Der von Ulf Bohmann und Paul Sörensen herausgegebenen Band „Kritische Theorie der Politik“ wird das titelgebende Forschungsfeld mit einiger Sicherheit für die kommenden Jahre als zentrales Referenzwerk begleiten. Neben der Prominenz der beitragenden Autorinnen und Autoren hat dies vor allem zwei Gründe: Zum einen deckt der Band eine bemerkenswerte Bandbreite gegenwärtiger Diskussionsstränge ab; zum anderen jedoch sorgt das vorzügliche Vorwort der Herausgeber dafür, dass die Leserin ob der mannigfachen Theorietraditionen, die die diversen Beiträge inspirieren, nicht den Überblick verliert.

Ist es gleichwohl bereits den Herausgebern nicht möglich, die in den Beiträgen unterbreiteten Theorieangebote in angemessenem Umfang „einzeln aufzugreifen“ (S. 30), so kann sich auch die vorliegende Besprechung allenfalls punktuell mit den Inhalten der Beiträge auseinandersetzen. Allen am gegenwärtigen akademischen Diskurs im Bereich „Kritische Theorie der Politik“ sei vor diesem Hintergrund bereits jetzt empfohlen, sich dem dargebotenen „Panorama“ (S. 24) durch Lektüre des gesamten Sammelbandes selbst anzunehmen.

Der Band gliedert sich in sechs Schwerpunkte mit je drei bis fünf Beiträgen: Während im ersten Teil die systematische Auseinandersetzung mit der ersten Generation Kritischer Theoretiker Frankfurter Provenienz sowie mit Marx und Polanyi gesucht wird, dreht sich der zweite Teil um das Verhältnis von politischer und Gesellschaftstheorie. Die Schwerpunkte drei und vier kreisen um die Themenkomplexe Gerechtigkeit, Recht, (Un‑)Möglichkeit der Begründung normativer Standards sowie (nichtexistierende) Notwendigkeit ausschließlich negativer Kritik. Im fünften Teil steht mit der Demokratie ein politiktheoretisches Kernthema im Zentrum der Auseinandersetzung, bevor sich der Blick im sechsten Teil auf das Feld der inter- und transnationalen Politik richtet.

Auffällig ist mit Blick auf die in den einzelnen Texten gewählten Gewährsleute, dass die erste Generation der Kritischen Theorie überproportional stark vertreten ist. Horkheimer, Adorno, Marcuse, Benjamin, Kirchheimer und Neumann werden teilweise von mehreren Autorinnen und Autoren ins Zentrum der theoretischen Auseinandersetzung gerückt. Dies ist überraschend, da sich bekanntermaßen lediglich die letzteren beiden systematisch mit der Politik auseinandergesetzt haben. Dass Jürgen Habermas und Axel Honneth, die politischen Strukturen und Prozessen in ihren Hauptwerken einen deutlich prominenteren Platz zugewiesen haben, demgegenüber zwar nicht übersehen, im Verhältnis aber eher unterrepräsentiert bleiben, mag gerade im Falle Habermas’ einer gewissen Übersättigung der Forschung geschuldet sein; es mag aber auch – und dies ist sicherlich der theoretisch interessantere Aspekt – auf einen theoriepolitischen Siegeszug des Poststrukturalismus zurückzuführen sein, den beispielsweise Hartmut Rosa (S. 209) konstatiert. Dieser ist, wie nicht zuletzt Foucault frühzeitig bemerkte, in zentraler Hinsicht wesensverwandt mit tragenden Einsichten der sozialphilosophischen Denker der ersten Generation Kritischer Theorie. Dass Adorno, Benjamin, aber auch Marcuse in den Überlegungen Oliver Marcharts, Oliver Flügel-Martinsens oder Daniel Loicks einen hervorgehobenen Platz zugewiesen bekommen und Pate für das Programm einer Rückabwicklung der Integration des politischen Liberalismus in die Kritische Theorie stehen, vermag dann kaum zu überraschen. Auf der anderen Seite finden sich solche Autoren – beispielsweise Rainer Forst, William E. Scheuerman und Bernd Ladwig –, die den insbesondere von Habermas eingeschlagenen Weg einer Aufwertung liberaler Theorieelemente weiterführen möchten – und sei es, wie im Falle Scheuermans, bei gleichzeitiger Beibehaltung zentraler Einsichten des Marxismus.

Wenngleich es unmöglich anmutet, ein so geartetes theoretisches Potpourri unter einem Nenner zu subsumieren, lässt sich mit Maeve Cooke (S. 520) allen Beiträgen ein Einlassen auf jenes Erkenntnisinteresse attestieren, das einstmals als Fundament der Kritischen Theorie ausgegeben wurde: das der Emanzipation. Unabhängig vom Geltungsbereich der Theorieangebote, der disziplinären (Selbst‑)Verortung der Autorinnen und Autoren oder den historischen und gegenwärtigen Bezugnahmen ist allen Beiträgen eigen, dass sie die Politische Theorie immer (auch) als Kritik im Handgemenge begreifen. Gleichviel, ob die Auseinandersetzung mit der Politik im beginnenden 21. Jahrhunderts in Begriffen der Resonanzermöglichung (Rosa), des Rechts auf Rechtfertigung (Forst), eines konstitutiven Antagonismus (Marchart) oder einer ideologiekritischen Fortschrittsskepsis (Robin Celikates) geführt wird: Immer steht am „demokratischen Horizont“ das Eintreten für „Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Volkssouveränität“ (S. 146).

Unter diesem Banner, und dies leitet zur inhaltlichen Auseinandersetzung über, verbergen sich freilich weitreichende Differenzen. Ob das Recht beispielsweise als freiheitsermöglichendes bzw. -sicherndes oder aber als per se gewaltsames und repressives Medium begriffen wird, darüber gehen die Meinungen der Autorinnen und Autoren stellenweise weit auseinander. Während Loick programmatisch für ein Denken der emanzipierten Gesellschaft jenseits von Staat und Recht plädiert, zeigt sich Scheuerman „angesichts des Wiederauflebens eines rechten Autoritarismus“ irritiert über die „tiefsitzende Feindseligkeit gegenüber dem Recht“ in neueren Ansätzen der Kritischen Theorie (S. 109). Nicht weniger umstritten sind Stellenwert und Zustand gegenwärtiger demokratischer Ordnungen. Wenig überraschend werden krisenhafte Entwicklungen demokratischer Ordnungen von allen Autorinnen und Autoren des Bandes konstatiert. Für Teile der Beitragenden scheinen diese Krisen nur unter Rückgriff auf „Große Weigerung[en]“ (S. 16) im Sinne Marcuses adressierbar; Marchart beispielsweise hält Marcuses Beobachtungen für „wertvoll, weil sie uns an die surreale Natur von Freiheit erinnern“ (S. 175). Freiheit ist diesem Verständnis nach „nicht gebunden an den Zwang der [liberaldemokratischen?; T.M.] Verhältnisse. Freiheit existiert nur, wo der Zwang gebrochen und die Realität […] zu einem surrealen Reich der Möglichkeiten hin überstiegen wird“ (S. 175). Demgegenüber stehen solche Ansätze, die sich den alltäglichen Problemen demokratischer Politik und demokratischen Regierens weit weniger dramatisierend zuwenden. In einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den Postdemokratiekonzeptionen Colin Crouchs und Jaques Rancières kommt etwa Martin Saar zu dem Schluss, dass der Begriff der Postdemokratie „[f]ür viele der derzeit wahrgenommenen Phänomene von politischer Ohnmacht und Unfreiheit […] ein guter unter vielen möglichen Namen für die Krise der Politik“ (S. 492) ist. Er bezeichne aber „keinen verhängnisvollen Zusammenhang, dem kaum zu entrinnen ist […]. Er benennt die auch unter demokratischen Bedingungen andauernde Notwendigkeit, darum zu kämpfen, mit und unter anderen wirklich frei zu sein und eine Stimme zu haben“ (S. 492–493). Ähnlich argumentiert Cooke in Richtung einer normativen Rekonstruktion, die in einer Art welterschließender Kritik, ein reflexives Freiheitsverständnis gerade nicht als das Andere des Status quo auszugeben, sondern „als Produkt des modernen demokratischen Kulturerbes zu explizieren“ habe, das „eine historische Leistung darstellt“ (S. 537). Hiermit soll der gegenwärtige Zustand demokratischer Ordnungen freilich nicht affirmiert werden; in normativer Hinsicht scheinen aber weder Saar noch Cooke die unbedingte Notwendigkeit eines Überschreitens des liberaldemokratischen Ordnungsrahmens zu sehen, die in Marcharts Rückgriff auf Marcuse und die 68er-Bewegung mit ihrer Forderung „Die Phantasie an die Macht!“ (S. 174) trotz Verweises auf den „demokratischen Horizont“ (S. 154) mehr als nur angelegt ist.

Hinsichtlich der Frage nach einer besseren Politik halten sich die Beiträge dann jedoch größtenteils bedeckt. Für das Lager der negativistisch verfahrenden Kritik ist dies nur konsequent, aber auch jene Ansätze, die der (Re‑)Konstruktion normativer Standards noch nicht abgeschworen haben, spielen den Ball an dieser Stelle – unter Umständen etwas vorschnell – in das Feld der politischen Praxis zurück. „Letztlich“, so bemerkt beispielsweise Regina Kreide, „lässt sich die gegenwärtige politische Zukunftslosigkeit nur im experimentellen, politischen Handeln überwinden“ (S. 518). Und auch Hubertus Buchsteins Forderung, „die von Kirchheimer eingenommene Analyseperspektive“ wieder ins Zentrum einer Kritischen Theorie der Politik zu rücken, um „Frage[n] nach dem Wechselverhältnis zwischen Konflikten und Kompromissen unter rivalisierenden sozialen Gruppen auf der einen und den politischen Konstellationen und institutionellen Arrangements auf der anderen Seite“ stellen zu können (S. 139), bleibt zunächst, was der Titel des Beitrags verspricht: ein „Plädoyer“ (S. 110).

Diesbezüglich konkreter werden einige der Beiträge im letzten Teil des Bandes. Hier skizziert beispielsweise David Owen Tendenzen in Richtung einer „‚Transnationalisierung‘ des Staates unter den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung“ (S. 605). Mit Blick auf Fragen der Migration laufe dies „nicht notwendigerweise […] auf die Begründung eines Menschenrechtes auf Freizügigkeit hinaus“ (S. 605), wohl aber „auf eine Begründung einer transnationalen Governance der Grenzen, um dem Einzelnen bedeutungsvolle und nennenswerte Eintrittsoptionen zu gewährleisten und so die Herrschaftsstruktur der internationalen Ordnung in Hinblick auf Bewegung umzukehren“ (S. 607).

Die gleichwohl zu konstatierende Lücke hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung politischer Strukturen im Sinne kollektiver Emanzipation sollte an dieser Stelle nicht vornehmlich als Kritik verstanden werden. Die Qualität der Lösungen hängt immer mit der Angemessenheit der Diagnose zusammen. In den Bereichen „Analyse“ und „Diagnose“ (S. 242) hat der Band vieles anzubieten; es bleibt abzuwarten, ob in Zukunft auch hinsichtlich therapeutischer Maßnahmen der Faden weitergesponnen wird. Stoff für eine Fortsetzung gäbe es allemal.