Die Korruptionsliteratur wuchs in Deutschland in den 1980er-Jahren auf, erreichte eine Blüte in den 1990er-Jahren und ebbte wieder deutlich ab. Diese Welle ist sicher nicht mit einem Auf- und Abschwellen der Korruption selbst zu erklären, sondern eher wissenschaftlichen Aufmerksamkeitszyklen geschuldet. Jedenfalls hat die angelsächsische einschlägige Forschung keinen Durchhänger, wie das umfangreiche Verzeichnis aktueller und klassischer Literatur des Bandes von Robert A. Sparling von der University of Ottawa beweist.

Korruption ist ein Übel, darin sind sich ausnahmsweise praktisch alle Autorinnen und Autoren einig. Nur einige wenige Ökonominnen und Ökonomen halten Korruption bei der Modernisierung der Entwicklungswelt für funktional, weil es anachronistische tribale Strukturen auf das neue universale Tauschmittel Geld umstellt. Und es gibt auch noch Ausnahmen der negativen Konnotation der Korruption in Despotien und unter Fremdherrschaft als Gegenwehr. Das war der Ursprung der Mafia (nach einem Mythos?), und das galt auch im KZ oder anderen totalitären Formen des Staatsterrors als Notwehr gegen Schergen des Regimes. Diese Aspekte beleuchtet Sparling überraschenderweise nicht.

Dennoch lohnt es sich, sein Buch zu lesen. In der grundsätzlichen und historischen Literatur zur Korruption unterscheidet man zwei Grundauffassungen: Die erste, ältere versteht Korruption als ein grundsätzliches Verlottern der Sitten und der moralischen politischen Verhältnisse, in der Regel als ein Niedergangsphänomen, oft als Verderbnis (so wörtlich „corruptio“) eines guten oder gar goldenen Zeitalters. Die zweite, vermeintlich moderne Auffassung konzipiert Korruption als eine individuelle private Bereicherung von Amtsträgerinnen und Amtsträgern in einer öffentlichen Stellung, d. h. also als „private gain in public office“.

Sparling schlägt einen anderen Weg ein. Zunächst einmal geht er davon aus, dass sich die politische Theorie und insbesondere die politische Philosophie in jüngerer Zeit viel zu wenig mit dem Phänomen der Korruption befasst habe. Sie hat es den Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern, den Juristinnen und Juristen, Kriminologinnen und Kriminologen sowie den Ökonominnen und Ökonomen überlassen, darüber zu räsonieren, nein, er meint es würde im wörtlichen Sinne zu wenig „räsoniert“, also vernünftig nachgedacht, sondern zu viel maßnahmeorientiert praktiziert.

Dies sei ein schwerer Fehler. Denn die politische Theorie berge einen Schatz an Erkenntnissen über Korruption, den es zu heben gälte. Die Dichotomie zwischen Korruption als ein Verderben der Sitten einerseits oder aber als ein strafrechtlicher Akt der Bestechung von Beamtinnen und Beamten (oder Unternehmerinnen und Unternehmern) andererseits, sei zu überwinden. Auch in der älteren politischen Theorie seien beide Aspekte immer gegenwärtig.

Sein Vorgehen beruht nicht auf einer systematischen Durchsicht der politischen Ideengeschichte nach Korruptionsquellen, sondern eher in einem chronologischen Streifzug durch die politische Theorie und Philosophie seit der Renaissance und zwar in sieben Schritten, eingerahmt von einer Einleitung und einem Schlussteil.

Sparling startet mit einem der damals so beliebten Fürstenspiegel, dem von Erasmus von Rotterdam, geschrieben 1516 als „Die Erziehung des christlichen Fürsten“ (Institutio Principis Christiani) für den späteren Karl V. Seine Maxime an den zukünftigen Herrscher lautet: „Follow what is right, do violence to no one, extort from no one, sell no public office, and be corrupted by no bribes“ (S. 28). Leider hat sich wohl nie eine Fürstin oder ein Fürst je an einen Spiegel gehalten, aber diese Illusion hatten die Autorinnen und Autoren wohl auch nicht. Sie hatten wohl mehr politische Ethik, Staatslehre und politische Philosophie im Sinn, von Erasmus durchaus auch auf dem Fundament von Platon und Aristoteles im Sinne einer guten Politik. Sparling kritisiert das als eine Dominanz politischen Moralisierens.

Dem nächsten Autor kann man dies wahrlich nicht vorwerfen: Es geht um Niccolò Machiavelli und hier insbesondere um seinen „Il Principe“ (1513). Unter den endlosen Deutungen Machiavellis – war er ein Zyniker, ein Opportunist, ein Moralist, ein Demokrat, ein Propagandist der Skrupellosigkeit und Ruchlosigkeit der Herrscher – insistiert Sparling auf seiner radikalen Modernität und seiner immanenten Widersprüchlichkeit: „Perhaps the most famous paradox of Machiavelli’s oeuvre is his attempt to grapple with the problem that rule by one corrupts, but only rule by one can reform“ (S. 67).

Es folgt ein Kapitel zum weniger bekannten Étienne de la Boétie, insbesondere dessen kleiner Schrift „Discours de la servitude volontaire“ von 1574, eine radikale Kritik der menschlichen Unterwürfigkeit, die auch im 20. Jahrhundert noch Anarchistinnen und Anarchisten faszinierte. „People are co-opted into a system of servitude by being individually and collectively corrupted“ (S. 77). Die Erziehung zur Servilität sei der Schlüssel für die Macht der Despoten. Sein Ruf, die Ketten einfach zu sprengen, um frei zu sein, greift Rousseau und seinem Mantra vor, der Mensch sei frei geboren und liege doch überall in Ketten.

Kreuz und quer geht es durch die politische Ideenwelt mit Lord Bolingbroke und seinem Kampf gegen die Korruption unter dem britischen Premier Robert Walpole mit seinen Beiträgen in der Zeitung The Craftsman (1726–1736). Bolingbrokes Rhetorik fußte fest in den Klassikern des republikanischen Rom, obwohl er eigentlich kein Republikaner war. Sparling: „Bolingbroke thought every man had his price, and he thought corruption had systemic causes“ (S. 117).

Damit kommt der Autor zu einem andern „big shot“ der Ideengeschichte: Montesquieu. Sparling meint: „Montesquieu offered an analysis of corruption that ties its definition to its institutional and socialpsychological dimensions of regime types. At the same time, Montesquieu deployed the concept of corruption in a universal manner employing it as a basis for evaluating competing regimes“ (S. 121).

Sein vorletztes Kapitel im Durchlauf der Korruptionstheorien thematisiert: „Kant, Robespierre, and the Politics of Purity“ (S. 144). Die Kombination ist gewagt: der Königsberger Stubenphilosoph und der Pariser Barrikadenstürmer. Aber beide zelebrieren eben den Ruf des Unbestechlichen. Und das ist es, was Sparling an beiden fasziniert.

Schließlich endet sein Parforceritt durch die Theoriegeschichte der Korruption mit Max Weber. Sein Favorit. Er schließt sein Kapitel damit: „What I have attempted to demonstrate, rather, is that Weberian bureaucracy depends on a system that cultivates the personality of the bureaucrat by ensuring, via institutional mechanisms, the relative purity of administration“ (S. 184).

Ein kluges Buch, voller Einsichten und Aussichten in die gesamte Ideengeschichte und in die fein verästelten Debatten von heute. Aber es ist oft schwer vor lauter gelehrter Zitierungen Ariadnes Faden durch das Labyrinth zu folgen. Was ist Korruption? Wir wissen es immer noch nicht, aber es ist gut, dass wir mit Sparling darüber nachdenken konnten.