Mit dem Modell der Open Democracy beansprucht Hélène Landemore in der Tradition der deliberativen Demokratie, das Prinzip der Volksherrschaft auf den gesamten politischen Prozess vom Agenda Setting bis zur Entscheidungsfindung auszuweiten. Die Ideen hierfür zog sie vor allem aus der teilnehmenden Beobachtung – sie selber spricht von „induktiver politischer Theoriebildung“ (S. 20) – des verfassungsgebenden Prozesses in Island 2010–2013 (Kapitel 7). Sie sieht Island als „ersten Dominostein“ (S. 152) einer Reihe von neuen Praktiken, welche die elektorale Demokratie zu Fall bringen könnten, insofern dort drei Innovationen mit Vorbildcharakter hervorgebracht wurden: ein nationales Forum aus 950 quasi zufällig ausgewählten Bürger*innen, eine Versammlung bestehend aus Amateur-Politiker*innen, beauftragt mit der Abfassung eines Verfassungsentwurfs, sowie der Rückgriff auf Crowdsourcing-Methoden zum wechselseitigen Austausch der Mini-publics mit dem Rest der Bevölkerung (S. 153).

Landemore weitet dies nun auf normale Gesetzgebungs- und Entscheidungsfindungsverfahren aus. Im Wesentlichen plädiert sie für eine Radikalisierung politischer Repräsentation, welche „gewöhnlichen Bürger*innen“ (S. 86) jederzeit zugänglich sein sollte. Die Open Democracy sei damit keineswegs „post-repräsentativ“ (S. 15), insofern Demokratie selbst in ihren vermeintlich direkten Varianten notwendig immer Repräsentation bedinge (Kapitel 3). Gegenüber der auf Wahlen basierenden und somit tendenziell oligarchischen repräsentativen Demokratie (Kapitel 2) sei die indirekte repräsentative Herrschaft durch gewöhnliche Bürger*innen jedoch epistemisch wie intrinsisch im Vorteil (S. 4). „Offen“ ist die Open Democracy dabei nicht nur für deren Teilhabe – die Bürger*innen sollen wirklich zu jeder Zeit gehört werden und Gesetze initiieren können –, sondern auch was Veränderbarkeit und mögliche Neukombinationen ihrer institutionellen Settings und Kernprinzipien angehe (S. 14).

Diese bestehen im Kern aus lottokratischen („lottocratic“), selbstermächtigenden („self-selected“) und liquiden Repräsentationsformen (Kapitel 4 und 5), die über Auslese und Rotation räumlich wie zeitlich für alle offen gehalten würden. Die von ihr selbst kreierte Kategorie der „Demokratizität“ („democraticity“) dient Landemore im Rahmen der Auswahl der Repräsentant*innen dabei als Maßstab für die Verwirklichung der ihrer Ansicht nach demokratischen Kernprinzipien der Inklusivität und Egalität, die allen anderen Werten lexikalisch vorgeordnet seien (S. 87–89).

Die Repräsentation als Kernprinzip der Open Democracy wird in Kapitel 6 sodann um vier institutionelle Prinzipien erweitert, die Landemore mittels einer historisch fundierten normativen Rekonstruktion aus der Gegenüberstellung des klassisch athenischen Modells mit der modernen Wahldemokratie gewinnt. Dies sind in logischer und chronologischer Reihenfolge Teilhaberechte, Deliberation, Mehrheitsprinzip, demokratische Repräsentation (wie zuvor herausgearbeitet) und Transparenz.

Konkret schlägt Landemore die Kombination einer per Los rotierend zusammengesetzten Versammlung auf nationaler Ebene mit einer Vielzahl an themensetzenden, ebenfalls rotierend, lottokratisch und/oder selbstermächtigt besetzten Versammlungen auf lokaler Ebene vor. Die nationale Bürger*innenversammlung soll ähnlich der Jury im US-Rechtssystem zweckgebunden sein, zwischen 150 und 1000 Personen umfassen und für die Dauer von ein paar Tagen bis zu ein paar Jahren für Agenda Setting, Entscheidungsfindung und Gesetzgebung verantwortlich zeichnen sowie über Crowdsourcing-Plattformen und die subsidiären Mini-publics mit der Gesamtbevölkerung im Austausch stehen.

Dass ihr Ansatz einer eurozentristischen Perspektive verhaftet bleibt, wo der empirische Fokus auf den Erfahrungen vornehmlich weißer und christlicher Länder liegt (neben Island vor allem Finnland und Frankreich), und ihre theoretischen Referenzen ausnahmslos der angelsächsisch-europäischen Tradition entstammen, gibt Landemore unumwunden zu, glaubt jedoch (warum auch immer) an die Anschlussfähigkeit jenseits der eigenen Standortgebundenheit (S. 22). Problematischer ist jedoch, was zentraler Dreh- und Angelpunkt eines jeden Projekts der Ausweitung demokratischer Prinzipien sein muss, bei Landemore jedoch nur marginal vorkommt: die Voraussetzungen und Begrenzungen des Demos selbst. Über wen spricht sie eigentlich, wenn sie gewöhnliche Bürger*innen adressiert bzw. über diese nachdenkt?

Zunächst über die statistische Gesamtheit der Bevölkerung, aus der Repräsentant*innen herausgepickt werden können (S. 158), worunter auch „every minority in proportion to their demographics“ (S. 18) (!) zähle. Dies wird dann aber dadurch eingeschränkt, dass es sich bei der Grundgesamtheit um das „electorate“ (S. 156) bzw. die Gesamtheit der „individually registered voter“ (S. 172) handle. Dies ergibt sich wohl schon aus den Notwendigkeiten der technischen Umsetzbarkeit des Verfahrens, dann aber vor allem aus dem (chrono-)logisch ersten institutionellen Prinzip der Open Democracy, nämlich den Teilhaberechten (S. 172–173). Tatsächlich jedoch sind es am Ende streng genommen nur diejenigen, die – je nach angewandtem Verfahren – sich eben selbst ermächtigen oder positiv auf die Auswahl per Los und die darauffolgende Einladung zur Teilhabe reagieren (im Fall Islands lag die Antwortquote bei 20 Prozent, S. 158–159). Die temporär mit politischem Einfluss ausgestatteten gewöhnlichen Bürger*innen der Mini-publics definiert Landemore dann in negativer Abgrenzung zu von ihr soziologisch definierten Eliten, womit sie sozioökonomisch privilegierte Gruppen meint, die als solche sehr wahrscheinlich niemals zufällig ausgewählt würden (etwa die meisten Parlamente weltweit). Landemore unterstellt also der statistischen Gesamtheit der mit Partizipationsrechten ausgestatteten gewöhnlichen Bürger*innen den Willen, die Ressourcen und die Qualifikation, als politische Repräsentant*innen zu fungieren, überlässt es diesen dann aber selbst, ob und wieviel sie partizipierten (S. 14). De facto wäre das sicher nur ein kleiner Prozentsatz, während der Großteil „frei von den Bürden politischer Partizipation“ (S. 15) privaten Interessen nachgehen und sich wahrscheinlich nur in unruhigen Zeiten zur Teilhabe aufraffen und z. B. soziale Bewegungen „launchen“ (S. 14) würde.

Es wäre nun wohlfeil, die hier durchschlagenden technokratischen und expertokratischen Aspekte von Landemores Modell anhand ihm fremder Kategorien zu kritisieren, wie sie etwa Theorien der radikalen Demokratie zuhauf in Stellung bringen würden. Doch muss die Open Democracy sich mindestens an ihrem eigenen Anspruch auf eine bessere Umsetzung der selbst definierten demokratischen Kernprinzipien messen lassen. Sodann wäre kritisch anzumerken, dass man im Jahr 2020 nicht mehr wirklich über Inklusivität und Egalität reden kann, ohne zum einen die Setzung des Rahmens selbst, also die statistische Gesamtheit immer schon mit politischen Rechten ausgestatteter „gewöhnlicher Bürger*innen“, zur Debatte zu stellen und zum anderen ohne sich weiter Gedanken darüber zu machen, ob die formal-institutionelle Bereitstellung von Teilhabemöglichkeiten auch innerhalb dieses Rahmens hinreichend ist für deren Ergreifung durch alle damit Angesprochenen.

Landemore setzt diesen Rahmen jedoch immer schon voraus und akzeptiert ihn damit in seiner wenig inklusiven und kaum egalitären Faktizität. Zwar merkt sie an, dass ungleichen ökonomischen Bedingungen als möglichen Hürden faktischer Teilhabe begegnet werden müsste (Kapitel 9), verschiebt das Problem jedoch auf eine nächste Publikation. Letztlich sorgt sie sich aber ohnehin mehr um die mangelhafte statistische Repräsentativität, wo mittels Selbstermächtigung besetzte Versammlungen zu Verzerrungen und Übergewichtungen tendierten (S. 96), glaubt jedoch, dies über Los- und Rotationsverfahren hinreichend ausgleichen zu können. Diejenigen, die noch nicht einmal statistisch (dazu-)gezählt werden (und die vielleicht gerade wegen solcher Ausschlüsse soziale Bewegungen „launchen“) kommen bei ihr damit schlicht nicht in den Blick. Doch auch innerhalb des Pools an Staatsbürger*innen, aus denen Repräsentant*innen per Los bestimmt werden oder sich selbst ernennen sollen, existieren zahlreiche (strukturelle) Blockaden, denen weder mit der rein formalen Möglichkeit der Selbsternennung noch mit dem Losverfahren angemessen begegnet werden kann. Denn selbstredend sieht Landemores liberales Konzept keinen rousseauschen Zwang zur Freiheit vor, sprich die gelosten Repräsentant*innen können, dürfen und werden sehr wahrscheinlich auch in großen Teilen das Los zurückweisen und die Teilnahme am Crowdsourcing verweigern. Landemore sieht jedoch die demokratischen Kernprinzipien der Egalität und Inklusion in der formal gleichen Möglichkeit der Teilnahme für alle Bürger*innen hinreichend gewährleistet. Zudem würden klassisch gewählte Versammlungen im Vergleich viel schlechter abschneiden als die Open Democracy und diese immerhin keine Gatekeeper wie Parteien vorsehen, sondern letztlich „nur“ von der Motivation der Individuen abhängen (S. 96). Die politischen Exklusionsmechanismen liberal-demokratischer Gesellschaften nach außen (und „unten“) sowie die in ihrem staatsbürgerlich konstituierten Inneren durchschlagenden psychologischen, psychosozialen, emotionalen und mitunter kognitiven (Selbst‑)Exklusionen als Effekte auch ökonomischer Ungleichheiten werden so nicht hinreichend berücksichtigt. So lange sich die Open Democracy aber zu wenig dafür interessiert, warum manche (sehr wahrscheinlich eher sehr viele) schlicht die „Motivation“ nicht aufbringen können, sich zu beteiligen, wird sie trotz aller Bemühungen und gegenläufigen Rhetorik letztlich ein Projekt von sozioökonomisch Privilegierten bleiben müssen, das sich das Label einer inklusiven und egalitären Demokratie zu Unrecht anheftet.