Der Sammelband wirft einen kritischen Blick auf die ontologischen, epistemologischen und methodologischen Grundannahmen der Normenforschung in der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB). Dazu bringt er verschiedene konstruktivistische Ansätze aus den deutschsprachigen IB zusammen, die sich kritisch mit der Normenforschung auseinandersetzen und zeigt auf, wie sich diese unterschiedlichen Konstruktivismen wechselseitig so miteinander in Austausch bringen lassen, dass sie einen vielversprechenden Beitrag zum Erkenntnisgewinn zukünftiger Forschung über Normen leisten können. „Wer mit wem über welche Phänomene wie in einen Austausch treten kann und wo die Kommunikation zwischen Normenforschungen schwierig wird“, wird anhand der Reflexion der jeweils in Anschlag gebrachten metatheoretischen Grundannahmen „sichtbar und damit auch verstehbar gemacht“ (S. 60). Dementsprechend bewegen sich die meisten Beiträge des Bandes auf einem recht hohen Abstraktionsniveau. Einigen von ihnen hätte eine Veranschaulichung durch Ausflüge in die Empirie der internationalen Politik durchaus gutgetan, wie insbesondere Aufsätze im zweiten Teil deutlich machen. Dennoch lassen sich die einzelnen Beiträge durchweg mit Gewinn lesen, wenn man das Feld der Normenforschung nicht gerade als Neuling betritt. Mit Blick auf die von den HerausgeberInnen formulierte Zielsetzung, mithilfe des Sammelbandes nicht nur Unterschiede innerhalb der konstruktivistischen Normenforschung zu identifizieren, sondern auf der metatheoretischen Ebene auch nach Verständigungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen kritischen Ansätzen der Normenforschung zu suchen, wäre es aus Gründen der Verständlichkeit, Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit hilfreich gewesen, zunächst die neuen Ansätze der konstruktivistischen Normenforschung zu präsentieren und auf dieser Grundlage und mit entsprechenden Verweisen dann zu den metatheoretischen Perspektiven auf die Normenforschung überzuleiten. So startet man jedoch mit den tiefschürfenden Überlegungen von Bastian Loges zu den metatheoretischen Grundlagen der Normenforschung und seinem Unterfangen, diese transparenter zu machen, ihre (theoretische und methodische) Diversität aufzuzeigen und zugleich einen Strukturierungsvorschlag auf der Basis metatheoretischer Schlüsselbegriffe zu unterbreiten. Dabei wird die Diskrepanz zwischen ontologischen Annahmen und methodologischer Umsetzung in der Normenforschung deutlich. Er beschließt seine Ausführungen mit Reflexionen über die Implikationen von Metatheorie für die Einheit und Vielfalt von Normenforschung(en). Dass es in diesem Forschungsfeld verschiedene Konstruktivismen gibt sowie differierende Verständnisse davon, was kritische Forschung über Normen kennzeichnet, verdeutlichen die folgenden Aufsätze anhand ihrer je spezifischen metatheoretischen Perspektiven. Sie demonstrieren in überzeugender Weise, dass kritische Ansätze einen wertvollen Beitrag zur theoretischen Weiterentwicklung der Normenforschung leisten können, wenn sie ihre eigenen theoretischen und methodischen Herangehensweisen metatheoretisch reflektieren.

Im ersten Teil des Bandes wird aufgezeigt, wie theoretische Konzepte und metatheoretische Annahmen die Forschung über Normen prägen und welche unterschiedlichen epistemologischen Perspektiven, ontologischen Annahmen und methodologischen Divergenzen in die Normenforschung einfließen. So untersuchen Graf, Glaab und Engelkamp die Konzepte Norm, Diskurs und Praktik entlang differierender ontologischer, epistemologischer und methodischer Dimensionen als Vehikel für Bedeutungen, die auf jeweils unterschiedliche Weise Wirklichkeit hervorbringen, um so Potenziale für den Austausch zwischen unterschiedlichen interpretativen Ansätzen in den IB sichtbar zu machen. Jacobi und Kuntz schlagen vor, die Entstehung und Fortschreibung von Normen unabhängig vom Bewusstsein und von der Intentionalität von Individuen zu konzipieren und sie stattdessen als einen historisch-dynamischen Effekt der Ausübung von Macht durch (Sprech‑)Akte zu betrachten, der sich in der Verkettung solcher Akte materialisiert und so wissenschaftlich beobachtet werden kann. Herschinger und Sauer empfehlen in ihrem Beitrag „eine Kombination aus Elementen pragmatistisch inspirierter Handlungstheorie und poststrukturalistisch informierter Diskurstheorie, um das Wechselspiel von Akteur und Struktur genauer in den Blick zu nehmen“ (S. 118). Mithilfe der Konzepte Dislokation und Krise soll sowohl der Überbetonung einer strukturähnlichen Wirkung von Normen als auch der Vernachlässigung von Agency entgegengewirkt und so normativer Wandel über beide Ebenen – Akteur und Struktur – adäquater erfasst werden können. Schillinger und Niemann setzen sich kritisch mit den Grundannahmen des Konzepts der Umstrittenheit auseinander, wozu sie die Ontologisierung kultureller Praktiken, ein individualistisches Akteurskonzept mit stabilen und einheitlichen kulturellen Identitäten sowie ein implizit dialogisches und konsensuales Politikverständnis zählen. Stattdessen plädieren sie für ein dynamisches, intersubjektives und politisches Verständnis von Normen.

Neben den metatheoretischen Forschungsperspektiven stellt der Band im zweiten Teil neuere Ansätze innerhalb der Normenforschung vor, zeigt theoretische Alternativen zum Normenkonzept auf und nimmt die normativen Implikationen der theoretisch-pluralistischen Normenforschung in den Blick. Zimmermann befasst sich in ihrem Beitrag mit der Bewertung der lokalen Aneignung globaler Normen und argumentiert, dass der prozedurale Aspekt von Aneignungsprozessen in der existierenden Literatur der IB bis heute kaum beachtet wurde. So müssten Diskussions- und Interpretationsspielräume geöffnet und die Demokratisierung der Beziehung zwischen NormverbreiterInnen und NormadressatInnen vorangetrieben werden, um globale Normen in neuen Kontexten zu legitimieren. Wallbott entwickelt in ihrem Beitrag einen prozessualen und relationalen Raumbegriff zur Analyse einer fragmentierten internationalen Institutionenlandschaft. Sie argumentiert, dass die Beantwortung der Frage, ob und vor allem wie sich die themenspezifischen Teilordnungen des internationalen Systems wechselseitig beeinflussen, erst dann möglich ist, wenn ein prozessuales Raumverständnis zugrunde gelegt wird, in dem diskursive, institutionelle und normative Dynamiken aber auch machttheoretische Erwägungen zu Normwandel zusammengefügt werden. Sie betont insbesondere die Agency-Komponente bei der Neugestaltung von Räumlichkeit und der Verschiebung institutioneller wie normativer Grenzen. Im Mittelpunkt des Beitrags von Gholiagha, Hansen-Magnusson und Hofius steht der Umgang mit Normen und ihren Bedeutungen („meaning-in-use“), wobei nicht nur bestehende Bedeutungen in Diskursen und Praktiken, sondern auch Interaktionen, die neue Bedeutungen kreieren, gemeint sind. Damit wird auf die Prozesshaftigkeit von Normen und ihrer Bedeutungen verwiesen. Als Norm erscheint, was als normal gilt und was als normal wahrgenommen wird. Daher ist eine Norm immer kontextgebunden. Das Verhältnis zwischen Normalität und Normativität wird am Beispiel des Folterverbots skizziert. Renner kritisiert in ihrem Beitrag die Normenforschung als politische Praxis, die an der Rekonstruktion und Stärkung bestimmter normativer Strukturen mitwirke und dabei deren Kontingenz und vor allem deren (macht-)politische Aspekte vernachlässige. Als Alternative schlägt sie die poststrukturalistische Diskurstheorie vor, die einen dezidiert kritischen Blick auf globale hegemoniale Normen ermögliche, die produktiven und repressiven Aspekte diskursiver Macht aufdecke und so alternative Wege politischen Handelns denkbar mache. Koddenbrock konstatiert in seinem Beitrag, dass Souveränität und Staat als zentrale Normen internationaler politischer Praxis dienen, und untersucht die performative Wirkung der Staatlichkeitsnorm und der Praktiken der Zuschreibung von gescheiterter Staatlichkeit im Rahmen des Staatsaufbaus. Mithilfe eines Gedankenexperiments illustriert er am Beispiel des Kongo, wie sich über die Staatsnorm hinausdenken lasse, um so alternative Antworten auf globale Herausforderungen in den Blick zu bekommen.

Die HerausgeberInnen konstatieren völlig zu Recht, dass die Beiträge aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven über disziplinäre Grenzen und Lager-Logiken hinweg zueinander sprechen. Indem die AutorInnen dabei ihre eigenen ontologischen und epistemologischen Zugänge zur Erforschung von Normen reflektieren, zeigen sie implizit, oft aber auch explizit, dass der Forschungsgegenstand nicht von den ForscherInnen zu trennen ist und deshalb die subjektive Situiertheit der ForscherInnen immer zu berücksichtigen sei. Des Weiteren eröffnet eine derart metatheoretisch reflektierte Herangehensweise auch die Möglichkeit des Dialogs und der wechselseitigen produktiven Kritik. Was den konkreten Forschungsgegenstand angeht, so fällt auf, dass Normen vielfach als kontingente, historisch bedingte, prozedural und relational kontextgebundene und deshalb als umstrittene sowie durch Macht konstruierte Produkte von Sprache und Praktiken analysiert werden. Diese Ausweitung und Verflüssigung des Verständnisses von Normen ist aber in erster Linie als produktiver Prozess zu betrachten, da sie eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten ganz unterschiedlicher Zugänge zur Forschung über Normen ermöglicht sowie eine Bühne für wechselseitige Verständigungsprozesse bietet – und genau darin besteht ja das Anliegen dieses sehr lesenswerten Sammelbandes.