Alexandre Kojève (1902–1968) beginnt sein 1942 während der deutschen Besatzung Frankreichs verfasstes und 2004 posthum auf Französisch erschienenes Traktat über Autorität, das nun in deutscher Übertragung vorliegt, mit der Bemerkung, es sei „unmöglich, politische Macht oder auch nur die Struktur des Staates zu behandeln, ohne zu wissen, was Autorität als solche ist“ (S. 7). Den Einstieg in die philosophische Analyse, an die sich „Anwendungen“ und „Appendizes“ anschließen, bilden drei Kernüberlegungen: Autorität geht erstens „von demjenigen aus, der Änderung veranlassen kann und selbst keinem Wandel ausgesetzt ist: Autorität ist wesenhaft aktiv und nicht passiv“ (S. 15). Der „autoritäre Akt“ unterscheidet sich zweitens „von allen anderen durch die Tatsache, dass er auf keinen Widerstand vonseiten desjenigen oder derjenigen trifft, an die er sich richtet. Das setzt zum einen die Möglichkeit von Widerstand voraus und zum anderen den bewussten und freiwilligen Verzicht auf die Verwirklichung dieser Möglichkeit“ (S. 16). Daher hat Autorität drittens nichts mit Gewalt zu tun, aber eben auch nichts mit Diskussion oder Kompromiss, denn „[j]ede Diskussion ist bereits ein Kompromiss“, Autorität aber „ist die Möglichkeit zu handeln, ohne Kompromisse (im weiteren Sinne des Wortes) zu machen“ (S. 18).

Mit diesem Auftakt in die verzwickte Problematik der Autorität folgt Kojève zunächst Max Webers herrschaftstheoretischer Verschwisterung von Autorität und Macht: Die Handlungsfreiheit, Veränderungen zu bewirken, wird aufseiten der Autoritäten verortet, während die Option aller anderen primär darin besteht, freiwillig auf Widerstand zu verzichten. Kojève löst damit das Spannungsverhältnis zwischen Autorität, Freiheit und Demokratie auf, das im Mittelpunkt der politiktheoretischen Arbeiten von Hannah Arendt, Carl Joachim Friedrich und Dolf Sternberger aus den 1950er- und 1960er-Jahren steht, die nach der Erfahrungen totalitärer Herrschaft versuchen, einen demokratischen Begriff autoritativer Autorität wiederzugewinnen. Vor allem Arendt und Sternberger rekurrieren dabei auf die römisch-republikanische Unterscheidung zwischen „auctoritas“ und „potestas“, zwischen der ratgebenden Kompetenz des aristokratischen Senats und der politischen Entscheidungsmacht demokratisch legitimierter Institutionen. Sie folgen darin der wirkmächtigen Auffassung von Theodor Mommsen, der den Rat, den der mit „auctoritas“ ausgestattete Senat der Bürgerversammlung bzw. dem Magistrat erteilte, als einen bezeichnet, der mehr ist „als ein Rathschlag und weniger als ein Befehl, ein Rathschlag, dessen Befolgung man sich nicht füglich entziehen kann“ (Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, 1888).

Kojève – wiewohl in der Ideengeschichte der europäischen Antike sehr bewandert – erwähnt das römische Beispiel politisch-institutioneller Ausbalancierung an keiner Stelle. Er unterscheidet vielmehr vier Autoritätstypen und ordnet diese jeweils philosophischen Traditionen zu: Die „Autorität des Vaters“ (S. 26) bezieht ihre Kraft aus der Vergangenheit und findet sich in der scholastischen bzw. theologischen Theorie. Die „Autorität des Herrn über den Knecht“ (S. 26) ist hegelianischen Ursprungs und zeigt sich in der Macht, die der Herr in der Gegenwart über andere ausübt. Die „Autorität des Anführers“ (S. 27) ist auf die Zukunft ausgerichtet und wird auf Aristoteles’ Theorie politischer Führung zurückgeführt. Die „Autorität des Richters“ (S. 27) schließlich gilt als überzeitlich und findet sich exemplarisch in Platons Theorie der Gerechtigkeit.

Wie Philipp Wünscher in seinem Nachwort betont, besteht die Originalität von Kojève nicht in den „64 Autoritätstypen“ (S. 48), die er kombinatorisch aus diesen vier reinen Typen gewinnt, sondern im systematischen Versuch zu zeigen, „dass die eigentliche Stiftung von Autorität die Zeit selbst ist […]. Denn mit ihr wird die Entwicklung (politischer) Autorität nicht allein als Verfallsgeschichte präsentiert, sondern vielmehr als eine Dynamik, die nicht chaotisch verläuft, sondern – orientiert an Marx’ und Hegels Geschichtsdenken – einer gewissen Dialektik folgt, die letztlich in das berüchtigte Ende der Geschichte mündet“ (S. 171). In Kojèves Temporalisierung von Autorität ist die vorpolitische väterliche Autorität zwar insofern prioritär, als die im privaten Raum wirkende und erzieherisch tätige Autorität des Vaters die habituelle Grundlage für das erfolgreiche Wirken der politischen Autoritäten des Herrn, des Anführers und des Richters bildet, die gerade nicht erziehen wollen, sondern Handlungen anweisen. Aber neben dieser patriarchalischen Ausdeutung, wonach nur das zur Autorität erzogene Subjekt zum „auctor“ werden kann, der politische Autoritäten autorisiert, kann sich Autorität „nur in einer temporal strukturierten Welt ‚manifestieren‘ […], ist also eine ‚Modifikation‘ der Entität ‚Zeit‘ […] im Rhythmus [von] Zukunft, Vergangenheit [und] Gegenwart“ (S. 76).

In seiner Bestimmung, „dass die Zeit als solche den Status von Autorität erlangt“ und „in allen ihren drei Modi“ wirkt (S. 77), kehrt Kojève zum einen die traditionelle Rangordnung der Autoritäten um. Das Primat hat nun nicht mehr die ehrwürdige Autorität der Vergangenheit, sondern die Zukunft: „Die Autorität par excellence ist diejenige des ‚revolutionären‘ Anführers“, dessen Handeln ein Versprechen auf Veränderung ist (S. 76). Zum anderen stellt er allen drei Autoritätstypen die „Autorität der Ewigkeit“ gegenüber, die eine „Negation der Zeit“ ist und sich in der Figur des Richters (oder des entpersonalisierten Rechts) negativ auf die Autorität der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft bezieht (S. 78–79). Die Gefahr besteht Kojève zufolge darin, dass die überzeitliche Autorität der Gerechtigkeit oder des Rechts die temporal und stabilitätspolitisch eng aufeinander bezogenen Autoritätsbeziehungen des Vaters, des Herrn und des Anführers nachhaltig stört oder gar auflöst.

In seinen Anwendungen spitzt Kojève den Konflikt zwischen den temporalen Autoritäten auf der einen und der überzeitlichen Autorität auf der anderen Seite auf die Kritik an dem entpersonalisierten, enttemporalisierten und gewissermaßen autoritätslosen liberalen Rechtsstaat zu. Das ist zwar ein durchaus radikaler Einspruch gegen liberale wie republikanische Autoritätskonzeptionen, die Autorität gerade im Recht bzw. in der Verfassung und den sich auf sie berufenden juristischen Institutionen und Eliten verorten, der Staatsbegriff aber, den Kojève aus seinen philosophischen Analysen gewinnt, ist eher konventionell. Das sui generis-Element des Staates ist für ihn die Regierung, deren Träger die „vereinigten Autoritäten des Anführers und des Herrn“ bilden: „Die politische Autorität, die per Definition die Autorität des Staates ist, impliziert also notwendigerweise ein Element von Regierungs-Autorität“ (S. 118). Auch die in den Anhängen behandelten Beispiele sind politiktheoretisch wenig innovativ. Als „historisches Dokument“ mögen Kojèves politische Handreichungen an das Vichy-Regime zur Wiederherstellung politischer Ordnung sicher „brisant“ sein, wie der Herausgeber betont (S. 176), insofern Autorität nunmehr „dezidiert an (Führungs‑)Personen und nicht an Ideen, Ämter oder Parteien gebunden“ wird und allgemeine Wahlen als „Ort, an dem Autorität entsteht“, abgelehnt werden (S. 178). Eine neue Konzeption politischer Autorität, die über elitär-autoritäre Vorstellungen hinausreicht, bietet Kojève jedoch nicht.