Dass ein landespolitisches Ereignis eine Druckwelle auslöst, die die gesamte nationale Politik erfasst, ist selbst im durch seine starke Verflechtung charakterisierten bundesdeutschen Föderalismus eine Seltenheit. Die Landtagswahl in NRW 2005 war so ein Fall: Kanzler Schröder nahm die Niederlage der SPD zum Anlass, die Vertrauensfrage zu stellen, um damit vorgezogene Neuwahlen auszulösen. Mitte der 1990er-Jahre hatte die Tolerierung einer rot-grünen Landesregierung durch die damalige PDS für Debatten im ganzen Land gesorgt – und fand als „Magdeburger Modell“ Eingang in den politischen Wortschatz der Nation.

Verglichen mit diesen bundespolitischen Beben kam die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD am 5. Februar 2020 einem politischen Tsunami gleich. Sie löste den Rücktritt der Bundesvorsitzenden der einzigen bis dato verbliebenen Volkspartei im Bund aus, brachte kurzzeitig die Koalition in Berlin ins Wanken und veranlasste die Kanzlerin zu der denkwürdigen Forderung, das Geschehene müsse „rückgängig gemacht“ werden. Zudem führte sie Thüringen an den Rand der Unregierbarkeit.

Martin Debes lässt diese Ereignisse in sieben Kapiteln Revue passieren und arbeitet ihre Vorgeschichte und Folgen faktenreich auf. Er geht dabei bis ins Wahljahr 2014 zurück, als die Thüringer Dauerregierungspartei CDU ihre Mehrheit verlor und erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte die LINKE einen Ministerpräsidenten stellte. Bewusst stehen am Anfang Kurzporträts der politischen Hauptakteure: von Mike Mohring, dem ehrgeizigen CDU-Landesvorsitzenden; Ministerpräsident Bodo Ramelow; und vom Fraktionschef der AfD, Björn Höcke; Kemmerich selbst wird erst im dritten Kapitel unter der Überschrift „Der Cowboy“ porträtiert (S. 78–80). Der Kurzzeit-MP gibt im Weiteren eine besonders tragische Figur ab, die die Tragweite des eigenen Handelns auch rückblickend nicht zu erfassen scheint. Überfordert wirken aber, daran lässt Debes keinen Zweifel, auch Mohring und seine Widersacher in der Union. Ramelow wiederum sieht sich vor allem als Opfer eines faschistischen Komplotts.

Die detaillierten Schilderungen folgen konsequent der Chronologie. Wichtige Etappen sind der Verlust der rot-rot-grünen (R2G) Regierungsmehrheit 2019, Mohrings Ringen um seine politische Karriere trotz CDU-Wahlniederlage, die Aufstellung eines Scheinkandidaten durch die AfD und der sogenannte Stabilitätsmechanismus, auf den sich CDU und R2G nach der erneuten Wahl Ramelows verständigen. Es ist das Verdienst von Debes, die unerhörte politische Begebenheit des Jahres 2020 sine ira et studio zu rekonstruieren. Auch ohne moralisches Verdikt ergibt sich die Erkenntnis, dass hier ein Totalversagen der demokratischen Entscheidungsträger vorliegt. Debes bedient sich dabei des von Christopher Clark entlehnten Bilds der Schlafwandler.

Dass sich die Ausführungen passagenweise wie ein Politkrimi lesen, ist gleichermaßen der Dramatik der Ereignisse wie der journalistischen Erzählkunst des Verfassers geschuldet. Als langjähriger Chefreporter der Thüringer Allgemeinen, der regelmäßig auch für die ZEIT schreibt, profitiert Debes von hervorragenden Drähten in die Erfurter Zentren der Macht. Bereits 2014 hat er eine ebenso kritische wie erhellende Biografie der damaligen Ministerpräsidentin Lieberknecht verfasst. Seine Schilderungen stützen sich in Teilen auf Gespräche mit und SMS-Nachrichten von den damaligen Akteuren.

Bei der Betrachtung der Erfurter Ereignisse (nicht aber der bundesweiten Reaktionen) drängt sich der historische Vergleich mit dem Jahr 1924 auf, der folgerichtig bereits im Prolog thematisiert wird (S. 10). Seinerzeit stützte sich die vom konservativen Ordnungsbund gebildete Regierung Thüringens auf die Stimmen der als Vereinigte Völkische Liste kandidierenden Nationalsozialisten. Diesem „Tabubruch“ folgte 1930 die erste Landesregierung unter Beteiligung der NSDAP, woran der scheidende Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff noch am Abend der MP-Wahl in dramatischer Zuspitzung erinnert. Der Autor selbst vermeidet den Fehler, das Thüringen des Jahres 2020 mit dem des Jahres 1924 gleichzusetzen. Er verweist aber, indem er den Regionalhistoriker Jürgen John zitiert, auf die andernorts bereits von Michael Dreyer und Andreas Braune konstatierten Parallelen.

Das Buch ist keine politikwissenschaftliche Analyse – darauf weist der Verfasser selbst fast entschuldigend hin (S. 13). Gleichwohl ist es von hohem politikwissenschaftlichem Interesse, wird hier doch eine Zäsur in der bundesdeutschen Parteien- und Parlamentsgeschichte verhandelt. Die politikwissenschaftliche Abstinenz des gelernten Politikwissenschaftlers Debes ist der Lesbarkeit wohl förderlich. Gleichwohl ergibt sich daraus auch eine Schwäche. Denn der Autor ist mit den politischen Protagonisten, ihren Freundschaften und Fehden so vertraut, dass er fast jede Entscheidung aus ihren persönlichen Beziehungen heraus zu verstehen versucht.

Diese Perspektive hat zwar ihre Berechtigung. Das Agieren der CDU-Landtagsfraktion etwa lässt sich ohne die jahrelange Animosität zwischen dem Mohring-Lager und dem seines Nachfolgers Mario Voigt kaum verstehen. Allerdings blendet der Fokus auf die Entscheidungsträger allzu sehr die strukturellen Entwicklungen aus, die „einen der größten Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte“ (S. 11) allererst ermöglicht haben. Dazu gehören die politische Entfremdung zwischen Wählern und den landespolitischen Eliten ebenso wie der Aufstieg der Thüringer AfD, deren Erfolgsrezept entgegen allen Erfahrungen mit Rechtsaußenparteien nach 1945 die fortwährende Radikalisierung zu sein scheint.

Das regionale Parteiensystem hat sich in diesem Zuge nachweislich fragmentiert, polarisiert und vor allem stark segmentiert mit dem Ergebnis, dass Thüringen nahezu unregierbar geworden ist. Die Diagnose der Unregierbarkeit bezieht sich nicht – wie noch im Diskurs der 1970er-Jahre – auf die abnehmende Steuerungsfähigkeit des Staates, sondern schlicht auf die Fähigkeit, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Diese ist in Erfurt nach der Wahl 2019 fast gänzlich verloren gegangen. Hinzu kommt das Spannungsverhältnis zwischen bundespolitischen Zielen und regionalen Gegebenheiten, das die Landes-CDU geradezu zerrieben hat. Während FDP-Chef Lindner diese Spannung kurz nach der Wahl bei seinem Besuch in Erfurt unter Androhung seines Rücktritts vorerst aufzulösen vermag, scheitert Kramp-Karrenbauers Versuch kläglich. Die entsprechenden Passagen im Buch sind ein Lehrstück innerparteilicher Krisenkommunikation im Mehrebenensystem (S. 181–185).

Der Schockzustand der Demokratie ist auch nach der erneuten Wahl Ramelows zum Ministerpräsidenten nicht überwunden, wie Debes Epilog aus dem August 2021 deutlich macht. Dies liegt auch daran, dass die Hauptakteure in Thüringen heute nahezu dieselben sind wie 2020 – Kurzeit-MP Kemmerich leitet weiterhin die zur Gruppe geschmolzene FDP im Landtag und wurde als Landesparteichef bestätigt, der seinerzeit von Merkel wegen seiner Glückwünsche an Kemmerich geschasste Christian Hirte führt heute die Landes-CDU. Die schleichende Erosion der Demokratie fand mit der Farce um die gescheiterte vorzeitige Neuwahl des Landtags 2021 ihre Fortsetzung. Bislang steht – auch dies ist ein Fazit von Debes – nur ein Gewinner dieser Krise der repräsentativen Demokratie in Thüringen fest: die AfD.

Wichtiger aber ist, dass die strukturellen Rahmenbedingungen unverändert sind. Weiterhin verlangen Mehrheiten im Landtag jenseits der völkischen Rechten Bündnisse, die die bestehende Segmentierung überwinden. Auch wenn Erfurt nicht Berlin ist: Der politische Tsunami mit Ursprungsland Thüringen illustriert, wie fragil auch eine durchaus stabile Demokratie sein kann. Und wie sehr es auf die Weitsicht der Akteure ankommt, die verbliebenen Handlungsspielräume im Interesse einer demokratischen Re-Stabilisierung auszuschöpfen.