Um die Geschichtsschreibung des eigenen Fachs ist es in der bundesdeutschen Politikwissenschaft schlecht bestellt. Die erste Phase von 1949–1965 ist seit Längerem von mehreren Arbeiten gut ausgeleuchtet worden. Für die Zeiträume danach gibt es hingegen außer den bis 2001 reichenden groben Umrissen in Wilhelm Bleeks monumentaler Geschichte der Politischen Wissenschaft seit dem Mittelalter sowie der bis 1999 reichenden Studie zu den Standorten, Studiengängen und der Professorenschaft unseres Fachs von Cord Arendes keine Arbeit, die einen Überblick über die Entwicklung des gesamten Fachs gibt. Selbst auf Ebene der Arbeitszusammenhänge in der DVPW spielt die Fachgeschichte mittlerweile keine Rolle mehr. Das ist bedauerlich. Ohne eine solide Aufarbeitung der wissenschaftlichen Erfolge, der Irrtümer, der inhaltlichen Kontroversen, der Methodendebatten, der wechselnden Themenkonjunkturen sowie der politischen Einflussnahmen und politischen Ambitionen in der jüngeren Geschichte unserer Disziplin fehlt uns ein Medium der kritischen Selbstreflexion.

Angesichts des immensen personellen Größenwachstums unseres Fachs seit den 1970er- und 1980er-Jahren, des hohen Grades an interner Ausdifferenzierung sowie den Trends zur Internationalisierung und Transdisziplinarität wäre das Vorhaben einer solch umfassenden Disziplingeschichte der vergangenen 50 Jahre, die auch neueren wissenschaftssoziologischen Standards genügen kann, gar nicht mehr aus der Tastatur nur einer Person zu leisten. Vermutlich bedürfte es für ein solches Unterfangen des Zusammenschlusses einer kleinen Gruppe von bereits sehr belesenen Vertreterinnen und Vertretern unseres Fachs.

Die wissenschaftshistorische Lücke wird seit einigen Jahren von Büchern aus drei Genres unsystematisch gestopft. Zum einen mit der Geschichtsschreibung einzelner politikwissenschaftlicher Institute. Zum Zweiten mit einer Reihe von Interviewbüchern mit herausragenden Fachvertreterinnen und -vertretern sowie mehreren Memoirenbänden. Drittens schließlich – und das ist die größte Gruppe – ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Reihe von Biografien über Einzelpersonen, die in der Fachgeschichte eine wichtige Rolle gespielt haben, erschienen.

Zur letztgenannten Gruppe gehört die Monografie von Isabelle-Christine Panreck über den am 6. Dezember 2021 mit 87 Jahren verstorbenen Klaus von Beyme. Mit über 50 veröffentlichten Büchern und mehr als 500 Aufsätzen – verteilt auf einen Zeitraum von sechs Jahrzehnten – gehört von Beyme zu den produktivsten Politikwissenschaftlern der sogenannten dritten Generation. Neben seiner rastlosen Publikationstätigkeit war von Beyme auch ein auf der internationalen Bühne umtriebiger und erfolgreicher Wissenschaftsfunktionär. In den von der DVPW unterstützten fachinternen Rankings nahm sein Name sowohl in der Vergleichenden Regierungslehre wie auch in der Politischen Theorie mehrere Jahrzehnte lang Spitzenpositionen ein. Klaus von Beyme war mit der Vielfalt der von ihm bearbeiteten Themen und seiner Meinungsfreude ein echter Universalpolitologe – vermutlich der letzte dieser Gattung. In Panrecks Buch gelangen sämtliche Facetten des reichhaltigen Œuvres von Beymes zur Geltung. Das macht die Stärken ihrer werkbiografischen Studie aus, aber ebenso sehr deren Schwächen.

Auch wer schon viele Veröffentlichungen von Beymes kennt, wird in Panrecks Aufarbeitung manches Neue finden und vieles zu Unrecht Vergessene wiederfinden. Ärgerlich ist allerdings das Fehlen eines Namensverzeichnisses in der gedruckten Version des Buches. Die biografischen Teile decken sich im Wesentlichen mit den Angaben in von Beymes 2016 erschienenen Autobiografie, ergänzt um einige Informationen aus Gesprächen der Verfasserin mit ihm. Sehr lesenswert sind ihre Schilderungen der Studien von Beymes zum Parlamentarismus in den 1960er-Jahren, die Debatten über den Systemvergleich Bundesrepublik – DDR in den 1970er-Jahren, über den Stand der Parteienforschung in den 1980er-Jahren und die spätere Party-Change-Forschung, über von Beymes Ausflüge in die Kunstpolitologie und in die Städte- und Architekturforschung. Auch den Beiträgen zur Politischen Theorie und zur politischen Ideengeschichte ist ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Mich hat zudem erst das Buch von Panreck erkennen lassen, wie sehr Sowjetunion/Russland zu einem der Lebensthemen von Beymes geworden war, von seiner Studie aus dem Jahre 1964 über den Scheinföderalismus in der Sowjetunion bis hin zu seinen verständnisvoll klingenden Äußerungen über die russische Annexion der Krim 2014.

Bei einer solchen Vielfalt an Titeln, Themen und Thesen kann es nicht ausbleiben, dass die Analyse, Einordnung und eigenständige Bewertung der vielen referierten Arbeiten Gefahr läuft, etwas dünn zu geraten. Wer kann schon wissenschaftlich kompetente Urteile zu so vielen verschiedenen Themenbereichen fällen? Konnte es Klaus von Beyme? Auch Autorinnen und Autoren, die schon etwas länger im Geschäft sind als die Verfasserin einer Qualifikationsarbeit (die Studie wurde als Habilitationsschrift an der TU Chemnitz angenommen), hätten Probleme bei der Beantwortung dieser Frage gehabt. Panreck flüchtet sich aus dieser Schwierigkeit, indem sie eine Reihe an Rezensentinnen und Rezensenten zu Wort kommen lässt. Dies geschieht in schöner Ausgewogenheit mit lobenden wie kritischen Stimmen. Bei den über ihr Buch verteilten kritischen Stimmen fällt allerdings auf, wie häufig in den Rezensionen der Vorwurf der Oberflächlichkeit gegen von Beyme erhoben wurde. Das Gewicht dieses Vorwurfs wiegt umso mehr, als man bei der Lektüre des Buchs bemerkt, dass sich dieser Vorwurf durch Rezensionen aus nahezu sämtlichen Themenbereichen und Teilbereichen des Fachs zieht. Sollte das politikwissenschaftliche Werk Klaus von Beymes während der Hochzeiten seines Erfolgs möglicherweise überschätzt worden sein, weil die Spezialistinnen und Spezialisten aus den verschiedenen Teilgebieten des Fachs ihm in den jeweils anderen Teilgebieten einen allgemeinen Kompetenzvorsprung eingeräumt hatten? Der analytischen Tiefenschärfe von Panrecks Studie hätte es gutgetan, wenn die Verfasserin beispielsweise auf einige der harschesten Kritiken an von Beyme, beispielsweise aus den Federn von Peter Christian Ludz oder Wolf-Dieter Narr, inhaltlich fundiert eingegangen wäre.

Lediglich an einem Punkt bezieht sie deutlicher kritisch Stellung gegenüber von Beyme. Das betrifft seine Einschätzungen zu der erfolgreichen Sozialpolitik in der DDR und den positiven Perspektiven für den Sozialismus in Westeuropa in den 1970er-Jahren. Zu Recht argumentiert Panreck gegen von Beyme, dass die objektivistische Sprache und das Bekenntnis zum empirisch-analytischen Wissenschaftsideal seine subjektiven politischen Bekenntnisse bestenfalls kaschieren konnten.

Mehrfach weist Isabelle-Christine Panreck darauf hin, dass Klaus von Beyme sich mit vielen seiner Arbeiten im Mainstream des Fachs befunden habe. Aus diesem Grund habe er auch keine distinkte Schule gründen können (und wollen). Das ist eine interessante These, denn sie lässt vermuten, dass von Beyme mehr, als es ihm selbst möglicherweise bewusst war, in seinen häufigen meinungsstarken Bewertungen von den mit den Zeitläufen wechselnden politischen Moden abhängig war. Diese bloße Vermutung verweist einmal mehr auf das Desiderat einer umfassenden Fachgeschichte der Politikwissenschaft, die auch die politische Geschichte unserer Disziplin nicht aussparen sollte.