Erst nach der Lektüre dieses bestechenden Buchs wird deutlich, wie recht der Würzburger Staatsrechtler Florian Meinel mit seiner Aussage hat, dass es keine Theorie des Parlamentarismus bundesdeutscher Prägung gibt. Basierend auf seiner profunden Kenntnis der rechts-, politik- und geschichtswissenschaftlichen Literatur schafft Meinel hier Abhilfe und setzt damit – ebenfalls ein bemerkenswertes Verdienst – der Kontinentaldrift zwischen Politik- und Rechtswissenschaft etwas entgegen. „Vertrauensfrage“ stellt ein Publikumsbuch im besten Sinne dar, dem – hier ist die Rezensionsfloskel wirklich mal angebracht – eine breite Leserschaft zu wünschen ist.

Den Kern des Buchs bilden die beiden ersten Kapitel, in denen der deutsche Parlamentarismus formal und faktisch analysiert wird. Auch 2020 muss man noch dezidiert darauf hinweisen, dass Parlamente in parlamentarischen Regierungssystemen „Träger und Inbegriff politischer Herrschaft“ (S. 18) sind und im Mittelpunkt folglich Entscheidungen stehen und nicht Debatten. Als Besonderheit des deutschen Parlamentarismus identifiziert Meinel dessen Einbettung in einen spezifischen Exekutivföderalismus mit einem hohen Maß an Verwaltungsautonomie, insbesondere der Länder. Dies beschreibt er pointiert als Demokratiedefizit à l’allemande, das nicht oberhalb (wie in der Europäischen Union), sondern unterhalb des Nationalstaats angesiedelt ist. Das eigentliche Problem ist für Meinel allerdings nicht die Existenz zweier „Verfassungsschichten“, sondern deren fehlende verfassungsrechtliche Verknüpfung (S. 23). Diese Verknüpfung wurde bislang, so die Kernthese zum bundesdeutschen Parlamentarismus, informell über drei Institutionen geleistet: die Volksparteien, das Bundeskanzleramt und das Bundesverfassungsgericht, die zusammengenommen den Unterschied zwischen Bonn und Weimar ausmachten.

Volksparteien und Kanzleramt sorgten für eine enge personelle und institutionelle Verknüpfung der (organisierten) Wählerschaft mit den Mehrheitsfraktionen im Bundestag und der Regierung. Der Koordinationsleistung des Kanzleramts war geschuldet, dass es endlich gelang, die zuvor kaum verantwortlichen Einzelminister (und vor allem ihre Bürokratien) sukzessive zum Objekt parlamentarischer Herrschaft werden zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht wachte zusätzlich über die Rechte der parlamentarischen (und außerparlamentarischen) Opposition. Außerdem stärkte das Gericht die Parlamentsherrschaft durch seine demokratische Umdeutung und Ausweitung des Gesetzesvorbehalts, indem es dem Bundestag die Aufgabe eines Arbeitsparlaments zuwies. Auf diese Weise gelang es, das Kernproblem der deutschen Demokratie zu überwinden: sich als Latecomer etablieren zu müssen, der erst nach dem bürokratischen Föderalstaat die politische Bühne betrat. Es war also entgegen der oft vertretenen These nicht das Grundgesetz, sondern dessen Auslegung durch Volksparteien, Kanzleramt und Bundesverfassungsgericht, die den deutschen Parlamentarismus demokratisch absicherte. Dies so konzise auf den Punkt zu bringen, ist das größte Verdienst des Buches.

In den folgenden drei Kapiteln des Buches argumentiert Meinel dann, dass der deutsche Parlamentarismus, kaum seetüchtig, schon wieder davon bedroht ist, auf Grund zu laufen. Vom vielgerühmten teilpersonalisierten Verhältniswahlrecht ist keine Hilfe zu erwarten, insbesondere nicht angesichts des zu Recht hart kritisierten Proportionalitätsfetisches aufseiten des Bundesverfassungsgerichts (Kap. 3). Damit ist schon angedeutet, dass auch die drei Vermittlungsinstitutionen in der Krise stecken: Der Niedergang der Volksparteien ist wohlbekannt und das Kanzleramt droht sich Meinel zufolge zu Tode zu siegen und in immer mehr Chefsachen zu ersticken. Das Bundesverfassungsgericht steckt schließlich in dem Dilemma, immer mehr Kontrollaufgaben des Parlaments formalisieren zu müssen, obwohl deren effektive Wahrnehmung eigentlich auf Informalität beruht (Kap. 4).

Die Folgen dieser Krise der Vermittlungsinstitutionen analysiert Meinel in Kap. 5 am Beispiel der parlamentarischen Kontrolle der Regierung. Die Wahl dieser Perspektive überzeugt aus zwei Gründen weniger: Erstens geht es in parlamentarischen Systemen ja gerade nicht um die Kontrolle, sondern die Herrschaft. Zweitens bezeichnet Meinel den Bundestag zu Recht als klassisches Arbeitsparlament. Empirisch spricht allerdings wenig dafür, dass man den Kuchen essen und behalten kann, dass also Parlamente Regierungen effektiv kontrollieren und gleichzeitig gesetzgeberisch mitsteuern können. Die Verkennung des Zielkonflikts zwischen effektiver Kontrolle und gesetzgeberischer Mitwirkung ist der vielleicht einzige antiparlamentarische Affekt, dem auch Meinel aufsitzt. Sein Vorwurf einer „Komplizenschaft der Opposition“ (S. 177) gehört dann eher in die von ihm klug kritisierte antiparlamentarische Literatur als in dieses hellsichtige Buch. Hervorzuheben ist allerdings, dass Meinel an anderer Stelle sehr wohl auch gesetzgeberische Belege für eine Krise des Parlamentarismus anführt.

Auch wenn Meinel sich auf wohltuende Weise mit gleichermaßen weitreichenden wie unrealistischen Reformvorschlägen zurückhält, kann sein Buch sich einer problematischen Eigenschaft von Publikumsbüchern nicht entziehen: der Lust an der Krise. Zwar ätzt Meinel mit guten Gründen gegen die ewige Melodie vom Niedergang des Parlamentarismus, seine „verfassungsrechtliche Verlustbilanz der Großen Koalition“ (Klappentext) läuft allerdings nicht nur auf eine Abrechnung mit der Merkel-Ära hinaus, sondern auch streckenweise Gefahr, in eine Apotheose der Kanzlerschaft Helmut Kohls zu münden. Zur Zeit Kohls, dessen Reformen die CDU erst zur Volkspartei werden ließen, sieht Meinel die Blütephase des deutschen Parlamentarismus verwirklicht: klarer (volks-)parteipolitischer Dualismus, koordinierendes Kanzleramt, minderheitenfreundliches Verfassungsgericht. Als kleiner Schönheitsfehler sollte allerdings gerade Staatsrechtlern aufstoßen, dass Kohls Kanzlerschaft auf den vorsätzlichen Verstoß gegen die immerhin im Grundgesetz festgeschriebene Norm gegründet war, der zufolge Parteien über die Herkunft ihrer Mittel Rechenschaft ablegen müssen. Wenn das die glorreiche Vergangenheit des Parlamentarismus in Deutschland war, ist es um seine Zukunft vielleicht doch nicht so schlecht bestellt, wie Meinels ansonsten bestechende Analyse uns glauben machen will.