1 Einleitung

Polyamore Lebensformen umfassen ein breites Spektrum an einvernehmlich nicht-monogamen Beziehungen zwischen mehreren Partner*innen und können als eine Form konsensuell nicht-monogamer Beziehungen verstanden werden (Klesse 2011). Sie weisen eine breite Vielfalt und Individualität auf (Klesse 2017) und gewinnen im deutschsprachigen Raum zunehmend an Sichtbarkeit (Ossmann 2020). Laut einer rezenten Umfrage sind 6 % der Menschen im deutschsprachigen Raum in konsensuell nicht-monogame Beziehungen involviert (Rothmüller 2021; N = 4709). Polyamore Lebensformen werden auf unterschiedlichste Weise gelebt, von nicht-hierarchischen Beziehungsnetzwerken bis hin zu oftmals hierarchisch gedachten heterosexuellen Ehepaaren mit sekundären Partner*innenschaften (vgl. Aurel und Schadler im Druck; Ossmann 2020; Sheff und Tesene 2015). Die Vielfalt von Polyamorie zeigt sich in Dimensionen wie der Anzahl an Partner*innen, sexueller Beteiligung, emotionaler Intimität, Geschlechterkonstellationen, Dauerhaftigkeit, dem Grad der Transparenz und Hierarchisierung sowie Haushalts- und Elternschaftsformen (Klesse 2006; Ossmann 2020; Pallotta-Chiarolli 2010). Aufgrund dieser Vielfalt ist es eine interessante Herausforderung zu thematisieren, welche gemeinsamen Strukturen innerhalb von polyamoren Beziehungen gegeben und für sie kennzeichnend sind.

Frühere Forschungen haben bereits herausgearbeitet, dass einzelne Normen wie Ehrlichkeit, Kommunikation, Commitment, Engagement (Balzarini et al. 2021; Klesse 2006, 2011) und Erfahrungen wie Stigmatisierung (Conley et al. 2013) wichtig in polyamoren Beziehungen sind. Es ist jedoch unzureichend, derartige Normen und Erfahrungen einzeln zu betrachten, weil sie in komplexen, polyamoren Lebensformen gemeinsam auftreten. Innerhalb polyamorer Beziehungen kommt es zu Verknüpfungen, sodass bei einer wechselseitigen Betrachtung Macht-Wissens-Komplexe, Hierarchisierungen sowie weitere Normen und Handlungspraxen zum Vorschein kommen. Bislang fehlt diese jedoch, weshalb in diesem Beitrag die Forschungsfrage verfolgt wird, inwiefern sich Macht-Wissens-Komplexe, Normen, Hierarchisierungen in diskursiven Strukturen innerhalb von polyamoren Beziehungen manifestieren und in welchem Maße wechselseitige Verknüpfungen zwischen ihnen bestehen. Die Relevanz dieser Untersuchung zeigt sich dahingehend, dass nicht nachvollzogen werden kann, wie sich diese komplexen Lebensformen gestalten, wenn unbekannt ist, welche Macht‑, Wissens-Strukturen, Normen, sowie Hierarchien Polyamorie prägen.

Im Folgenden wird das methodische Vorgehen erläutert. Anschließend werden die in diskursiven Strukturen eingebetteten Macht-Wissens-Komplexe, Normen, Hierarchien und Handlungspraxen vorgestellt. Diese Darstellung basiert auf der Identifikation, Konzeptualisierung und Verdichtung von interviewübergreifenden Themen. Aus diesen Themen wurden die drei analytischen Kategorien der allumfassenden Kommunikation, der konsequenten Mustergültigkeit und des Diskriminierungsparadoxons entwickelt, welche in weiterer Folge miteinander ins Verhältnis gesetzt werden. Die gewonnenen Ergebnisse werden schließlich im Kontext von bestehenden Forschungsergebnissen zu Polyamorie diskutiert.

2 Methodische Vorgehensweise

Im Jahr 2021 führte ich problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) mit 16 Personen durch, die sich als polyamor identifizieren. Die Teilnehmer*innen wurden über deutschsprachige Facebook-Gruppen rekrutiert, die Polyamorie behandeln. Auf einen öffentlichen Aufruf reagierten 30 Personen, von denen 16 (7 aus Österreich und 9 aus Deutschland) interviewt wurden. Unter den Interviewten waren 8 Frauen (Alter: 20–50) und 8 Männer (Alter: 30–68). Obwohl die Befragten mehrere Partner*innen haben, war außer einem Paar keine*r der anderen Befragten in einer Beziehung miteinander und die Interviews wurden einzeln durchgeführt. Zum Erhebungszeitpunkt war eine Person Single, während die anderen zwischen eine*r*m und vier Partner*innen hatten. Aufgrund der Covid-19-Pandemie fanden die Interviews online über ZoomFootnote 1 mit Bild- und Tonübertragung statt und dauerten durchschnittlich 70 min.

Meine Analyse erfolgte durch eine diskursanalytische Herangehensweise, die auf den Überlegungen von Foucault (1981) basiert. Für meine Analyse ist Foucaults Begriff des Diskurses zentral, den er definiert als „sprachlich produzierter Sinnzusammenhang, der eine bestimmte Vorstellung forciert, die wiederum bestimmte Machtstrukturen und Interessen gleichzeitig zur Grundlage hat und erzeugt“ (Foucault 1981, S. 74). Diskurse formen die Gegenstände, über die sie sprechen, systematisch (Foucault 1991), manifestieren sich als kulturelles Wissen in Aussagen und beeinflussen die Wahrnehmung und das Denken von Subjekten (Foucault 1981).

Für mein Vorgehen bei der Analyse sind die Begriffe von Normen, Macht und Wissen vordergründig, welche eng mit Foucaults Überlegungen zu Diskursen verbunden sind. Mit Normen beziehe ich mich auf Regeln, die durch Machtstrukturen geprägt, historisch spezifisch sind und bestimmen, was als wahres Wissen gilt (Foucault 1981). Sie grenzen ein, was in einem Diskurs als akzeptabel erachtet wird und welche Aussagen ausgeschlossen werden. Zudem sind sie relevant, wenn es darum geht, welche Verhaltensweisen und Denkweisen von Subjekten als normal oder abweichend verstanden werden (Foucault 1981). Normen sind Werkzeuge von Macht, da sie regulieren, was gesagt werden darf, wer sprechen darf und wie Wissen organisiert wird (Foucault 1981). Insgesamt habe ich diesen Hintergrund gewählt, da er die Komplexität polyamorer Lebensformen berücksichtigt, weil keine isolierten Treiber wie Identitäten oder Rollen im Vordergrund stehen und damit ein breiter Blickwinkel über einzelne Werte und Bedeutungen hinaus eröffnet wird.

In der von mir durchgeführten Analyse lag der Schwerpunkt auf Macht-Wissens-Komplexen, Normen und Hierarchisierungen. Insgesamt habe ich in sechs Analyseschritten aus interviewübergreifenden Themen analytische Kategorien entwickelt, die in diskursive Strukturen eingebettet sind, und diese anschließend ins Verhältnis zueinander gesetzt. Der erste Schritt umfasste die Vorbereitung der Daten, indem die Transkripte der Interviews durch die Identifizierung wiederkehrender Themen, Schemata und Aussagen codiert wurden. Im zweiten Schritt wurden relevante Transkriptausschnitte identifiziert und ausgewählt, wobei auf wiederkehrende Muster geachtet wurde, die wichtige Konzepte repräsentieren. Im dritten Schritt ging es darum, die ausgewählten Ausschnitte inhaltlich zu bündeln und zu kondensieren. Das bedeutet, ähnliche oder thematisch verwandte Aussagen wurden zusammengeführt, um repräsentative und aussagekräftige Einheiten zu schaffen, die für die weitere Analyse geeignet waren. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Bündelungen sehr nah an dem blieben, was in den Interviews tatsächlich gesagt wurde. Gleichzeitig wurden die Bündelungen bereits als Teil größerer Diskursformationen verstanden, die Machtverhältnisse reflektieren und konstruieren. Im vierten Schritt kam es zur inhaltlichen Analyse der gebündelten Aussagen, indem sie daraufhin untersucht wurden, wie sprachliche Strukturen, Formulierungen und Begriffe im Kontext von Polyamorie verwendet wurden und welche diskursiven Prozesse zu ihr jeweils geführt haben könnten. Dies beinhaltete die Analyse der zugrundeliegenden Machtverhältnisse, impliziten Hierarchien und Normen, indem hinterfragt wurde, wie die Begriffe verwendet wurden, welche anderen Begriffe in dem Kontext genannt wurden, welche Werte und Normen sich von einer Aussage ableiten lassen, wie diese Normen von den Befragten interpretiert und gerechtfertigt wurden und welche Machtverhältnisse sich in einer Aussage zeigen sowie welche Verhältnissetzungen und Hierarchisierungen dahinterstehen. Im fünften Schritt wurden analytische Kategorien entwickelt, die auf der inhaltlichen Analyse basieren. Diese Kategorien repräsentieren spezifische Macht-Wissens-Komplexe im Kontext von Polyamorie. Sie helfen dabei, die komplexen Themen und Muster, die in den Interviews identifiziert wurden, zu organisieren und zu strukturieren. Jede Kategorie deckt spezifische Aspekte von Polyamorie ab und ermöglicht, tiefergehende Einblicke zu gewinnen. Die Kategorien wurden hinsichtlich ihrer Abgrenzung voneinander hinterfragt und verglichen. Dies erlaubte, ihre Wechselwirkungen und Verknüpfungen zu identifizieren, was die Überleitung zum sechsten Schritt bildet. Bei der finalen Analyse des letzten Schritts wurden die Wechselwirkungen durch die Fokussierung von Interaktionen und Widersprüchen zwischen den Kategorien untersucht. Dabei wurden die Verknüpfungen der aufkommenden Normen, Hierarchien sowie Macht- und Wissensstrukturen herausgearbeitet. Ziel war es, die komplexen Wechselwirkungen und Implikationen der in meinem Fall drei herausgearbeiteten Kategorien zu verstehen und ein umfassenderes Verständnis für die dynamischen Prozesse und Strukturen innerhalb polyamorer Beziehungen zu schaffen.

3 Ergebnisse

Zur Beantwortung der zentralen Fragestellung dieses Beitrags, inwiefern sich Macht-Wissens-Komplexe, Normen, Hierarchisierungen in diskursiven Strukturen innerhalb von polyamoren Beziehungen manifestieren und in welchem Maße wechselseitige Verknüpfungen zwischen ihnen bestehen, wird zunächst auf die im Zuge der Analyse sichtbar gewordenen diskursiven Strukturen eingegangen. Diese diskursiven Strukturen lassen sich in drei analytischen Kategorien zusammenfassen, die sich inhaltlich auf allumfassende Kommunikation, konsequente Mustergültigkeit und ein Diskriminierungsparadoxon beziehen. Diese drei analytischen Kategorien wurden von interviewübergreifenden Themen abgeleitet, die zunächst untermauert durch exemplarische Auszüge aus den Transkripten skizziert werden (siehe 3.1.1, 3.2.1, 3.3.1). Anschließend werden die Normen, Hierarchien und Macht-Wissens-Komplexe eingebettet in diskursiven Strukturen der jeweiligen analytischen Kategorie vorgestellt (siehe 3.1.2, 3.2.2, 3.3.2), bevor sie miteinander ins Verhältnis gesetzt werden (siehe 3.4).

3.1 Allumfassende Kommunikation

Die erste analytische Kategorie bezeichne ich als allumfassende Kommunikation. In den Aussagen sind in diesem Zusammenhang Themen wie Eifersucht, Ehrlichkeit, Betrug und Commitment zu finden. Im Zuge der Analyse zeigen sich diskursive Strukturen, die diese Gefühle, Aussagen und Handlungen als Teile einer allumfassenden Kommunikation strukturieren. Im Folgenden wird zunächst auf die thematisch relevanten Aussagen eingegangen, bevor darauf aufbauend Normen, Macht, Wissen und Hierarchisierungen in diskursiven Strukturen zur allumfassenden Kommunikation skizziert werden. Bei der Darstellung sind in Klammern die Zitate aus den Interviewtranskripten angeführt.

3.1.1 Aussagen zu Eifersucht, Betrug, Ehrlichkeit & Commitments

Interviewübergreifend wird Eifersucht wiederholt als Thema eingeführt, bewusst mit einer negativen Konnotation verknüpft und als bewältigbar dargestellt („Eifersucht is ja eigentlich nur ich hab ein Problem mit mir selbst“). Thematisierungen von Eifersucht außerhalb von Partner*innenschaften werden in der Vergangenheitsform formuliert, um die Überwindung des Negativen zu kennzeichnen („Es kommt gar keine Eifersucht mehr auf weil ichs begriffen hab“). Selbstbeschreibungen gegenüber Dritten umfassen Erklärungen, dass aufkommende Eifersucht von einzelnen Partner*innen sofort angesprochen und durch eigenständige Aufarbeitung, Ursachensuche und Verständnis der eigenen Emotionen gelöst werden sollte.

Betrug wird von den befragten polyamor Lebenden neu definiert, bleibt jedoch weiterhin negativ konnotiert und wird als Frage der Kommunikation gerahmt („Betrug äußert sich für mich nur noch dadurch dass ich das Vertrauen zu meinem Partner verliere weil er oder sie mich angelogen hat“). Er wird definiert als das absichtliche Unterlaufen von Absprachen und das Unterlassen von Kommunikation, einschließlich mutwilliger Falschaussagen („Betrug is ein mit Vorsatz Handeln entgegen des Commitments“). Die Unterlassung von Kommunikation wird mit der Absicht assoziiert, den Partner*innen zu schaden. Entsprechend wird Betrug, eingebettet in Verheimlichen und Lügen, konsequent abgelehnt und mit der Betonung eines Vertrauensverlustes sanktioniert. Im Gegensatz zum Begriff des Betrugs wird der Begriff des Fremdgehens im Zusammenhang mit der Thematisierung von Polyamorie von den Befragten abgelehnt, da er Untreue im Beziehungskontext anspricht und der Anspruch auf Treue im Sinne der Exklusivität von Beziehungen aufgrund des Widerspruchs zu Polyamorie als unpassend empfunden wird.

Ehrlichkeit, als das umfassende, ehrliche Aussprechen der eigenen Bedürfnisse und Wünsche, wird von den Befragten zur Bedingung von Polyamorie erhoben („wir setzen uns gegenseitig keine Grenzen aber wir reden“). Gegenseitig wird gefordert, selbstverantwortlich dem konstruierten Grundbedürfnis nach Transparenz mittels ehrlicher Kommunikation gerecht zu werden („es funktioniert wirklich nur über um also absolute Ehrlichkeit und Offenheit“). In Anlehnung daran wird erwartet, potenzielle Partner*innen bald in die polyamore Lebensform einzuweihen und gemeinsam ehrliche Kommunikationsformen durch die Betonung von Offenheit und Transparenz in den Beziehungen zu manifestieren. Unzureichende, unehrliche Kommunikation wird abgelehnt und als Bedrohung der Beziehung aufgefasst. Werden Beziehungsprobleme erkannt, werden diese auf mangelnde kommunikative Transparenz zurückgeführt („man muss halt die Sachen auf den Tisch bringen und dann müssen alle Mitspieler […] die da mitreden müssen halt für sich selber einstehen“).

Commitments werden von den Befragten in Form gemeinsam vereinbarter Regeln für die Beziehungen aufgestellt, um das Wohlergehen aller Beteiligten zu sichern („wir sorgen füreinander umeinander geistig emotional aber auch in anderen Dingen“). Das Fundament der Commitments ist die Erwartung, dass alle Partner*innen kontinuierlich reflektieren, unaufgefordert über ihr eigenes Wohlbefinden sprechen und einander zuhören. Auf der Grundlage dieser Erwartung können die besonders in frühen Beziehungsphasen umfangreichen Regelwerke regelmäßig hinterfragt, kommunikativ abgestimmt und modifiziert werden. Das Einhalten der gemeinsam aufgestellten Commitments wird als Liebesbeweis gewertet und damit an Vorstellungen von Liebe geknüpft („weil ich dieses Einhalten von diesen damals noch sehr sehr strengen Regeln so als Liebesbeweis interpretiert hab“). Die begrenzende Komponente von Commitments erfährt von den Befragten geringfügige Beachtung, da auf die Etablierung von Entfaltungsspielraum fokussiert wird.

3.1.2 Diskursive Strukturen zur allumfassenden Kommunikation

Aus den zuvor skizzierten Aussagen der Befragten wurde die analytische Kategorie der allumfassenden Kommunikation hergeleitet. Die Bezeichnung wurde gewählt, da die Analyse die Norm innerhalb polyamorer Beziehungen zum Vorschein brachte, dass alle alles sagen, hören und verstehen müssen. Die Praxis des wiederholenden Sagens, Hörens und Verstehens produziert einen extremen Anspruch an Individuen. Vorstellungen von richtigem Verhalten beeinflussen das Wissen der Befragten hinsichtlich des Funktionierens von polyamoren Beziehungen. Andere Formen der Kommunikation als die ehrliche, offene und transparente Trias werden folglich als deviant oder problematisch gerahmt. Begriffe wie Betrug und Emotionen wie Eifersucht werden verwendet, um die hohe Bedeutung der allumfassenden Kommunikation zu vermitteln.

Diskursive Strukturen zur allumfassenden Kommunikation konstruieren hohe Erwartungshaltungen in polyamoren Beziehungen, da bestimmte Verhaltensweisen, wie beispielsweise sein Innerstes den Partner*innen zu offenbaren, von den Befragten als wünschenswerte soziale Norm definiert werden. Dabei wird reguliert, dass eine Person alles über sich preisgibt, wodurch die anderen Partner*innen alles über sie wissen und damit Macht über sie haben, weil sie nichts verbergen darf. Durch die Forderung, alles zu sagen, werden die Zuhörenden und Verstehenden mächtiger und da dies von allen Beteiligten gefordert wird, wird eine Illusion von Gleichberechtigung geschaffen. Es handelt sich um eine Illusion, da anzunehmen ist, dass es nicht allen in dem gleichen Ausmaß gelingt, alles zu sagen, hören und zu verstehen, beziehungsweise nicht alle gleich viel zu sagen haben.

Vorstellungen werden darüber etabliert, wann Emotionen als problematisch zu betrachten sind. Es wird normiert, wie Emotionen in Beziehungen reguliert werden sollen, was zur Unterdrückung spezifischer Emotionen oder zu einem bestimmten, als sozial akzeptierten Umgang damit führt. Durch die Ablehnung bestimmter Kommunikationspraktiken durch die Befragten, wie das Verwenden von als unpassend deklarierten Begriffen, wie Lügen, Schweigen, Nichtzuhören oder Nichtverstehenkönnen, wird Kontrolle und Disziplinierung ausgeübt. Die Festlegung von Regeln in polyamoren Beziehungen fungiert als Mittel zur Disziplinierung des Verhaltens der Partner*innen. Die geforderte allumfassende Kommunikation etabliert informelle Kontrolle, bei der sich alle Partner*innen gegenseitig überwachen und überprüfen, ob die Kommunikationsnormen eingehalten werden. Durch die drohende Beschuldigung, den Partner*innen schaden zu wollen, sie nicht ausreichend zu lieben oder ihr Vertrauen zu verlieren, werden Individuen dazu angeleitet, sich selbst zu regulieren und ihre Emotionen zu verstehen.

Die Art und Weise, wie über Eifersucht, Betrug, Ehrlichkeit und Commitments von den Befragten gesprochen wird, beeinflusst polyamore Beziehungen dahingehend, dass Praktiken von hoher Disziplin und Regelkonformität zeugen. Die Verknüpfung des Einhaltens von Commitments mit der Bewertung als Liebesbeweis zeigt, wie Kommunikation als Mittel zur Herstellung bestimmter Emotionen und Bindungen fungiert und wie durch sie Wissen über Liebe konstruiert wird. Durch die Vernachlässigung der begrenzenden Komponente von Commitments zeigt sich eine Strategie zur Fokussierung bestimmter Narrative, nämlich der, dass Polyamorie von negativen Facetten loszulösen ist. Die Überwindung des als negativ Gewerteten wird als notwendig angesehen, um Polyamorie vorbildlich darzustellen und zu markieren, dass eine Narration der Entwicklung existiert. Allumfassende Kommunikation wird als Argument verwendet, um soziale Wahrnehmungen und Bewertungen zu beeinflussen, da das Ziel verfolgt wird, Polyamorie von negativen Stereotypen zu befreien.

Durch die Thematisierung von Eifersucht, Betrug, Ehrlichkeit und Commitments der Befragten werden Machtverhältnisse etabliert, die diejenigen als abweichend betrachten, die die spezifischen Normen für das Kommunikationsverhalten in polyamoren Beziehungen nicht erfüllen. Es werden Stimmen mit hohen kommunikativen Fähigkeiten bevorzugt, hingegen jene mit geringeren Kommunikationsfähigkeiten unterdrückt. Innerhalb der Beziehungen kommt eine Hierarchie dahingehend auf, dass diejenigen, die nicht alle Bestandteile ihres Lebens offenlegen, als weniger vertrauenswürdig betrachtet werden. Diejenigen, die als vertrauenswürdig gelten, können eine höhere Machtposition in Beziehungen einnehmen, während Verstöße als Bedrohung für die etablierte Ordnung betrachtet werden. Expert*innen werden für die richtige Art der Kommunikation sowie die Bewältigung von Beziehungsproblemen etabliert und kontrollieren die Definition von gesunder Kommunikation und akzeptablem Verhalten. Die Befragten stellen sich nach außen hin so dar, dass sie Expert*innen für Beziehungsführung sind und eine Utopie leben, da sie sich so verhalten, dass alles perfekt, harmonisch und ideal verläuft. Inkonsistenzen zwischen den Aussagen zeigen sich jedoch dahingehend, dass diese Utopie schwer umsetzbar ist. Dieser Problematik wird von den Befragten mit einem noch höheren Ausmaß an Disziplin und Regelkonformität begegnet. Zur Aufrechterhaltung der Utopie werden aufkommende Probleme in die individuelle Verantwortung verlagert und vermeintliche strukturelle Beziehungsprobleme übergangen.

3.2 Konsequente Mustergültigkeit

Die zweite herausgearbeitete analytische Kategorie bezieht sich auf den Anspruch der Befragten auf Mustergültigkeit. In den Aussagen in diesem Kontext sind interviewübergreifende Themen wie Beziehungsgrundlagen, ideale Partner*innen(-wahlen) und Vorteile der polyamoren Lebensformen zu finden. Bevor im Folgenden die Normen, Macht-Wissens-Komplexe und Hierarchisierungen im Rahmen konsequenter Mustergültigkeit näher beschrieben werden, wird skizziert, an welchen Aussagen sie sich empirisch festmachen lassen.

3.2.1 Aussagen zu Beziehungsgrundlagen, idealen Partner*innen und Vorteilen von Polyamorie

Die Befragten konstruieren Kommunikationspflicht, Offenheit, Transparenz, Ehrlichkeit, Authentizität, Verbindlichkeit und Loyalität, Respekt sowie ein Gefühl der Verbundenheit als elementare Beziehungsgrundlagen. Als Voraussetzung wird zudem festgelegt, dass alle wissen, was sie wollen und Polyamorie dazu zählt („Sie muss mitten im Leben stehen. […] Ich möchte einfach nen Menschen der sich selbst bewusst ist“). Erwartet wird die deutlich sichtbare Bereitschaft, sich zu öffnen, zu reflektieren, aktiv zu kommunizieren und sich loyal zu sein („Ich möchte geben. Ich möchte nehmen. Ich möchte Transparenz. Ich möchte Wahrhaftigkeit. Ich möchte Authentizität“). Trotz der anspruchsvollen Beziehungsgrundlagen werden potenzielle Vielfalt und die Einzigartigkeit jeder Beziehung betont.

Von idealen Partner*innen wird von den Befragten positiv konnotiert gesprochen und die Anzahl derer wird an die reflektierten Bedürfnisse jeder Person geknüpft. Den Befragten nach sind ideale Partner*innen jene, die polyamor leben wollen, Rücksicht auf weitere Partner*innen von Partner*innen nehmen und deren Wünsche respektieren. Reflexions- und Kommunikationsfähigkeit sowie Eigenständigkeit werden als fundamental betrachtet, weswegen Partner*innen mit polyamoren Vorerfahrungen bevorzugt werden, damit sie ähnliche Weltanschauungen mitbringen und den hohen zwischenmenschlichen Anforderungen wahrscheinlicher entsprechen („die müssen integer sein die müssen erwachsen sein die müssen sich trauen schwierige Gespräche zu führen“). Falls Partner*innen diesem geforderten Ideal nicht entsprechen, kann dies bis zum Beenden von Partner*innenschaften führen, da ein dahingehend wahrgenommener Mangel mit dem subjektiven Bevorzugen einer monogamen Lebensform und folglich unzureichender Bereitschaft, an sich selbst diesbezüglich zu arbeiten, assoziiert wird („sehr anstrengend weil du […] merkst okay die sind eigentlich doch mono und wollen eigentlich auch dass du mono bist“). Da die genannten Merkmale von Partner*innen als derartig unverzichtbar konstruiert werden, ist Oberflächlichkeit kaum erlaubt, um die Anzahl potenzieller Partner*innen zu erhöhen. Entsprechend wird sich von negativ konnotierter Oberflächlichkeit ebenso wie von Besitzdenken distanziert.

Über Polyamorie wird von den Befragten nur im Zuge des Vergleichens mit Monogamie gesprochen, da diese als obligatorisch vorherrschende gesellschaftliche Norm angenommen wird („die Gesellschaft ist ja monogam und du musst praktisch diese Weltordnung selber für dich erfinden“). Das heißt, um Polyamorie erklären und verstehen zu können, wird eine Abgrenzung dessen von Monogamie als notwendig erachtet. Im Zuge dieser Abgrenzung werden Bewertungen abgelehnt, aber gleichzeitig mit einem rechtfertigenden Charakter markiert, dass für die eigene Person durch Polyamorie viele Vorteile aufkommen. Genannte Vorteile sind exemplarisch die intensive Öffnung zueinander, das hohe Ausmaß an zwischenmenschlicher Nähe und die Option, viele zu lieben. Viele Partner*innen zu haben wird nicht als Bedrohung einzelner Beziehungen, sondern als Lebensqualitätssteigerung deklariert („ich darf keine mehr haben außer einer.. das wär so wie ich müsst mir’n Bein abhacken“).

3.2.2 Diskursive Strukturen zur konsequenten Mustergültigkeit

Diese Aussagen zeigen, dass von den Befragten Regeln erstellt werden, wie eine mustergültige Beziehung auszusehen hat, und gleichzeitig wird vereinbart, sich konsequent an diese Regeln zu halten. Diskursive Strukturen konstruieren Individuen, die sich mustergültig an alle Regeln, wie beispielsweise die der allumfassenden Kommunikation, halten und machen totalitäre Normen sichtbar. Die Beziehungsgrundlagen werden von den Befragten konsequent verfolgt, und diese entsprechen einem Musterbeispiel, wie Beziehungen normativ idealisiert geführt werden sollten. Dabei werden die befragten polyamor Lebenden zu Expert*innen darin, idealisierte Beziehungen zu führen und ideale Partner*innen zu finden, wobei sie kontrollieren, wie diese zu definieren sind. Die Konstruktion von Beziehungsgrundlagen dient dazu, bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen zu fördern und andere zu marginalisieren. Die Definition von idealen Partner*innen und die Betonung bestimmter Eigenschaften können als Mechanismen der Machtausübung betrachtet werden, da sie die Akzeptanz und Anerkennung innerhalb der polyamoren Gemeinschaft beeinflussen. Der Begriff der idealen Partner*innen wird aus anderen Beziehungskonzepten übernommen, wodurch Spuren von oft monogam gedachten Liebesidealen sichtbar werden. Diese Spuren werden gezielt genutzt, um Polyamorie mit positiven Werten zu versehen und sie damit ansprechender darzustellen.

Mittels der Beziehungsgrundlagen werden Vorstellungen darüber deutlich, was wünschenswert ist. Das heißt, es werden Verhaltensweisen festgelegt, die bevorzugt werden und als Standard für gute polyamore Beziehungen dienen. Zu diesen bevorzugten Verhaltensweisen gehören beispielsweise das Ablehnen von Besitzansprüchen, das Gewähren von Freiraum für Partner*innen, respektvolles Miteinanderumgehen sowie das Fördern von Offenheit und Kommunikation. Die Befragten erwarten, dass Partner*innen diese Verhaltensweisen auf persönlicher Ebene übernehmen, was Selbstregulierung impliziert. Die Festlegung von Kriterien für ideale Partner*innen und die Betonung bestimmter Erfahrungen (wie polyamore Vorerfahrungen) können als Ausschlussmechanismen interpretiert werden, die Macht durch Definition und Kategorisierung ausüben. In diesem Fall werden bestimmte Merkmale und Erfahrungen als zentral für die Akzeptanz in den Beziehungen definiert, wodurch bestimmte Gruppen ausgeschlossen oder marginalisiert werden können. Folgt eine Person den Normen zu idealen Partner*innen und den Beziehungsgrundlagen nicht, kann sie dem Ideal nicht gerecht werden und wird als ungeeignete*r Partner*in eingestuft. Dabei hat der*die Partner*in laufend zu kontrollieren, ob der*die andere den Normen entspricht und wenn dahingehend Abweichungen wahrgenommen werden, hat er*sie die Macht, die andere Person auszuschließen. Demnach wird im Vorhinein eine idealisierte Musterschablone für Partner*innen erstellt und (potenzielle) Partner*innen werden gegenseitig permanent damit abgeglichen. Wenn Personen dieser Musterschablone nicht gerecht werden, werden sie durch die Macht der Beurteilenden ausgegrenzt.

Von den Befragten wird Polyamorie als Alternative zu einer als obligatorisch angesehenen Norm dargestellt, was eine subversive Handlung gegenüber dieser Norm zeigt. Die Notwendigkeit, Polyamorie im Vergleich zu Monogamie zu definieren, schafft eine Hierarchie von Beziehungsformen, wobei konsequente Mustergültigkeit genutzt wird, um die eine zu legitimieren und die andere zu diskreditieren. Die Erwähnung von Vorteilen und die Rechtfertigung von Polyamorie der Befragten können als Versuch betrachtet werden, Macht auszuüben, indem positive Facetten betont und potenzielle Kritik abgewehrt wird, wodurch bestimmte Wahrheiten konstruiert und gefördert werden. Das Betonen von potenzieller Vielfalt und Einzigartigkeit jeder Beziehung innerhalb der festgelegten Grundlagen könnte als Versuch interpretiert werden, trotz normativer Vorgaben Raum für Diversität zu schaffen. Dies kann als Strategie dienen, um den Anschein von Offenheit und Flexibilität zu wahren. Mittels normativer Ideale von Freiheit und freien Willen wird Polyamorie positiv präsentiert, um gesellschaftliche Akzeptanz von polyamoren Lebensformen zu steigern. Das heißt, die Vorteile von Polyamorie werden wiederkehrend von den Befragten benannt, um aufzuzeigen, inwiefern sich die Partner*innen mustergültig an alle Regeln halten und dafür anerkannt werden wollen.

3.3 Diskriminierungsparadoxon

Interviewübergreifend wurde wiederkehrend von den Befragten die Grenze zwischen den Partner*innenschaften und dem sozialen Umfeld außerhalb dieser thematisiert. Zusammengefasst unter dem Diskriminierungsparadoxon wird hierbei ein Paradoxon sichtbar, bei dem die befragten polyamor Lebenden einerseits Diskriminierungserfahrungen machen und andererseits gesellschaftliche Anerkennung erreichen wollen. In den Aussagen sind diesbezüglich Themen wie die Sorge vor gesellschaftlicher Ablehnung, Zurückweisung, Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung sowie Aktivismus zu finden, auf die im Folgenden eingegangen wird. Die dabei sichtbar werdenden Normen, Macht-Wissens-Komplexe und Hierarchien stehen in Verbindung mit der potenziellen Gefahr des Veröffentlichens der polyamoren Lebensform sowie mit der Entscheidung zur Geheimhaltung dessen.

3.3.1 Aussagen zu Geheimhalten vs. Veröffentlichen und Aktivismus

Polyamorie entspricht nicht der monogamen Norm, weswegen von den Befragten überlegt wird, wann sie thematisiert werden kann, da dies einem Outing gleicht und negative Konsequenzen induzieren kann („weil ich krasse Ablehnung erfahren hab deswegen“). Infolgedessen gehen die Befragten mit diesem Wissen vorsichtig um und achten präzise auf den Kontext, um abzuwägen, ob das Schweigen oder Sprechen darüber vorzuziehen ist („dass man da halt ganz viel damit konfrontiert wird so von wegen na ja es ist nur legitimiertes Fremdgehen […] deswegen spreche ich mit denen relativ wenig dann darüber“). Die vermeintlich notwendige Geheimhaltung wird von den Befragten als legitime Strategie konstruiert, um sich vor gesellschaftlicher Benachteiligung zu schützen („die Menschen haben so viele Projektionen. und es nervt einfach nur noch“). Allerdings wird von den Befragten vorausgesetzt, nicht von vornherein Geheimhaltung zu betreiben, sondern bei jeder Interaktion mit Dritten zunächst abzuwägen und, wenn die Wahrscheinlichkeit für Diskriminierung gering erscheint, die Veröffentlichung zu wählen („weil ich erstens einmal denke ich hab nichts zu verstecken zweitens einmal find ichs total schade“). Bei dem kontinuierlichen Abwägen der Konsequenzen des Aussprechens wird der Schutz der Partner*innen berücksichtigt.

Aktivistische Tätigkeiten werden von den Befragten vermehrt mit dem Anspruch verfolgt, kulturelle Legitimität für Polyamorie anzuregen („Mir ist total daran gelegen dass das Thema in der Gesellschaft thematisiert wird so ungefähr wie es eben Homosexuellen ein Anliegen war“). Durch gezielte und angemessene Repräsentation von Polyamorie in der Öffentlichkeit sollen gesellschaftliches Bewusstsein und Akzeptanz geschaffen werden, weswegen Aktivismus von den Befragten als erstrebenswert konstruiert wird („Ich möchte repräsentiert werden und ich möchte dass meine Seite gehört wird und ähm am coolsten ist es wenn einfach ein breites Bild dabei entsteht“). Damit wird ein Imperativ zur angemessenen Veröffentlichung sichtbar, und Diskussionen darüber werden von den Befragten als legitim und notwendig angesehen, um polyamor Lebende vor Unrecht und Schaden zu bewahren.

3.3.2 Diskursive Strukturen zum Diskriminierungsparadoxon

Die Analyse der interviewübergreifenden Aussagen brachte ein Bedürfnis der Befragten nach Anerkennung zum Vorschein, welches scheinbar widersprüchlich ihren Diskriminierungserfahrungen gegenübersteht. Da Polyamorie nicht der monogamen Norm entspricht, erleben sich die befragten polyamor Lebenden als gesellschaftlich ausgegrenzt. Einerseits kommt bei Interaktionen mit Personen außerhalb ihrer Partner*innenschaften unmittelbar die Frage auf, wie viel über die Lebensform preisgegeben werden kann, ohne diskriminiert zu werden. Andererseits hinterfragen die Befragten repetitiv, wo bewusst für Polyamorie in Form von Aktivismus eingetreten werden kann, um gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern und langfristig zu verhindern, beim Veröffentlichen negative Konsequenzen erwarten zu müssen. Das heißt, die Befragten verspüren den Wunsch, nach außen zu zeigen, wie diszipliniert und mustergültig Beziehungen geführt werden, aber aufgrund von normativen Vorurteilen und Diskriminierung wird dieser nicht erfüllt. Dieser Wunsch basiert auf einem Bedürfnis nach Anerkennung und Lob durch Personen außerhalb der Beziehungen dafür, wie viel Mühe aufgewendet wird, um erfolgreich derartig mustergültig und diszipliniert zu sein. Aufgrund der vorherrschenden normativen Strukturen werden die Befragten jedoch um ihre Wunscherfüllung betrogen, weswegen sie versuchen, die normativen Grenzen mit der öffentlichen Repräsentation von Polyamorie aufzulockern und letztlich gesellschaftlich zu etablieren. Begründet in dem Bedürfnis nach weitreichender Sichtbarkeit wird von den Befragten permanent bei Interaktionen außerhalb der Beziehungen diszipliniert getestet, wo Sichtbarkeit und in weiterer Folge Anerkennung erlangt werden kann, um den als belastend wahrgenommenen Mangel an Anerkennung zu kompensieren. Diese Suche nach Sichtbarkeit und Anerkennung kann als strategische Praxis verstanden werden, um bestehende Machtverhältnisse zu beeinflussen. Der Wunsch nach Anerkennung kann als integraler Bestandteil der individuellen Identitätsbildung verstanden werden, welche im Dialog mit gesellschaftlichen Normen konstruiert wird.

Indem die Befragten ihre Beziehungen organisieren und regulieren, wird versucht, das eigene Leben hinsichtlich sozialer Strukturen zu optimieren. Dementsprechend versuchen die Befragten, Polyamorie in Übereinstimmung mit vorherrschenden Normen zu bringen, da der Wunsch nach Anerkennung für die disziplinierte Beziehungsführung von sozialen Normen und Erwartungen geprägt ist. Das Schweigen oder Sprechen über Polyamorie kann als strategische Entscheidung verstanden werden, die jeweils in sozialen Kontexten eingebettet ist. Die Konstruktion von Geheimhaltung als legitime Strategie zeigt, wie Macht durch Kontrolle über das Wissen ausgeübt wird. Die Betonung der Befragten von aktivistischen Bemühungen könnte dazu dienen, gesellschaftliche Akzeptanz zu beeinflussen und sich gegen vorherrschende Machtstrukturen einzusetzen. Die aktivistisch tätigen befragten polyamor Lebenden werden zu Expert*innen dafür, Polyamorie zu repräsentieren und kontrollieren dabei, was unter angemessener Repräsentation der Lebensform verstanden wird.

3.4 Normen, Macht-Wissens-Komplexe, Hierarchien und Verknüpfungen

Zur Beantwortung der Fragestellung werden nun Verknüpfungen von Normen, Macht-Wissens-Komplexen und Hierarchien in diskursiven Strukturen betrachtet und somit die drei analytischen Kategorien miteinander ins Verhältnis gesetzt. Vorab ist anzumerken, dass die Ergebnisse innerhalb ihres konkreten historischen und kulturellen Kontextes in Österreich und Deutschland zu verstehen sind und sich aufgrund der Auswahl der Befragten auf polyamor Lebende beziehen, die in sozialen Medien im Zusammenhang mit Polyamorie aktiv sind. Die Art und Weise wie die Befragten über Polyamorie sprechen, spiegelt den Versuch wider, ihre Lebensweise gesellschaftlich zu legitimieren. Im Zuge der Analyse deuten sich diskursive Strukturen an, die Subjekte positionieren, die allen Regeln folgen, dafür gesellschaftlich wertgeschätzt werden wollen, jedoch keine Anerkennung erhalten. Das drängende Bedürfnis nach Sichtbarkeit und Anerkennung treibt die Befragten dazu, ihre Beziehungen als mustergültig und vorbildlich darzustellen. Dabei wird deutlich, dass die bloße Funktionalität der Beziehungen nicht ausreicht; es besteht ein tiefgehendes Verlangen nach externer Anerkennung für die gelebten Beziehungsideale und gleichzeitig wird ein tiefgreifender Mangel dahingehend wahrgenommen. Die von den Befragten gelebte Disziplin impliziert ein fortwährendes Streben nach Sichtbarkeit, sodass sie gezielt Situationen (zum Beispiel in meiner Studie) nutzen, um darauf hinzuweisen, dass ihre Beziehungen Anerkennung und Sichtbarkeit verdienen.

Die drei analytischen Kategorien durchdringen sich gegenseitig in mehrfacher Hinsicht: Konsequente Mustergültigkeit kann nur mittels allumfassender Kommunikation umgesetzt werden. Zum Beispiel können ideale Partner*innen nicht gefunden werden, wenn nicht in der richtigen Form kommuniziert wird. Wenn alle alles sagen, hören und verstehen müssen, kommen nur ausgewählte Personen in Frage, die die notwendige Bereitschaft, Fähigkeiten und Ressourcen dafür mitbringen. Das disziplinierte Befolgen der Regeln, das heißt, die Mustergültigkeit, verwenden die Befragten als Argument dafür, dass gesellschaftliche Diskriminierung polyamor Lebender unrechtmäßig ist. Normative Vorstellungen hinsichtlich Beziehungsführung zeigen sich in allen drei analytischen Kategorien. Diese Normen sind Richtlinien und schaffen Machtverhältnisse, indem bestimmte Verhaltensweisen gefördert und andere stigmatisiert werden. Personen, die diesen Normen entsprechen, erlangen innerhalb der Beziehungen Anerkennung und Macht, während Abweichungen als problematisch bewertet werden. Innerhalb der Beziehungen werden Hierarchien aufgrund der Fähigkeit zur Konformität mit den normativen Praktiken geschaffen, und Expert*innen werden etabliert, die kontrollieren, was als richtiges Verhalten gilt. Es werden Regeln und Erwartungen aufgestellt, um Verhalten zu regulieren, Ideale zu fördern und Abweichungen zu sanktionieren. Im Zuge der konsequenten Mustergültigkeit wird festgelegt, was als ideale Beziehung gilt. Das bedeutet Ausschlussmechanismen kommen zum Einsatz, um Verhaltensweisen oder Gruppen zu marginalisieren, und Inklusion wird durch Konformität mit den festgelegten Normen erreicht. Daher werden jene ausgegrenzt, die den normativen Anforderungen nicht entsprechen. Es werden strategische Narrative von den Befragten verwendet, um Praktiken zu rechtfertigen und bestimmte Werte zu betonen, wie beispielsweise die Hervorhebung von Transparenz oder den positiven Facetten von Polyamorie.

Zusammengefasst sehen sich die Befragten in einem paradoxen Dilemma, da sie zwar normativ konforme Beziehungen führen, aber dennoch das Gefühl haben, nicht ausreichend anerkannt zu werden. Die Unzufriedenheit, die sich manifestiert, resultiert mit anderen Worten daraus, dass trotz der aufgewandten Mühe und der vorbildlichen Führung der Beziehungen die angestrebte Anerkennung von außen ausbleibt. Bei den Befragten handelt es sich um hoch disziplinierte Individuen, deren Zufriedenheit von externer Anerkennung abhängt. Resümierend stehen Kommunikation, Mustergültigkeit und Diskriminierung in Verbindung mit einer dynamischen, disziplinierten Subjektkonstruktion, die impliziert, dass nicht nur nach interner Funktionalität der Beziehungen gestrebt wird, sondern auch nach der kontinuierlichen gesellschaftlichen Würdigung dessen.

4 Diskussion

Mit der analytischen Kategorie der allumfassenden Kommunikation wurden einzeln untersuchte Normen und Erfahrungen zusammengefasst betrachtet. In Übereinstimmung mit den Arbeiten von Schadler und Villa (2016) sowie von Ossmann (2020) ist ersichtlich, dass erfolgreiche Kommunikation, die umfassend und ehrlich ist, und deren herausfordernde Aufrechterhaltung als Schlüsselfaktor für den Erfolg von Polyamorie betrachtet wird. Meine Ergebnisse bestätigen jene von Schadler (2020), welche die entscheidende Rolle von Kommunikation bei Polyamorie festhält, da einerseits Verhandlungen, Organisation und Abstimmung in dieser Lebensform erforderlich sind und andererseits Erwartungen an Kommunikation mittels der Forderung gestellt werden, dass alle ihre Gedanken ehrlich einbringen müssen. Außerdem bestätigt meine Untersuchung die Erkenntnis von Klesse (2017), dass Betrug ein relevanter Begriff in polyamoren Beziehungen ist, auch wenn Ehrlichkeit betont wird. Wie auch meine Daten zeigen, wird Betrug dabei als Verstoß gegen das gemeinsame Commitment verstanden (Wosick-Correa 2010). Die hohe Bedeutung von Ehrlichkeit und Commitments für polyamore Beziehungen wurde bereits in früheren Arbeiten benannt (Wosick-Correa 2010; Klesse 2011). In Übereinstimmung mit meinen Erkenntnissen wird Ehrlichkeit oft als Voraussetzung für Polyamorie betrachtet, da sie den Konsens für den Zusammenhalt der Partner*innenschaft ermöglicht (Wosick-Correa 2010), und sie impliziert die Annahme, dass zwischen den Partner*innen keine Geheimnisse existieren, was als Zeichen hoher zwischenmenschlicher Intimität betrachtet wird (Klesse 2011). Auch bestätigen meine Ergebnisse, dass es neben dem Commitment zu ehrlicher Kommunikation (Mint 2004) weitere Commitments gibt, wie die Bereitschaft, aktiv und lösungsorientiert an Konflikten zu arbeiten (Klesse 2011). Dahingehend ist somit festzuhalten, dass Commitments aktive Bemühungen repräsentieren und das Funktionieren von Beziehungen ermöglichen sollen (Petrella 2007), auch wenn Regeln gegebenenfalls Freiheit beschränken können (Klesse 2011). Zwar zeigt sich auch in meiner Analyse, dass Eifersucht ein emotionaler Zustand ist, der durch die wahrgenommene Bedrohung der eigenen Beziehung gekennzeichnet ist (Balzarini et al. 2021), aber in polyamoren Beziehungen nicht seltener anzutreffen sein scheint als in monogamen (Conley et al. 2017). Dennoch zeigen auch meine Ergebnisse eine Verbindung von Eifersucht und Polyamorie (Ossmann 2020) sowie die Verwendung von Eifersucht als Argument gegen Nicht-Monogamie (Mint 2010). Auch meine Daten spiegeln wider, dass polyamor Lebende von Eifersucht betroffen sein können, sie jedoch nicht tabuisieren (Klesse 2017; Ritchie und Barker 2006) sondern kontrollieren wollen (Cascais und Cardoso 2013; Benson 2008). Hierbei gehen meine Erkenntnisse tiefer und zeigen, dass dieses Kontrollieren der Eifersucht mittels Kommunikation vorgenommen wird und eine klare Erwartung der Partner*innen aneinander darstellt. Diesbezüglich zeigen auch andere Studien, dass Eifersucht als Problem der Charakterstärke in polyamoren Beziehungen dargestellt wird und es in der eigenen Verantwortung liegt, diese aufzuarbeiten, indem Besitzdenken geregelt, Unsicherheiten und Verlassensängste gelindert werden (Rubinsky 2018). Zusammengefasst zeigt der Forschungsstand die Identifikation zahlreicher einzelner Normen, die prägend für polyamore Beziehungen sind, die aber bislang nicht zusammengefasst unter allumfassender Kommunikation betrachtet wurden. Erst damit wird ersichtlich, was die Grundlage von Polyamorie ist: Alle müssen alles sagen, hören und verstehen. Damit gehen ganz klare normative Vorstellungen und Praktiken sowie Machtstrukturen einher, die zu spezifischen Inklusions- und Exklusionsmechanismen führen.

Unter konsequenter Mustergültigkeit wurden Normen und Strukturen, die bis jetzt einzeln untersucht wurden, zusammengefasst thematisiert. Die skizzierten Grundlagen polyamorer Beziehungen ähneln jenen, die Emens (2004) mit Selbstbeherrschung, Integrität, Selbsterkenntnis, Zustimmung und Ehrlichkeit benennt. Meine Studie bestätigt Klesses (2017) Erkenntnis, dass in polyamoren Lebensformen eine komplexe Ethik existiert, die durch eine Vielzahl von Regeln geprägt ist und die Beziehungsorganisation betrifft. Montenegro (2010) betont, dass das Teilen eine*r*s Partner*s*in mit anderen zwar den Kern polyamorer Beziehungen bildet, jedoch oft eine Herausforderung für das gegenseitige Vertrauen darstellt. Meine Erkenntnisse erweitern diese Erkenntnis um die Verbindung zwischen Vertrauen und allumfassender Kommunikation. Die herausgearbeiteten Normen, dass von potenziellen Partner*innen erwartet wird, in gleichem Maße zu reflektieren, ihr Inneres zu verstehen und darüber zu sprechen hat Schadler (2020) ebenfalls benannt. Kommunikationsfähigkeiten werden als entscheidend für polyamore Beziehungen betrachtet, wobei Kommunikationsdefizite als persönliches Problem angesehen werden, das selbstverantwortlich gelöst werden muss (Schadler 2020). Auch in meiner Untersuchung zeigt sich: Die Aufrechterhaltung solch emotional anspruchsvoller Beziehungen erfordert die aktive Beteiligung aller Parteien und wird häufig als Beweis der Hingabe betrachtet (Klesse 2011). Meine Daten bestätigen darüber hinaus die Abgrenzung von Polyamorie zu Fremdgehen durch die Betonung der Einvernehmlichkeit der Partner*innenschaften (Sheff und Tesene 2015). Ein Unterschied zwischen meinen und bestehenden Erkenntnissen ist dahingehend gegeben, dass bisher überwiegend separate Betrachtungen ohne das Hinterfragen gegenseitiger Verbindungen vorgenommen wurden. Erst durch die Verbindung einzelner Erkenntnisse wird die Komplexität von Polyamorie nachvollziehbar.

Das Diskriminierungsparadoxon bringt einige bislang separat untersuchte Erfahrungen und Normen zusammen. Wie auch meine Studie verdeutlicht, erfahren polyamor lebende Menschen häufig Diskriminierung und werden stigmatisiert (Conley et al. 2013). Polyamorie steht im Widerspruch zur gesellschaftlichen Norm, die emotionale und sexuelle Exklusivität in Zweierbeziehungen bevorzugt (Mayer 2011), was zu ihrer Marginalisierung, Abwertung und Ausgrenzung führt (Bauer 2010). Dies resultiert aus der Vorstellung, dass langfristige, exklusive romantische Paarbeziehungen höher geschätzt werden als andere Formen von Beziehungen (Pöll 2020). In westlichen Ländern fehlen meistens legale Strukturen und klare Verhaltensmuster für polyamore Lebensformen (Schadler 2020; Schippers 2018). Obwohl Frank und DeLamater (2010) für eine nicht polarisierte Betrachtung von Monogamie und Polyamorie plädieren, zeigen meine Ergebnisse, dass polyamor Lebende selbst oft nur im Vergleich mit Monogamie über Polyamorie sprechen. Meine Daten bestätigen einerseits, dass jede polyamore Beziehung einzigartig ist und auf dem Wunsch aller Beteiligten basiert, polyamor zu leben (Ossmann 2020). Andererseits wirkt die normative Dominanz der Monogamie auf polyamore Lebensformen, welche sich nicht einfach außerhalb der Struktur mono-normativer Wirkungsmächtigkeit positionieren können (Mayer 2011), wodurch diese selbst oft um traditionelle Geschlechterrollen strukturiert sind (Barker 2005). Die Offenlegung der polyamoren Lebensform führt häufig zu Entfremdung von Familienmitgliedern und Freund*innen (Ossmann 2020), was auch in meinen Interviews ersichtlich wurde. Die meisten polyamor Lebenden, einschließlich der von mir Befragten, streben nicht danach, Monogamie abzuschaffen, sondern kritisieren und minimieren deren kulturelle Dominanz (Deri 2015; Santos 2019). In diesem Kontext betonen polyamor Lebende die Bedeutung romantischer Liebe, um polyamoren Lebensformen einen gesellschaftlich höheren Stellenwert zu verleihen (Pöll 2020). Obwohl polyamore Liebe potenziell unbegrenzt und nicht exklusiv ist (Klesse 2011), kann bestätigt werden, dass normative Ideale romantischer Liebe aus monogamen Beziehungen auch auf polyamore Beziehungen übertragen werden (Schroedter und Vetter 2010). Damit integrieren polyamor Lebende normative Vorstellungen des gesellschaftlichen Wertesystems in ihre Lebensformen und nutzen diese, um ihre Beziehungen durch den Verweis auf seriöse, langfristige Liebesbeziehungen akzeptabler zu machen (Pöll 2020). Durch die Betonung von Gleichheit und Differenz versuchen polyamor Lebende, sich realistischer als monogam Lebende und als normativ akzeptabel darzustellen (Barker 2005), wobei, wie meine Ergebnisse vertiefen, ein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung sichtbar wird. Damit erweitert die vorliegende Studie das Verständnis von Polyamorie, weil einerseits Befunde diverser Autor*innen zu einzelnen Merkmalen von Polyamorie bestätigt wurden und andererseits insbesondere aufgrund der wechselseitigen Betrachtung weitere Macht-Wissens-Komplexe, Normen und Hierarchien innerhalb polyamorer Beziehungen identifiziert wurden.

5 Fazit

Da die dargestellten Ergebnisse größtenteils im Einklang mit dem Forschungsstand stehen, dürfte es sich bei den skizzierten Normen, Macht-Wissens-Komplexen und Hierarchien im Zusammenhang mit allumfassender Kommunikation, konsequenter Mustergültigkeit und dem Diskriminierungsparadoxon um Strukturen handeln, die über die Befragten hinaus auch in anderen polyamoren Beziehungen zu finden sind. Insbesondere die Thematisierung der Verknüpfungen dieser geht jedoch über bisher generierte Erkenntnisse hinaus, sodass der Stellenwert meiner Ergebnisse darin besteht, die Komplexität von Polyamorie nachvollziehbarer zu machen, indem veranschaulicht wird, welche gemeinsamen Schnittstellen polyamore Beziehungen in ihrer Vielfalt vorweisen können. Als Ausblick ist dennoch festzuhalten, dass künftig vertieft zu hinterfragen ist, wie das Verhältnis der herausgearbeiteten diskursiven Strukturen zu gesellschaftlichen Diskursen konzipiert ist und inwiefern sie auch in anderen Beziehungsformen zu finden sind. Dabei wäre es interessant, die herausgearbeiteten Strukturen durch Literatur weiter zu kontextualisieren und eine gesamtgesellschaftlichere Perspektive zu eröffnen. Meine Ergebnisse werfen außerdem die Frage auf, was polyamor Lebende dazu bewegt, eine Lebensform zu wählen, die von der vorherrschenden Norm abweicht, wenn sie doch ansonsten weitestgehend vorherrschenden normativen Strukturen zu folgen scheinen. Ausgehend von methodischen Limitationen, nämlich, dass nur Personen befragt wurden, die weiß, cis-geschlechtlich, aus der Mittelschicht und Mitglieder der deutschsprachigen polyamoren Facebook-Community sind, wäre in künftigen Forschungen eine größere Varianz anzustreben und eine intersektionale Perspektive zu berücksichtigen (Pallotta-Chiarolli et al. 2020). Denkbar ist, dass es kulturelle Unterschiede gibt, weswegen eine vergleichende Untersuchung mit Polyamorie aus anderen Regionen interessant wäre. Zu reflektieren ist, ob es geeignetere Recruitingwege gibt, da polyamor Lebende außerhalb der Facebook-Community nicht einbezogen wurden, was zu Verzerrungen geführt haben könnte. Es besteht eine methodische Einschränkung hinsichtlich der Art der Stichprobenauswahl und den damit verbundenen möglichen Selektionseffekten. Es ist wahrscheinlich, dass vor allem Personen, die nach Anerkennung streben und aktiv zur kulturellen Legitimität von Polyamorie beitragen möchten, an dieser Studie teilnahmen. Diese Personen haben oft ein starkes Bedürfnis nach Austausch und Anerkennung und sind daher tendenziell auch in den sozialen Medien aktiv. Dadurch repräsentieren sie bestimmte diskursive Strukturen, die nicht zwangsläufig auf alle polyamor lebenden Personen übertragbar sind. Diese methodische Einschränkung ist besonders relevant für die Befunde zum Thema „Aktivismus“ und dem Bedürfnis nach Anerkennung (Abschn. 3.3) sowie den Befund zum Anspruch aktivistischer Tätigkeiten (Abschn. 3.3.1). Da polyamor Lebende jedoch oftmals auf die Nutzung von sozialen Medien angewiesen sind, um überhaupt Partner*innen zu finden, erscheint es mir nach wie vor der vielversprechendste Weg zu sein, innerhalb von polyamoren Netzwerken professionelle Interviewanfragen zu teilen. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob die herausgearbeiteten Strukturen auch für polyamor Lebende, die nicht Teil der polyamoren Community sind, bedeutsam sind. Kritisch ist auch zu sehen, dass, wie in zahlreichen anderen Studien zu Polyamorie, Interviews geführt wurden (Barker und Langdridge 2010) und dabei die tatsächlichen Handlungspraxen innerhalb polyamorer Beziehung kaum erfasst werden können. Alles in allem trägt dieser Beitrag im Einklang mit dem aktuellen Forschungsstand zur Aufklärung über Polyamorie bei; dennoch ist Mayer (2020) und Klesse (2019) vor dem Hintergrund dieses Ausblicks zuzustimmen, dass nach wie vor Forschungsbedarf besteht.