Seit den 1980er-Jahren und zumindest bis zur Finanzkrise ab 2007 hat in den entwickelten Demokratien ein fundamentaler wirtschaftspolitischer Wandel stattgefunden, der vielfach als Liberalisierung beschrieben worden ist. Unternehmen wurden privatisiert, Märkte dereguliert, Steuern gesenkt, Sozialleistungen gekürzt und Staatsausgaben heruntergefahren. So jedenfalls die insgesamt auch empirisch gut abgesicherten Befunde der politökonomischen Forschung. Gleichwohl wird dabei oft übersehen, dass es neben diesen Liberalisierungen immer wieder auch Reformen in eine andere Richtung gegeben hat mit dem Ziel eines „tightening of restrictions on free market movements“, so die Definition des Begriffs „De-Liberalisierung“, den die Autorin des hier zu besprechenden Werkes ihrer Arbeit zugrunde legt (S. 34). Anna Fill berichtet nämlich auf der Basis einer ausgesprochen breiten Datenbank, in der wirtschafts- und sozialpolitische Reformen in 38 entwickelten kapitalistischen Staaten im Zeitraum zwischen 1973 und 2013 erfasst werden, dass rund 40 Prozent aller einschlägigen Reformen deliberalisierenden Charakter hatten (so die Aussage auf S. 5, wobei es diesem Rezensenten nicht gelungen ist, diese Zahl mit den Daten aus Tabelle 1.1 in Einklang zu bringen, in der der Anteil deliberalisierender Reformen je nach Reformreichweite zwischen 39,1 und 24,8 Prozent liegt und damit stets und teilweise deutlich unter 40 Prozent). Auch die drei deutschsprachigen Länder, die die Autorin für eine detailliertere Analyse ausgewählt hat, sind ihren Daten zufolge keine Ausnahme, beträgt der Anteil der deliberalisierenden an allen Reformen doch 43,5 Prozent in der Schweiz, 43 Prozent in Österreich und 37,6 Prozent in Deutschland (S. 33, Fn. 5). Dabei zeigen die Fallstudien, dass es im Zeitverlauf jeweils deutliche Unterschiede im Anteil der deliberalisierenden Reformen gibt. Auffallend ist hier, dass in allen drei Ländern die Deliberalisierung ab Mitte der 2000er-Jahre einen Schub erhalten hat.

Wie kam es zu Deliberalisierung in den drei deutschsprachigen Ländern? Nachdem jeweils eine Reihe von Alternativerklärungen verworfen wird, argumentiert Fill, dass Deliberalisierung von ämterorientierten Parteien durchgesetzt wird, um Verlierer der Liberalisierungspolitik und solche Wähler, bei denen diese Politik unpopulär (geworden) ist, zu kompensieren und mit den populären Deliberalisierungsmaßnahmen künftige Wahlen zu gewinnen. Entsprechend findet Deliberalisierungspolitik Fill zufolge hauptsächlich in solchen überwiegend sozialpolitischen Politikfeldern statt, die salient sind, sodass die Wähler von den Wohltaten auch erfahren. In nicht-salienten Bereichen dagegen findet sich auch die Deliberalisierungstendenz weniger häufig.

Der Befund, dass Liberalisierung auch in den 1990er- und 2000er-Jahren keineswegs die einzige Reformrichtung war, dass vielmehr Liberalisierung kein stabiler politischer Zustand ist (S. 150), sondern zu seiner Absicherung Deliberalisierung benötigt, ist wichtig und richtig und verdient in der Literatur Beachtung. Gleichwohl ist er nicht ganz neu, da schon Paul Pierson in seinem Buch „Dismantling the Welfare State?“ von 1994 ausdrücklich auf Kompensation als einen von drei Wegen verwies, wie sich sozialpolitische Kürzungspolitik umsetzen lässt; eine Überlegung, die in der Literatur, auch zu den deutschsprachigen Ländern, nicht unberücksichtigt geblieben ist. Wünschenswert wäre bei der Darstellung der Befunde zur Bedeutung von Deliberalisierung allerdings ein Abgleich mit vorhandenen Output-Indikatoren gewesen, auf die sich die bestehende Literatur stützt. Wie ist also das Ergebnis, dass ein erheblicher Teil der kodierten Reformen deliberalisierenden Charakter hat, zu vereinbaren mit Daten, die für den gleichen Untersuchungszeitraum ein erhebliches Sinken der Unternehmenssteuersätze, eine Deregulierung von Märkten sowie einen Rückgang des Staatsbesitzes an Unternehmen und der Subventionsausgaben für die weitgehend gleiche Ländergruppe konstatieren?

Theoretisch setzt die Arbeit von Fill im Wesentlichen bei ämterorientierten Parteien an, die auf deliberalisierende Politik setzen, um wiedergewählt zu werden. Wenn das so ist – und dafür spricht viel in den Fallstudien –, stellt sich allerdings eine andere Frage: Warum wagen sich solche Parteien überhaupt an Liberalisierungspolitik heran? Eine Möglichkeit bestünde darin zu argumentieren, dass Liberalisierungspolitik nicht immer unpopulär ist und Parteien sich an solche Reformen nur herantrauen, wenn es dafür mehrheitliche Unterstützung durch die Bevölkerung gibt. Wenn die Autorin dieses Argument machen wollte (gelegentlich gewinnt man diesen Eindruck), wäre die Präsentation einschlägiger Umfragedaten hilfreich gewesen, anhand derer diese Entwicklung hätte nachvollzogen werden können. Und wenn das Argument zuträfe, würde hier Stuart Soroka und Christopher Wleziens (2010) Thermostatmodell gute Erklärungsdienste leisten. Alternativ ließe sich vermuten, dass Liberalisierung nur angesichts schlechter wirtschaftspolitischer Performanz verfolgt wird, wie von Paul Pierson, Barbara Vis oder auch diesem Rezensenten argumentiert. Dann wäre Deliberalisierung aber in erster Linie eine Politik der guten Zeiten – und auch das hätte sich systematischer überprüfen lassen.

Methodisch stellt das Forschungsdesign die Autorin vor gewisse Herausforderungen. Das gilt zunächst für die untersuchten Politikfelder, die in großer Breite einbezogen sind, von der Marktregulierung über die Steuerpolitik und die verschiedensten sozialpolitischen Felder bis hin zur Gleichstellungs- und Bildungspolitik. Zweifellos hat ein derart breiter Zugriff große Vorzüge, weil er davor bewahrt, vorschnell Befunde aus einzelnen Politikfeldern zu verallgemeinern. Andererseits ist es aber, insbesondere in einer dem Grunde nach qualitativen Studie, schwer, die Reformen in den einzelnen Feldern ausgewogen darzustellen und den jeweiligen Logiken der unterschiedlichen Bereiche gerecht zu werden. Auch die Länderauswahl birgt Schwierigkeiten, da ein erheblicher Teil der Deliberalisierung in der ersten Untersuchungsperiode in der Schweiz durch die nachholende Wohlfahrtsstaatsexpansion bedingt war, während für Deutschland die Sondereffekte durch die Wiedervereinigung zu bedenken sind, die zumindest anfänglich zu Deliberalisierung führten – nur um anschließend einen umso umfassenderen Liberalisierungsschub auszulösen. Hier kehrt sich dann die Abfolge von Liberalisierung und Deliberalisierung sogar um.

Auch die für die exemplarischen Fallstudien ausgewählten Fälle sind nicht alle ideal geeignet. Die Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ in der Schweiz beispielsweise lässt sich – selbst wenn man sie als politökonomische Deliberalisierung gelten lässt – nicht in gleicher Weise auf das Handeln ämterorientierter Parteien zurückführen wie fast alle einschlägigen Maßnahmen in Deutschland und Österreich – schlicht weil hier die Initiative auf direktdemokratischem Wege (wenn auch als Vehikel der SVP) zustande kam. Inwieweit, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die Einführung des Solidaritätszuschlags in Deutschland der Logik deliberalisierender Politik folgt, ist mir ebenfalls nicht vollständig klar geworden. Aus der zweiten Hälfte der Kohl-Ära hätte der Ausbau der aktiven Arbeitsmarktpolitik (einschließlich Frühverrentung) oder die Einführung der Pflegeversicherung womöglich besser gepasst. Schließlich sind die über 20 Fallstudien zu einzelnen Reformprojekten notwendigerweise sehr knapp (selten mehr als zwei Seiten). Um das Kompensationsargument noch klarer belegen zu können, wäre hier vielleicht eine Beschränkung auf besonders eindeutige (oder unwahrscheinliche) Fälle vorzuziehen gewesen, die dann mit größerer Tiefenschärfe hätten analysiert werden können.

Dieser Detailkritik zum Trotz bietet die Schrift von Fill ihren Leserinnen und Lesern aber viel empirisches Material, eine bedenkenswerte These und die wichtige Botschaft, dass Liberalisierung keineswegs die einzige Reformrichtung in den entwickelten Demokratien war und es vermutlich auch nicht sein wird.