Im Gegensatz zur sterilen Neoklassik sind sich politökonomische Denker wie Marx und Polanyi auf der Linken sowie Schumpeter und Hayek auf der Rechten darin einig, dass dem Kapitalismus eine ebenso schöpferische wie zerstörerische Dynamik innewohnt. Kapitalistische Gesellschaften sind dementsprechend quasi per definitionem nicht durch Gleichgewicht und Harmonie, sondern durch Ungleichgewicht und soziale Konflikte gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass populäre politikökonomische Ansätze wie „Varieties of Capitalism“ (VoC) ein äußerst harmonisches Bild einzelner Kapitalismustypen zeichnen. Deutschland repräsentiert dabei den Idealtyp der koordinierten Marktwirtschaft, die durch längerfristige Kooperation der Marktteilnehmer*innen, inkrementelle Innovationen und sozialen Ausgleich gekennzeichnet ist. Institutionelle Komplementaritäten – beispielsweise die Gewährung eines starken Kündigungsschutzes dank einer langfristigen Finanzierung durch Hausbanken – sorgen demnach für Stabilität und Kontinuität.

Angesichts der beobachtbaren Erosion dieser Stabilität, welche sich unter anderem im Anstieg der sozialen Ungleichheit, der Aushöhlung der Sozialpartnerschaft und der Abwendung großer Wählerschichten von den etablierten Parteien äußert, plädieren die beiden Herausgeber des Sammelbandes, Tobias Schulze-Cleven und Sidney A. Rothstein, für einen Paradigmenwandel in der politökonomischen Forschung. Gefragt ist die Einnahme einer Perspektive, die ganz im Sinne der Klassiker Ungleichgewichte und Instabilität in das Zentrum der Betrachtung rückt: „[A] framework centred on imbalance allows for studying Germany not as a neat system, but as an inherently unstable configuration-in-motion“ (S. 18). Zu diesem Zweck versammelt der Band deutsche und internationale Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler*innen, die in zehn empirischen Kapiteln die Veränderungen in den zentralen Bereichen des deutschen Kapitalismus in den Blick nehmen. Eingerahmt werden diese Studien durch theoretische Vorüberlegungen der beiden Herausgeber und eine abschließende Debatte zu Zustand und Zukunft des deutschen Modells zwischen Walther Müller-Jentsch, Britta Rehder und den Herausgebern.

In ihrem einführenden Rahmenkapitel nennen Rothstein und Schulze-Cleven drei theoretische Ansatzpunkte, um die Instabilität des deutschen Modells zu analysieren: 1) systemische Merkmale des Kapitalismus wie kapitalistische Expansion, Erschöpfung sozialer Kompensationsmöglichkeiten und Akkumulation sozialer Macht, 2) negative Feedbackprozesse, die das System von innen heraus destabilisieren sowie 3) organisationstheoretische Überlegungen zur Anpassung zentraler kollektiver Akteure an veränderte nationale und internationale Rahmenbedingungen. Auf diesem Wege ist es laut den beiden Autoren möglich, destabilisierende Entwicklungen auf drei unterschiedlichen Ebenen in den Blick zu nehmen: Liberalisierungstendenzen innerhalb der Institutionen der koordinierten Marktwirtschaft, die Aushöhlung des korporatistischen Interessenausgleichs zulasten der Arbeitnehmerseite und die normative Schwächung lange Zeit vorherrschender wirtschafts- und sozialpolitischer Leitideen. Die Beiträge des Sammelbandes sind dementsprechend in drei thematische Blöcke unterteilt: „The Evolution of Economic Institutions“, „Interest Intermediation in Transition“ und „Reinterpreting the Macroeconomic Regime“.

Der erste thematische Block setzt sich kritisch mit der Kontinuitätsthese des VoC-Ansatzes auseinander. Die zugehörigen Beiträge fokussieren sich auf verschiedene institutionelle Bereiche des deutschen Kapitalismus und demonstrieren, dass diese erheblichen Veränderungen unterliegen, was in der Summe den Charakter des deutschen Modells nachhaltig verändert. Die Expansion der Hochschulbildung auf Kosten der für Deutschland charakteristischen dualen Ausbildung hat, wie Niccolo Durazzi und Chiara Benassi zeigen, institutionelle Anpassungen im Ausbildungssystem nach sich gezogen. Für das Ende der Arbeitslaufbahn zeichnet Ute Klammer nach, wie der Abbau der staatlichen Frühverrentung über die Etablierung firmen- und sektorspezifischer Frühverrentungsprogramme zu neuen sozialen Ungleichheiten führt. Ein weiterer Beitrag von Benjamin Braun und Richard Deeg knüpft an die aktuelle Forschung zu den Wachstumsmodellen an und demonstriert, dass die starke deutsche Exportorientierung weitreichende Folgen für die Unternehmensfinanzierung und das Kräfteverhältnis zwischen den Wirtschaftssektoren hat. Die auch auf Lohnzurückhaltung seitens der Arbeitnehmer*innen basierenden Gewinne sorgen dafür, dass Industrieunternehmen immer weniger auf das „stille Kapital“ der deutschen Banken angewiesen sind und sich im Zeitverlauf sogar zu Nettokreditgebern entwickelt haben. Die Folge ist ein deutlicher Bedeutungsverlust des Bankensektors gegenüber dem stärker finanzialisierten Industriesektor.

Der zweite thematische Block widmet sich Veränderungen in der Interessenvermittlung und damit verbundenen gesellschaftlichen Machtverschiebungen. Zwei inhaltlich komplementäre Beiträge fokussieren sich auf die industriellen Beziehungen und die Schwächung der für das deutsche Modell charakteristischen Sozialpartnerschaft durch die Arbeitgeberseite. Martin Behrens und Heiner Dribbusch zeigen auf Basis aktueller Umfragedaten, dass der Widerstand der Unternehmen gegen die Gründung von Betriebsräten nicht auf bestimmte Sektoren beschränkt ist und dass vor allem mittelgroße und eigentümergeführte Firmen betroffen sind. Die Einschüchterung von Kandidat*innen für Betriebsratsposten stellt demnach eine besonders beliebte Strategie der Arbeitgeberseite dar. Die Sozialpartnerschaft innerhalb multinationaler Konzerne gerät dagegen, wie Stephen J. Silvia darlegt, durch die schwächere Position der Arbeitnehmerseite im Ausland unter Druck. Als Gegenmaßnahme bemühen sich deutsche Gewerkschaften um eine stärkere Koordination mit ausländischen Gewerkschaften sowie um eine Unterstützung der Arbeitnehmer*innen an ausländischen Standorten, beispielsweise bei der Bildung von Betriebsräten. Der Erfolg beim „Export“ solcher Institutionen ist allerdings begrenzt. Dies wird unter anderem durch die von der IG Metall unterstützten, aber letztlich gescheiterten Bemühungen der Etablierung von Betriebsräten an den US-Standorten der deutschen Automobilkonzerne illustriert.

Ein letzter Block von Beiträgen nimmt eine makroökonomische Perspektive ein und behandelt den Zusammenhang sowie die ideelle Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit und makroökonomischen Ungleichgewichten. Das Festhalten der SPD an der fiskalpolitischen Orthodoxie im Rahmen der Eurokrise war laut Björn Bremer dem Fehlen eines alternativen ökonomischen Paradigmas geschuldet. Inwieweit die Verheerungen der Coronapandemie daran etwas geändert haben, wird die Ampelkoalition unter Olaf Scholz zeigen. Zur Einhaltung der Schuldenbremse werden sicherlich auch unter der neuen Regierung wieder ordoliberale Argumente ins Feld geführt werden. Wie Brigitte Young überzeugend darlegt, fehlt es diesen Argumenten in der politischen Debatte allerdings nicht nur häufig an Tiefgang, sondern auch an Erklärungskraft für den deutschen Exporterfolg. Deutlich überzeugender sind demnach makroökonomische Analysen, die die strukturelle Ausgestaltung des Euroraums in den Mittelpunkt rücken. Zwei derartige Analysen finden sich am Ende des Sammelbands. Jan Behringer, Nikolaus Kowall, Thomas Theobald und Till van Treeck legen dar, wie Leistungsbilanzüberschüsse, Unternehmensgewinne und wachsende Vermögensungleichheit in Deutschland miteinander verbunden sind. In einem seiner letzten Aufsätze seziert Wade Jacoby die ökonomischen Argumente, die im politischen Diskurs zur Verteidigung der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse vorgebracht werden, und legt die Partikularinteressen offen, die sich hinter diesen Argumenten verbergen.

Trotz der gemeinsamen Zielsetzung folgen die einzelnen Beiträge keinem strengen einheitlichen Gerüst. Gerade durch den Verzicht auf ein solches Prokrustesbett entsteht in der Gesamtschau ein äußerst facettenreiches Bild der politischen Ökonomie Deutschlands, mitsamt all ihren Instabilitäten, Konflikten und Rissen. Der Sammelband leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Literatur, die über das starre und erstarrte Bild der VoC hinausgeht und die Widersprüche, Machtungleichgewichte und ständigen Kämpfe innerhalb kapitalistischer Gesellschaften ernst nimmt. Weil auch die Implikationen des deutschen Exportmodells mitsamt seinen massiven Leistungsbilanzüberschüssen für die Eurozone in mehreren Artikeln kritisch behandelt werden, bereichert der Sammelband trotz des Fokus auf Deutschland zudem aktuelle Debatten in der Internationalen Politischen Ökonomie und der Europaforschung. Schließlich stellt der Band ein implizites Plädoyer für eine tiefgehende Untersuchung der politischen Ökonomien anderer europäischer Staaten dar, die zum Teil einem noch stärkeren Wandel unterliegen, der häufig eng mit den Entwicklungen in Deutschland verbunden ist.

Neben Forscher*innen aus den genannten Feldern ist der Sammelband vor allem fortgeschrittenen Studierenden zu empfehlen, die an differenzierten und kritischen Analysen zum Zustand der vermeintlich koordinierten und sozialen Marktwirtschaft Deutschlands interessiert sind.