Die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Politikwissenschaft wurde in Deutschland seit der Etablierung des Fachs als eigenständiger akademischer Disziplin immer wieder pluralistisch-kontrovers und in den letzten Jahren gelegentlich auch polarisiert diskutiert. Für die Entwicklung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik wurde die zunehmende Emanzipation von dem ihr nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsam in die Wiege gelegten Auftrag, Demokratiewissenschaft zu sein, kennzeichnend. Auch wenn die internationale Debatte über die Selbstverortung des Fachs frei von dieser spezifisch bundesdeutschen Frage nach der Distanzierung vom pädagogischen Impetus des Gründungsjahrzehnts geführt werden konnte und wird, macht Rainer Eisfeld in seiner neuen, bei Palgrave Macmillan erschienenen Monografie sein Plädoyer für eine Politikwissenschaft, die einer Orientierung an drängenden Problemen Vorrang vor der an methodologischen Fragen einräumt und für die eine öffentliche Relevanz wichtiger ist als hoch entwickelte Spezialisierung, an fortdauernder demokratischer Erosion fest. Ins Zentrum einer öffentlich relevanten Politikwissenschaft des 21. Jahrhunderts setzt der Osnabrücker Emeritus die Orientierung an der Condition humaine.

Davon könne aber für die Politikwissenschaft der Gegenwart nur bedingt die Rede sein. Von Joseph Nye, Giovanni Sartori und John Aldrich über Elinor Ostrom, John Trent und Ian Shapiro bis hin zu Dianne Pinderhughes, Jennifer Clapp und Peter Dauvergne reicht das Spektrum der Gewährsleute, die Eisfeld anführt, um mit einschlägigen Aussagen aus den vergangenen 20 Jahren über die – insbesondere nordamerikanische – Politikwissenschaft seine Diagnose einer schrumpfenden Relevanz des Fachs zu unterfüttern. Die Liste der Monita ist lang: Die Politikwissenschaft sei zu sehr auf Eliten fokussiert, habe sich aus den öffentlichen Debatten zurückgezogen, habe durch zu wenig Verbindungen zu politischen AkteurInnen, zu wenig Praxisbezug und helfe nicht den Bürgerinnen und Bürgern. Nach einer anhaltenden Fragmentierung bzw. Balkanisierung der Politikwissenschaft sagten in dem Fach immer mehr zu immer weniger etwas, aufgrund der Beschränkungen quantitativer Methoden seien die politikwissenschaftlich wahrgenommenen Probleme ziemlich eng und Ergebnisse eher nur begrenzt in der Reichweite, zudem sei ein Großteil der Forschungsergebnisse für ein allgemeines Publikum unverständlich und uninteressant. In einer in erster Linie methodisch statt an Problemen und Themen orientierten Politikwissenschaft sei der Eifer der ForscherInnen, die eigenen Modelle zu verteidigen, größer als der, die aktuellen politischen Entwicklungen zu verstehen und zu erklären. Hingegen solle das Fach die BürgerInnen darin unterstützen, die immer stärker um sich greifenden Erfahrungen eines politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandels, der ihr Leben beeinflusst und herausfordert, zu bewältigen.

Um die Lebensbedingungen der Menschen schärfer fassen zu können, präsentiert Eisfeld umfangreiche Daten über Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, globale Umweltprobleme und medizinische Technologie. Für die USA, das Vereinigte Königreich und Deutschland zeigt er auf, wie die Prozesse eines mehrfachen Wandels mit den einhergehenden Unsicherheiten das Vertrauen der BürgerInnen in Gesellschaft und Politik erschüttern. Im Mittelpunkt stehen dabei neben Erfahrungen wie der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007–2010 immer wieder Prozesse der Migration, die oftmals Furcht auslösen und xenophobe oder antimuslimische Bewegungen ebenso motivieren wie Gewaltausbrüche gegen Asylbewerberheime in Deutschland oder die Tea-Party-Bewegung in Amerika. Die Wahrnehmung der Welt als komplex und bedrohlich, eine Unsicherheit im Blick auf eine nichtkalkulierbare Zukunft, die Wahrnehmung eigener Hilflosigkeit und einer Überladung mit Entscheidungen, die das eigene private und berufliche Wohlergehen betreffen, aber auch die Erfahrung einer zunehmenden ethnischen Pluralisierung und kulturellen Diversifizierung motivierten Reaktionen wie „We want our country back!“.

In den Ausführungen über die PolitikwissenschaftlerInnen des 21. Jahrhundert als öffentliche Intellektuelle, in denen Eisfeld mit viel Liebe zum Detail teilweise bereits Jahrzehnte zurückliegende amerikanische Debatten um Samuel Huntington rekonstruiert, wird der Begriff des/der öffentlichen Intellektuellen durchaus weit gefasst. Dennoch vermag es im Blick auf die Genese des Begriffs und der Figur des/der Intellektuellen im Zusammenhang des „J’accuse …!“ Émile Zolas im Frankreich der Dreyfusaffäre die – zumindest europäischen – LeserInnen zu verwundern, in Eisfelds Begriffsverwendung einen Wissenschaftler wie den Atomphysiker und Nuklearwaffenexperten Edward Teller im Kreis der öffentlichen Intellektuellen vorzufinden (S. 33–35). Auch wenn der Verfasser PolitikwissenschaftlerInnen als öffentliche Intellektuelle, die ihrer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit durch das Aufzeigen von machbaren politischen Alternativen gerecht werden, für erforderlich hält, warnt er im folgenden Kapitel vor „civics of friendly persuasion“ (S. 55–62) und plädiert für eine politische Bildung, die die BürgerInnenschaft und nicht den Staat ins Zentrum stellt. Für seine Forderung, die Politikwissenschaft solle die Errichtung einer „Mendokratie“ – LügnerInnenherrschaft – verhindern, bieten die Brexit-Kampagne, in der nicht zuletzt xenophobische Ängste mobilisiert bzw. produziert worden sind, und die Trump-Kampagnen reichlich Anschauungsmaterial.

Im II. Teil des Bandes entfaltet Eisfeld sein Plädoyer für eine thematisch orientierte Politikwissenschaft, die sich einer Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern in der Bearbeitung umfassenden Wandels verpflichtet weiß, anhand einer Reihe von Themen, die fortan im Zentrum von Forschung, Lehre und öffentlichem Engagement des Fachs stehen sollten: Anerkennung und Toleranz statt Segmentierung und Konflikt angesichts ethno-kultureller Diversität, Ungleichheit sozialer und politischer Ressourcen im Sinne von Chancen zur Teilhabe an den Prozessen politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung, im Bereich der politischen Ökonomie eine Umkehrung der Politik einer neoliberalen Deregulierung des Marktes, die Erderwärmung und die Entwicklungsperspektiven im Globalen Süden sowie schließlich nationale und internationale Sicherheitsdilemmata durch Radikalisierung, Terrorismus und Abbau von BürgerInnenrechten.

In seinem in so breiten wie tiefen Wissen fundierten Buch plädiert Eisfeld für eine Politikwissenschaft des 21. Jahrhunderts, die in dem Sinne – und nur darin – parteilich ist, dass sie mögliche Lösungen vorschlägt und diskutiert, mit denen die Übereinstimmung einer Gesellschaft mit demokratischen Rechten, Verpflichtungen und dem Versprechen eines sinnvollen Lebens befördert werden kann. Eisfeld versteht insoweit Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft, als eine Disziplin, die Partei ergreift, die sich positioniert in einer Zeit schwindender Verantwortlichkeit demokratischer Regierungen, von Bastardierung bisheriger rechtsstaatlicher Demokratien in Mittel- und Osteuropa und einer Erosion demokratischer Regeln und Werte sowie zunehmender Züge von Mendokratie und Plutokratie in Westeuropa und Nordamerika. Diese Parteinahme gelte es vom Fach selbst anzuerkennen, offenzulegen und der Öffentlichkeit zu erklären. Als öffentlich relevante, bürgerorientierte Wissenschaft von der Demokratie solle Politikwissenschaft in den Kanon ihrer Grundwerte zusätzlich zu Freiheit, Gleichheit, demokratischer Partizipation und Verantwortlichkeit der Regierung nunmehr auch die Weiterentwicklung kultureller Vielfalt und ökologischer Nachhaltigkeit aufnehmen. „Yet these aims represent what regaining relevance, obtaining an audience, and engaging the public with a view to empowering citizens are about. They result from the realization that appeals in general terms may no longer be considered sufficient“ (S. 191).

Eisfeld hat mit dieser Monografie einen stringent konzipierten, umsichtig argumentierenden und doch kühnen Wurf vorgelegt. In einer Zeit, in der die Entwicklung der Zunft allzu häufig von karriererelevanten Erwägungen, der Arbeit am Impact Factor und der Suche nach Drittmitteln geprägt zu sein scheint, mag sein Eintreten für eine öffentlich engagierte Politikwissenschaft für einen Teil der FachvertreterInnen anachronistisch wirken. Dennoch ist Eisfelds Plädoyer für eine an den Bürgerinnen und Bürgern orientierte Politikwissenschaft auch für diejenigen LeserInnen, die seiner normativen Begründung der Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft nicht folgen mögen, als kreative Verunsicherung lieb gewordener Sicherheiten über die aktuelle und künftige Entwicklung des Fachs eine lohnende Lektüre. Diesem Buch ist daher weite Verbreitung zu wünschen.