Im September 2010 hielt José Manuel Barroso die erste „State of the Union“-Rede im Europäischen Parlament. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, so der damalige EU-Kommissionspräsident, sei die „größte Herausforderung aller Zeiten“ für die Europäische Union, in der die Solidarität ihrer Mitglieder „wie nie zuvor“ auf die Probe gestellt wurde – doch der „Test“, befand Barroso, sei bestanden. Doch in den kommenden Jahren sollten noch einige „Tests“ auf die Union zukommen, deren Bestehen die Mehrzahl politikwissenschaftlicher Einschätzungen eher in Frage stellt als es zu attestieren. Nun hat auch das an der Fachhochschule des BFI in Wien verortete Herausgeberteam Wöhl, Springler, Pachel und Zeilinger eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme vorgelegt, um aus Sicht der kritischen politischen Ökonomie die Auswirkungen des seit zehn Jahren anhaltenden Krisenmanagements auf den europäischen Integrationsprozess zu untersuchen.

Der vorliegende Sammelband identifiziert dabei die Entstehung oder Verschärfung von vier zentralen Bruchstellen („fault lines“) des Integrationsprozesses, die auch als Organisationseinheiten des Buchs dienen: (1) ein zunehmender Autoritarismus in der wirtschafts- und demokratiepolitischen Ausgestaltung der Integration; (2) der Aufstieg der extremen Rechten in den europäischen Parteiensystemen; (3) Prozesse der Finanzialisierung und Militarisierung in der Europäischen Union; und (4) die Zunahme sozialer Exklusion und der Konflikte in der Migrationspolitik. Die nur zum Teil in den Kapiteln explizierte übergreifende These lautet, dass das europäische Krisenmanagement der vergangenen Dekade negativ durchschlägt auf die institutionelle Form, die demokratische Legitimität und die ökonomische Kohärenz der EU. Die einzelnen Kapitel gewichten konzeptionelle Überlegungen und empirische Analyse dazu recht unterschiedlich, aber argumentieren überwiegend entlang krisentheoretischer und neo-gramscianischer Traditionslinien. Dadurch eignet sich der Band insbesondere auch für diejenigen, die sich mit den Argumenten einer kritischen Integrationsforschung vertraut machen wollen, wie sie auch im Rahmen der Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ verhandelt werden (vgl. zuletzt und überlappend mit dem vorliegenden Werk Keil/Wissel 2019).

Vor diesem Hintergrund lassen sich in „The State of the European Union“ einerseits Beiträge finden, die ansonsten unterbelichtete Aspekte des krisenhaften Integrationsprozesses herausarbeiten, wie zum Beispiel Klatzer und Schlagers Kapitel zu den geschlechterpolitischen Dimensionen europäischer Reformpolitik. Andererseits finden sich Beiträge, die neue Perspektiven auf breit diskutierte Phänomene liefern. So zeigt Salzborns systematisierender Vergleich der extrem-rechten Parteien in Europa unter anderem, dass dort sowohl substanzielle Differenzen in strategischer als auch inhaltlicher Sicht bestehen; insbesondere über die Frage, ob Regulierungskompetenzen auf europäisch-zentraler oder regionaler Ebene angesiedelt sein sollten. Das Aufdecken solcher wenig beachteten Konfliktlinien zeigt sich in Ansätzen auch in den Kapiteln zur Migrationspolitik (z. B. Trauner) und zu globalen Rivalitäten (Jäger und Roithner). Allein der hypothesengeleitete Beitrag von Zeilinger und Reiner, der den negativen Einfluss der europäischen Austeritätsvorgaben auf sozialpolitische Ausgaben nachweist, fällt hier etwas aus dem Bild; zeigt aber – wie auch Springler und Wöhl – wo kritische und konventionelle politökonomische Analysen konstruktiv ins Gespräch kommen können.

Nichtsdestoweniger erfüllt der Band die im Klappentext und Einleitung angekündigte Transdisziplinarität der Untersuchungen nur im Ansatz. Die vielversprechende Verbindung aus heterodoxer Wirtschaftswissenschaft und Politikwissenschaft, wie sie jüngst auch in der Kombination aus regulationstheoretischen und postkeynesianischen Analysen von Wachstumsmodellen vorgeschlagen werden, erschöpft sich leider in der Einleitung, sodass Verweise auf Keynes, Minsky und Sraffa im Rest des Buchs vergeblich gesucht werden. Auch in der Substanz überrascht es, dass einige augenscheinlich zentrale Projekte des Krisenmanagements nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Die Finanzmarktregulierung samt Banken- und Kapitalmarktunion wird allein von Bieling und Guntrum – aus recht hoher analytischer Flughöhe – betrachtet; die wie auch immer unzureichenden re-regulativen Projekte in der Sozial- und Steuerpolitik bleiben unberücksichtigt. Doch Bruchstellen bieten, vermutlich im Sinne des Herausgeberteams, auch immer die Einfallstore für Gegenbewegungen, weshalb es analytisch hilfreich gewesen wäre, die mit diesen Projekten verbundene Widersprüchlichkeit des jüngeren Integrationsprozesses stärker in den Blick zu nehmen.

Dieser Kritikpunkte ungeachtet liegt das Verdienst des Bandes darin, einige spannungsgeladene Dynamiken der vergangenen Dekade, die den Zusammenhalt der EU weiterhin „testen“, nicht nur aufzuarbeiten, sondern vor allem zusammenzudenken. Die Notwendigkeit einer solchen kritisch-heterodoxen Perspektive in Forschung und Lehre zeigt sich auch im jüngsten integrationspolitischen Moment, der Klimakrise. Es braucht keine weitere „State of the Union“-Rede, um zu erkennen, wie einschneidend dessen demokratiepolitische und distributive Konsequenzen sein dürften.