Wenngleich Justitia seit jeher die Augen verbunden sind, war und ist die Rechtswissenschaft doch nur selten blind für die Politik. Gerade dann, wenn sie, wie zuzeiten des staatsrechtlichen Positivismus, vorgibt es zu sein, zielt sie damit zumindest auf den Erhalt des Status quo. Wie sehr die heutige Rechtswissenschaft die Politik in ihren Blick nimmt, zeigt sich derzeit in der an Fahrt gewinnenden Diskussion rund um die Verfassungsgerichtsbarkeit. Denn was der Politikwissenschaft in den letzten Jahren ihre „democracy-defense industry“ (Jan-Werner Müller), wird der Rechtswissenschaft langsam, aber sicher eine „constitutional court-defense industry“. Herbeigeredet ist die Gefahr jedoch beileibe nicht, wie die jüngsten Demontierungen der Verfassungsgerichte in Ungarn und Polen zeigen. Einen kurzen, gleichwohl ideengeschichtlich gespickten und gehaltvollen Verteidigungsversuch legt nunmehr der Verfassungsrechtler, -theoretiker und ehedem Richter am Bundesverfassungsgericht Dieter Grimm vor.

Grimm nimmt die mittlerweile in mehrfacher Hinsicht als prekär wahrgenommene Lage (S. 5) zum Anlass, sich den von Hans Kelsen und Carl Schmitt formulierten Argumenten für und wider der Verfassungsgerichtsbarkeit zu vergewissern. Grimm zeichnet daher im ersten Teil der Schrift (S. 9–28) deren klassische Debatte nach. Diese entspann sich anlässlich Kelsens Staatsrechtslehrervortrag in Wien im Jahre 1928 und wurde bis zu ihrem Schlusspunkt, Kelsens Veröffentlichung von „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“ im Jahre 1931, in einer selbst für die damaligen wissenschaftlichen Umgangsgepflogenheiten äußerst scharfen Tonart geführt. Der Kern der Auseinandersetzung lag in der Frage, ob die Kontrolle der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit einer Verfassungsgerichtsbarkeit (Kelsen) oder dem Reichspräsidenten (Schmitt) zugewiesen werden sollte. Trotz dieser eindeutig antipodischen Ausgangsposition stellt Grimm Kelsen und Schmitt in ihrer jeweiligen Rolle als Befürworter respektive Kritiker der Verfassungsgerichtsbarkeit beileibe nicht eindimensional dar. Dies verhindert allein schon die wörtliche Wiedergabe zahlreicher Zitate, die ihre jeweiligen Positionen in all ihren Schattierungen – so wollte etwa der frühe Kelsen Bundesgesetze von der Gerichtskontrolle noch ausgeklammert wissen (S. 14) – wahrnehmbar werden lässt. Besonders hervorzuheben ist, dass Grimm dabei auch die Äußerungen Schmitts aus der „Verfassungslehre“ (1928) rekonstruiert. Dies ist bereits deshalb gewinnbringend, weil Schmitt in dieser Schrift noch befürwortet hatte, den Weimarer Staatsgerichtshof als ein zur Normverwerfung befugtes Verfassungsgericht anzusehen (S. 13). Anhand dieser, in den zahlreichen sonstigen Darstellungen der Debatte regelmäßig ausgeklammerten Äußerungen Schmitts, zeigt Grimm überzeugend auf, wie situativ und wenig stringent (S. 13), wenn nicht sogar reaktionär und vom gewünschten Ergebnis her Schmitt immer wieder argumentiert hat. So legt Grimm Schmitts rechtspolitisch motivierte argumentative Vorgehensweise schonungslos offen, habe Schmitt doch die politische Natur der Verfassungsmäßigkeitskontrolle gerade deshalb überstilisiert, um sie der Justiz zu entziehen und dem Reichspräsidenten als vermeintlich politischstes Organ zuzuweisen (S. 23). Grimm beantwortet damit die explizit von Kelsen übernommene (Suggestiv‑)Frage, warum Schmitt so offensichtlich widersprüchlich argumentiert habe, versäumt jedoch zu erwähnen, dass Kelsen selbst die inhaltsgleiche Antwort in „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“ bereits gegeben hatte.

Die Frage „Recht oder Politik?“, in der Grimm die Kontroverse zwischen Schmitt und Kelsen zusammengefasst sieht, hält Grimm auch für die heutigen Herausforderungen der Verfassungsgerichtsbarkeit weiterhin für aktuell, doch seien ihre Antworten für die heutige Zeit wenig brauchbar (S. 5, 33). Grund hierfür sei, dass Verfassungsgerichte als „anti-majoritäre Institutionen“ (S. 36) mittlerweile der Kritik ausgesetzt seien, nicht hinreichend demokratisch legitimiert zu sein. So wird es besonders in den Vereinigten Staaten für problematisch erachtet, dass sich eine nicht vom Volk gewählte Richterschaft über eine vom Volk gewählte Parlamentsmehrheit hinwegsetzen kann („countermajoritarian difficulty“, S. 33). Hierauf haben weder Schmitt noch Kelsen eine Antwort parat, fehlt es doch selbst in Kelsens „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ an einer demokratietheoretischen Begründung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Warum Grimm dann aber nicht die von den beiden nur unzureichend beantwortete demokratietheoretische, sondern die Frage nach „Recht oder Politik?“ ins Zentrum des zweiten Teils seines Verteidigungsversuchs rückt, bleibt unklar. So erscheint Grimm die demokratietheoretische Klippe gerade dadurch umschiffen zu wollen, dass er den schmittschen Dualismus „Politik oder Recht?“ für seinen eigenen Verteidigungsversuch nutzbar macht. So postuliert er in vermeintlicher Zwangsläufigkeit: „Ist Verfassungsrechtsprechung ihrer Natur nach rechtlich, gibt es keinen prinzipiellen Widerspruch zur Demokratie“ (S. 38). Grimm argumentiert sodann, dass die häufig anhand von Disziplingrenzen beantwortete Frage „Politik oder Recht“ zu „undifferenziert“ sei, „beide Sichtweisen vielmehr ihre relative Berechtigung haben“ (S. 39). In seiner eigenen Antwort differenziert er daher zwischen Gegenstand, Wirkung und Vorgang der Entscheidungsfindung. Während Grimm konzediert, dass Gegenstand und Wirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit zweifellos politisch seien, könne dies für den Vorgang nicht gelten. Dieser sei eben nicht durch politische, sondern durch rechtsdogmatische Argumente gekennzeichnet. Nur weil diese selbst wiederum durch Leitbilder und Vorverständnisse geprägt sein könnten, seien sie nicht als politisch zu qualifizieren, „werden sie“, so Grimm, doch „nur normvermittelt und methodengeleitet relevant, müssen sich also in den juristischen Interpretationsrahmen einfügen lassen und in seiner Sprache formulierbar sein“ (S. 45).

Insgesamt fußt die Schrift von Grimm damit auf zwei Annahmen: Erstens, dass eine demokratietheoretische Verteidigung der Verfassungsgerichtsbarkeit dann nicht erforderlich sei, wenn sie ihr rechtliches Antlitz zu bewahren weiß und zweitens auf einer Lesart der Kelsen-Schmitt-Kontroverse, wonach diese im Kern die dualistische Frage nach „Recht oder Politik?“ aufwerfe. Die erste Annahme überstrapaziert den internen Zusammenhang zwischen Recht und Demokratie, erscheint es als zumindest nicht selbsterklärend, warum die Qualifikation als rechtlich zugleich alle demokratietheoretischen Einwände verstummen lassen sollte. Weitaus diskussionswürdiger ist aber die zweite, ideengeschichtliche Annahme. Anders als die antagonistische Fragestellung „Recht oder Politik?“ nahelegt, waren sich Schmitt und Kelsen nämlich völlig einig, dass ein Verfassungsgericht eine politische Institution ist. Kelsen stellte Schmitts „Politik!“ kein einfaches „Recht!“, sondern ein „Politik und Recht!“ entgegen, trieb er doch in „Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“ einigen Aufwand, um aufzuzeigen, dass Gesetzgebung und Justiz sich vielleicht quantitativ, aber sicher nicht qualitativ in ihrem politischen Charakter unterscheiden. Die Fragestellung „Recht oder Politik?“ überakzentuiert somit einen Antagonismus, der zwischen Kelsen und Schmitt so niemals bestanden hat und auch der modernen Verfassungstheorie zufolge, die das Bundesverfassungsgericht nicht nur als Hüter, sondern auch als Konstrukteur der Verfassung sieht, nicht besteht. Gleichwohl macht es einen großen Unterschied, ob man in der Verfassungsgerichtsbarkeit mit Schmitt eine eindimensional politische, mit Kelsen eine mehrdimensional politisch/rechtliche oder mit Grimm eine dualistisch politisch/rechtliche Institution sieht. Grimm unterläuft mit letzterer Position die Einhelligkeit, die zwischen Kelsen und Schmitt bezüglich der politischen Natur bereits herrschte, und aktualisiert mittels einer Problemverlagerung den seit Kelsen ideengeschichtlich für überkommen geglaubten schmittschen Dualismus von Recht und Politik. Dies sind die größten Schwächen dieser lesenswerten Schrift, in der sich Grimm um ein weiteres Mal als ein – nicht zuletzt auch für die Politik – blickscharfer Rechtswissenschaftler erweist.