Das anzuzeigende Buch ist ein Opus magnum. Joachim Raschke legt die Summe seines Nachdenkens über die Demokratie vor. Dabei handelt es sich nicht um eine Geschichte der Demokratie in chronologischer Absicht, auch nicht um eine systematische Analyse von Begriffen und Konzepten, und erst recht nicht um eine quantitative, empirisch gesättigte Studie zu Parteien oder Bewegungen. Es geht um mehr: um eine sowohl historische wie systematische Erkundung, wie die moderne Demokratie „erfunden“ wurde.

Das ist gewiss ein ambitioniertes Vorhaben. Denn im eigentlichen Wortsinne wurde Demokratie nicht „erfunden“, sondern erkämpft, bestritten und behauptet. Und zugleich war die Demokratie in der historischen Abfolge politischer Ordnungsformen immer das, mit Luhmann gesprochen, unwahrscheinliche Ereignis. Gewiss, die Antike kannte die griechische Polisdemokratie, doch sie wurde nicht erfunden. Vielmehr hatte sie sich herausgebildet über verschiedene (agrar-)gesellschaftliche Entwicklungen, die Dysfunktionalität adliger Strukturen und über Reformschritte, die unter anderem mit den Namen Solon und Kleisthenes verbunden waren. Aber im Grunde war die Demokratie der griechischen Antike emergente Praxis gleicher Rechte in öffentlicher Rede, politischer Beteiligung und Gerichtsbarkeit. Erst deutlich später gewann der Begriff der „Demokratia“ den Stellenwert, der ihm retrospektiv zugeschrieben wurde. Und ja, Raschke setzt auch in der Antike an, aber sie ist nicht sein Hauptthema; sie ist die Folie, auf der die Strukturen, Bewegungen, Ideen und Prinzipien der modernen Demokratie ihre eigenen Logiken erkennen lassen.

Es geht also um „Innovationen, Irrwege, Konsequenzen“ (so der Untertitel), die auf verschlungenen Pfaden zur Herausbildung dessen führen, was sich dann als Form parlamentarischer, repräsentativer oder direkter Demokratie in der Moderne zu erkennen gab. Und dieser Weg ist eben nicht geradlinig, nicht als lineare Geschichte des Fortschritts zu erzählen, an deren vorläufigem Schlusspunkt das demokratische Telos hell am Firmament aller denk- und vorstellbaren, erfolgreichen wie gescheiterten politischen Ordnungsformen steht. Deshalb kommt es umso mehr auf die Brüche und Verwerfungen an, aus denen heraus Akteure etwas geformt haben, was zu den Strukturen egalitärer Rechte und größtmöglicher Partizipation geführt hat.

Wie aber geht Raschke das Problem an? Eröffnet er sein gewichtiges Werk von nahezu 700 eng bedruckten Seiten mit Überlegungen zur Demokratie als Erfindung, so folgt sogleich, noch in der Einleitung, die Destruktion, ja, man ist geneigt zu sagen: das Dementi seiner Fragestellung. Denn Erfindungen der Art, wie beispielsweise seinerzeit Edmund Burke von der Französischen Revolution annahm, dass die Revolutionäre gleichsam ein weißes Blatt Papier beschrieben hätten, um die neue Ordnung nicht nur zu entwerfen, sondern auch zu implementieren, sind historisch nicht anzutreffen. Das heißt nicht, dass Ordnungen nicht vorausgedacht werden können, aber der Prozess ihrer Umsetzung gehorcht doch ganz anderen historischen Prämissen. Umso mehr geht es dann analytisch bei den Fragen von Erfindung und Innovation um die Schaltstellen, in denen sich etwas Neues herausbildet, wobei dieses Neue vor Regression und Restauration des Alten nicht gefeit ist. Wenn Raschke von „Irrwegen“ spricht, so steckt dahinter nicht die Annahme, dass es richtige oder alternativlose Wege gäbe, die schnurstracks zum Ziel demokratischer Strukturen, Prinzipien oder Institutionen führten. Er lenkt den Blick auf die historischen Konstellationen und Verläufe, in denen er, trotz aller Kontingenz, trotz des Vor und Zurück, einen iterativen Prozess zu identifizieren vermag, der zu den uns bekannten zeitgenössischen Demokratien führt. Raschke bemerkt und notiert selber die paradoxe Grundstruktur seiner zugleich um exakte historische Rekonstruktion und analytische Systematik bemühten Großstudie: Es gebe nichts als Sonderwege, aber diese führten zu „einer Demokratie“, diese indes mit „vielen Gesichtern“.

Das Panorama der Herausbildung moderner Demokratie wird spannungsvoll aufgezogen: Systematische, zusammenfassende Teile sind den historisch-rekonstruktiven Kapiteln vor- und nachgeschaltet. Glänzend ist die Herauspräparierung der unterschiedlichen Pfade französischer und englischer Entwicklung, die von Raschke – für die europäische Entwicklung – wohl als nachhaltig bedeutsamer als die amerikanische eingeschätzt werden. Unterbelichtet werden die frühneuzeitliche, auch die römischen und stadtrepublikanischen Traditionen Oberitaliens. Dass womöglich dem Republikanismus mit seiner Emphase auf Recht, Gesetz und Bürgertugend eine größere, auch formative Relevanz für das Amalgam von auf Verfassung und Volksherrschaft beruhender Ordnungsform zuzuschreiben ist, wäre zu diskutieren. Auch schiene in diesem Zusammenhang das Problem der (demokratischen) Souveränität und seiner Einhegung stärker zu thematisieren zu sein.

Organisiert ist der Hauptteil entlang der von Raschke identifizierten „Bausteine“ moderner Demokratie: Parlament, Regierung und Opposition, soziale Bewegungen, Parteien, Links‑/Rechtsordnungen, Wahlen und Wahlrecht, Volksabstimmungen. All dies wird historisch auf das Genaueste nachgezeichnet, die Erkenntnisse der Geschichtsschreibung werden von Raschke souverän verarbeitet und mit seinen systematischen Interessen verwoben. Auf diese Weise entstehen Entwicklungsstudien (vor allem der europäischen Demokratien), die in der politikwissenschaftlichen Literatur ansonsten nicht oder nur sehr selten zu finden sind. Raschke führt hier vor, was historische Expertise zu leisten vermag, um die Strukturen, Institutionen und Begriffe, die der politikwissenschaftlichen Demokratieanalyse zugrunde liegen, aus ihren geschichtlichen Kontexten und ihren je spezifischen Pfadabhängigkeiten zu verstehen.

Raschkes Monografie ist ein eindrucksvolles Plädoyer – und auch ein Beleg – für die Fruchtbarkeit historisch-hermeneutischer Anstrengungen im Rahmen der Demokratieforschung. Es ist auch ein diskursives Buch, weil es selten mit schlüssigen Gewissheiten aufwartet, sondern im Modus des historisch gesättigten Suchens zur Reflexion von Genese und Zustand moderner Demokratien, manchmal auch zum Widerspruch einlädt. Analytische Kategorien hätten zu Beginn vielleicht präziser expliziert werden können; manchmal, vor allem in den jeweiligen systematischen Zusammenfassungen, wiederum gibt es Redundanzen oder Inkonsistenzen. Demokratien jenseits des nordamerikanisch-europäischen Entwicklungs- und Erfahrungsraums bleiben außen vor. Auch könnten sicher die Kontexte der Entdeckungs- und Innovationszusammenhänge noch genauer ausgeleuchtet werden. Aber das wären Arbeitsaufträge an anschließende Forschungsvorhaben.

Das Feld für solche Analysen, die fragen, warum oder warum nicht Bausteine der Demokratien „erfunden“ und sich zum Typus parlamentarisch (oder plebiszitär) geprägter Demokratien zusammenfügen ließen, ist abgesteckt. Ein Buch, gut lesbar, wenngleich Konzentration und Kondition erfordernd, mit einer Detailpräzision, die die unterschiedlichen Entwicklungspfade markant vor Augen stellt – und fragend nach den systematischen Vergleichsperspektiven im Leitmotiv der „Erfindung“. Ein lehrreiches, erhellendes und inspirierendes Buch.