärtigt wird, aber auch kritisch aufzuarbeiten ist. Die parteinahen Stiftungen kommen dieser Aufgabe nach, indem sie nicht zuletzt das Lebenswerk ihrer Namenspatrone stets aufs Neue ins Gedächtnis rufen. Konrad Adenauer und Friedrich Ebert waren keine auffälligen Denker, sondern pragmatische Politiker, deren Leistungen vielfältig erinnert werden können, deren Äußerungen indes nicht unbedingt mit philologischer Sorgfalt unter die Lupe genommen werden müssen; Heinrich Böll spielt als Schriftsteller und freier Intellektueller eine parteiunabhängige Sonderrolle; Rosa Luxemburg wiederum hat den Status einer Ikone aus dem Zeitalter der Extreme.

Die FDP hingegen arbeitet sich seit Jahrzehnten an Friedrich Naumann (1860–1919) ab, dessen Bekanntheit schon bei Gründung der gleichnamigen Stiftung im Jahr 1958 verblasst war und dessen Bedeutung für den deutschen Liberalismus in zunehmendem Maße historisch erläuterungsbedürftig ist, weil ihn keiner mehr kennt. Das ist nicht verwunderlich: Als Theologe hinterließ er kaum Spuren, als Politiker blieb ihm der große Erfolg versagt, als Ideengeber und Schriftsteller argumentierte er mit Blick auf die Forderungen des Tages eher unsystematisch, als Publizist und Anreger blieb seine Wirkung charismagebunden und beschränkte sich auf seinen engsten Kreis. Verwirrend bleiben die von ihm vertretenen Positionen, wenn sie ohne historische Einordnung schlagwortartig nebeneinander genannt werden: das vom Antisemiten Adolf Stoecker inspirierte Engagement für den Nationalsozialen Verein, sein demokratischer Monarchismus und Wilhelminismus, die im Ersten Weltkrieg artikulierten Mitteleuropa-Pläne. Wenn Naumann als Vordenker eines sozialen Liberalismus galt, der die Industriegesellschaft lebenswerter gestalten wollte und sich für die Emanzipation der Frauen einsetzte, demonstriert dies einmal mehr, dass demokratische Überzeugungen nur zeitgebunden zu verstehen sind und sich voreilige bequeme Urteile dort verbieten, wo historisches Verstehen umsichtige Interpretation erfordert.

Vor diesem Hintergrund ist ein Band zu begrüßen, den die wissenschaftliche Abteilung der Friedrich-Naumann-Stiftung, das Archiv des Liberalismus in Gummersbach, initiiert und ediert hat. Passend zur Rückkehr des parteipolitischen Liberalismus in die Regierungsverantwortung und zur unverhofften Wiederauflage einer lange Zeit für unwahrscheinlich gehaltenen rotgelben Koalition erhellen die versammelten Studien zu Friedrich Naumann sozialliberale Traditionslinien. Auch deshalb kommt der Band im richtigen Moment, denn der einstmalige Erwartungsbegriff des Sozialliberalismus spielte in den programmatischen Überlegungen der FDP wohl zuletzt in den legendären Freiburger Thesen von 1971 eine Rolle.

Die Arbeiten des Bandes decken ein weites Spektrum der Naumannschen Tätigkeitsfelder ab und können an dieser Stelle nicht erschöpfend resümiert werden. Jürgen Frölich, vermutlich der versierteste Kenner des Œuvres und Verfasser von gleich zwei Beiträgen, zeichnet die Entwicklungsstufen seines Denkens nach. Naumanns orthodoxes Luthertum ließ ihn einen langen Weg vom Pastorenhaus und einem national-sozialen Konservatismus bis hin zu einem vage verstandenen Gesamtliberalismus zurücklegen. Vom Sozialismus blieb Naumann fasziniert, und an der Arbeiter*innenbewegung störte den deutschen Seelensucher vor allem ihr Internationalismus. Der wilhelminische Prophet der Industriegesellschaft brauchte allerdings bis zur Daily-Telegraph-Affäre, um zu einem entschiedenen Advokaten parlamentarischer Regierung zu werden und sich vom Kaiser zu lösen. (Freund Max Weber half dabei!) Eine Synthese von „Demokratie und Kaisertum“ (so Titel eines seiner bekanntesten Bücher aus dem Jahr 1900) blieb eine Schimäre. Die Tatsache, dass Naumann in vielerlei Hinsicht den imperialen und nationalen Zeitgeist repräsentierte, bleibt unstrittig. Aber Naumann war kein Militarist, sondern setzte in den Jahren vor 1914 in liberaler Weise auf die pazifizierende und zivilisierende Wirkung des Welthandels und der Völkerverständigung.

Ulrich Sieg markiert ebenfalls die Lernprozesse des als Hunnenpastor verschrienen Publizisten, dessen sozialdarwinistische Ausfälle und unkritische Haltung gegenüber dem Völkermord an den Armenier*innen kaum entschuldbar sind, der aber zunehmend die Rechte der sogenannten kleinen Völker anerkannte und sich klar gegen den Antisemitismus seiner Zeit positionierte. Naumann wird somit zur Personifizierung der Ambivalenzen, welche in der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Debatte um das Kaiserreich immer wieder betont werden. Einen triftigen Grund für die Schwierigkeiten der Naumann-Rezeption erkennt Sieg in dessen zukunftsfrohen Optimismus, der im Vergleich zu Max Webers fatalistischer Geschichtssicht und dem anbrechenden Zeitalter der Extreme retrospektiv naiv wirken muss. Aber sind damit seine Positionen entwertet? Auch in dieser Hinsicht hilft eine Historisierung „vergangener Zukunft“ (Koselleck).

Birgit Bublies-Godau diskutiert in instruktiver Weise Naumanns ambivalentes Verhältnis zur Frauenemanzipation, die er zwar grundsätzlich unterstützte, sich aber erst sehr spät, nämlich ab 1913, explizit für das Frauenwahlrecht und die vollständige politische Gleichberechtigung einsetzte. Naumanns Bestimmung des Verhältnisses von Konfession, Kirche und Politik arbeitet Ursula Krey als „langlebigstes politisches Vermächtnis“ heraus, das in Grundzügen noch im Grundgesetz zu finden ist. Als einflussreichen publizistischen Virtuosen porträtiert Christoph Jahr den ebenso fleißigen wie umtriebigen Naumann, dessen Ausstoß an Büchern, Broschüren, Abhandlungen und Artikeln heute noch staunen macht. Kulturgeschichtlich gesättigt und im besten Sinne unterhaltsam ist Anne C. Nagels Auseinandersetzung mit Naumanns Enthusiasmus für das moderne Leben. Für die Ästhetik der modernen Industriearchitektur konnte er sich ebenso begeistern wie für das Automobil (immerhin dieses Erbe pflegt die FDP bis in die Gegenwart). Naumann rühmte die Sauberkeit der motorisierten Mobilität als Hoffnung für die durch Pferdeausscheidungen verunreinigten Städte seiner Zeit.

An Naumanns unkonventionellen Entwurf der Grundrechte für das Weimarer Verfassungswerk erinnert Ewald Grothe, denn der Gründungsvorsitzende der DDP formulierte in einfacher, nichtjuristischer Sprache eine Art Volkskatechismus und zog damit nicht zu knapp den Spott der Kritiker auf sich. Mittlerweile lässt sich Naumanns Bemühen um eine verständliche Kommunikation demokratischer Lebensform als antielitäre Didaktik würdigen. Liberaler Optimismus, entschiedener Republikanismus und emotionales Eintreten für soziale Gerechtigkeit beglaubigten die Aufrichtigkeit seines politischen Engagements.

Vielleicht liegt in dieser Hinsicht auch die Bedeutung Naumanns für den suchenden Sozialliberalismus der Bundesrepublik, wie Wolther von Kieseritzky vorschlägt. Während der Marktliberalismus stets mit dem Vorwurf der sozialen Kälte zu kämpfen hat und eine Ideologie der vermeintlichen Leistungsträger*innen bleibt, bezieht der Linksliberalismus seine Glaubwürdigkeit vor allem aus der Ernsthaftigkeit seines sozialen Anliegens, das die Ermöglichung von Eigeninitiative, Selbstverantwortung und persönlicher Freiheit immer an einen gesellschaftlichen Rahmen bindet und die Pflicht zur Solidarität mit Schwächeren einfordert. Naumann sträubte sich dagegen, die Liberalen zur reinen Interessenpartei des Mittelstands zu machen. Er wusste, dass sich aus Doktrinarismus kein politisch verantwortliches Freiheitsverständnis ableiten lässt, sondern dass jede historische Konstellation neue politische Mittel erfordert, um Freiheiten für die Bürger*innen zu ermöglichen. Insofern wirken seine Ansätze und Einsichten wieder erstaunlich aktuell – und der vorliegende Band regt zur fruchtbaren Beschäftigung mit einem manchmal sperrigen, aber im produktiven Sinne streitbaren politischen Denker ein.