1 Einleitung

Die alternde Gesellschaft Deutschlands entwickelt sich – wie die Epidemiologie aktuell prognostiziert – hin zu einer Gesellschaft, in der Prozesse der Vergesellschaftung mit Menschen mit Demenz immer alltäglicher werden. In Deutschland leben ca. 1,7 Mio. Menschen mit Demenz.Footnote 1 Bis 2070 wird diese Zahl auf ca. 3 Mio. Menschen mit Demenz ansteigen (vgl. Georges et al. 2023, S. 30). Die individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen lassen sich gegenwärtig schwer abschätzen. Die Soziologie kann aktuell jedoch einige Folgen des epidemiologischen Wandels der Gesellschaft im institutionellen Kontext der Pflege beobachten. Institutionelle Pflegeeinrichtungen und die professionelle Demenzpflege können alternativ zu Goffmans Konzept der „totalen Institution“ (1961) daher auch als ein Experimentierfeld für Prozesse der Vergesellschaftung von Menschen mit Demenz beschrieben werden. In diesem Feld erproben Akteur:innen neue Formen der Kommunikation und Interaktion, die auch unter Bedingungen dementieller Erkrankungen Handlungskoordination und intersubjektive Verständigung ermöglichen.

Bislang ist der Diskurs über Demenz von den neuropsychologischen Überlegungen und experimentellen Studien zum individuellen menschlichen Gedächtnis und dessen Störungen geprägt. Gesundheitssoziologische Forschung, die das Experimentierfeld der institutionellen Pflege qualitativ-empirisch untersucht, bestimmt den naturwissenschaftlich dominierten Diskurs und seine Vorstellungen von Demenz kaum (vgl. Teupen et al. 2024). Ein qualitativer Forschungsansatz kann aber dennoch einen relevanten sozialtheoretischen und empirischen Beitrag zum besseren Verständnis von Demenz und Sozialität leisten, indem konkrete Interaktionen untersucht werden (vgl. etwa Kontos 2006; Jansson und Plejert 2014; Meier zu Verl 2020; Hydén et al. 2022; Dinand et al. 2023).

Dieser Artikel diskutiert Demenz aus einer interaktionssoziologischen Perspektive, die jenseits einer psychologischen Perspektive des Gedächtnisverlustes bestimmte Formen von SozialitätFootnote 2 mit Menschen mit Demenz soziologisch beobachtbar macht (vgl. etwa Müller 2024, S. 210–213). Der Zusammenhang zwischen Sozialität, Gedächtnis und Demenz ist in der Soziologie bislang kaum erforscht und die Pflegepraxis wird v. a. anhand von Pflegesituationen und pflegetypischen Praktiken untersucht. Die empirischen Erkenntnisse werden nur selten sozialtheoretisch betrachtet, so dass die qualitative Soziologie der Demenz ihren Gegenstand beschreibt, ohne ihn für den allgemeinen soziologischen Diskurs anschlussfähig zu reformulieren.

Dieser Beitrag zum Themenheft „Soziales Erinnern: Körper, Praktiken und Konflikte“ der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie fragt nach Formen des Erinnerns, die auch unter den Bedingungen individueller Gedächtnisstörungen und Wissensverluste in sozialer Interaktion von Interaktionspartner:innen mit und ohne Demenz hervorgebracht werden. Es kommt – so die These des Beitrags – in sozialen Interaktionen mit Menschen mit Demenz zwar zum individuellen Wissensverlust, aber nicht zum allgemeinen Verlust von Sozialität. Individuelle Wissensverluste können in Interaktionen sozial kompensiert werden und mit der Progredienz einer Demenz verschieben sich die Formen gelebter Sozialität vom inhaltlichen Gespräch hin zu körperlich-affektiven Formen. Soziales Erinnern findet dabei im (zwischen-)körperlichen Vollzug von Praktiken als deren Wiederholung und durch konkrete Praktiken des Erinnerns statt. Empirisch werden dafür Situationen der Pflege untersucht, in denen sich Interaktionspartner:innen mit und ohne Demenz wechselseitig koordinieren, um zu erinnern. Dabei entstehen durchaus demenzbedingte Konflikte und Krisen, die jedoch auf unterschiedliche Arten ausgeglichen werden. Wie sich die Interaktionspartner:innen im Vollzug erinnern, ihre Praktiken und Handlungen koordinieren und als lokale Ressource zum sozialen Erinnern verfügbar machen, ist Gegenstand der nachfolgenden Analysen.

2 Sozialität, Gedächtnisformen und praktisches Erinnern: Perspektiven einer Soziologie der Demenz

In der Debatte über Gedächtnis und DemenzFootnote 3 werden von verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen Vorschläge formuliert, die je nach Erkenntnisinteresse Formen und Leistungen individueller oder sozialer Gedächtnisse betrachten. Als Formen individueller Gedächtnisse schlägt die Neuropsychologie Kurz- und Langzeitgedächtnis vor. Letzteres wird in ein deklaratives und ein non-deklaratives Gedächtnis unterteilt.Footnote 4 Das deklarative Gedächtnis wird wiederum in ein semantisches und ein episodisches Gedächtnis gegliedert (vgl. etwa Gruber 2018). Das episodische Gedächtnis enthält propositionales Wissen über die erlebte Vergangenheit: von der frühsten Kindheitserinnerung bis zur Erinnerung an die Tätigkeit vor einer Stunde. Es enthält also neben dem Wissen über erlebte konkrete Ereignisse und deren zeitliche Abfolge auch autobiografisches Wissen. Das semantische Gedächtnis speichert abstraktes, propositionales Wissen über die Welt. Es handelt sich dabei um ein Wissen über Objekte, wie z. B. soziale, biologische und physikalische Objekte. Das non-deklarative Gedächtnis speichert und prozessiert implizites Wissen, dessen Erlernen und Anwenden sich vor-bewusst und ohne Willensanstrengung vollziehen kann. Das perzeptuelle Repräsentationssystem, das vor-semantisches Wissen verarbeitet, und das prozedurale Gedächtnis, das Fertigkeiten und Verhaltensroutinen bereithält, bilden zusammen das non-deklarative Gedächtnis (vgl. Gruber 2018, S. 62–75). Aus einer neuropsychologischen Perspektive ist Demenz eine Form pathologischer Gedächtnisstörung, die die Leistungsfähigkeit eines Gedächtnisses durch ihre degenerative Progredienz verringert und bei den betroffenen Personen v. a. zum Verlust von propositionalem Wissen und kognitiven Fähigkeiten führt (vgl. Perry und Hodges 1996). Eine Demenz, wie die Alzheimer-Krankheit, schädigt das deklarative Gedächtnis in ihrer frühen und mittleren Phase und führt zum schrittweisen Verlust von propositionalem, explizitem Wissen über die Welt und die eigene Person. Zwar wird auch das non-deklarative Gedächtnis geschädigt, jedoch beginnt diese Schädigung erst in der mittleren und späten Phase (vgl. Jahn 2010, S. 348–350). Sozialtheoretisch reformuliert verlieren Menschen mit Demenz in der führen und mittleren Phase die kognitiven Fähigkeiten einer reflexiv-sprachlichen Selbst- und Fremdbeschreibung, die für sprachliches Handeln notwendig sind. Implizites und verkörpertes Wissen als formal-prozedurales Handlungswissen kann bei einer Demenz aber durchaus noch in der späten Phase erinnert werden (vgl. Meyer 2014). In sozialen Interaktionen handeln Menschen mit Demenz nicht allein, sondern sie handeln gemeinsam mit anderen Interaktionspartner:innen. Alle Interaktionspartner:innen mit und ohne Demenz bringen dabei ihre verschiedenen individuellen Fähigkeiten als lokale Ressourcen des Handelns ein. In solchen „Umgebungen mit diversen semiotischen Ressourcen“ (Goodwin 2011) kann gemeinsames Handeln also auch gelingen, wenn die Beeinträchtigungen einzelner Interaktionspartner:innen durch die Fähigkeiten anderer Interaktionspartner:innen und durch lokal vorhandene Objekte situativ kompensiert werden können. Dies macht z. B. Charles Goodwin (2004) deutlich, der zeigt, wie sich ein Interaktionspartner, der nicht mehr sprechen kann, durch seine lokale Umgebung dennoch als kompetenter Sprecher hervorbringt. Für einen soziologischen Blick auf Demenz und die damit verbundenen individuellen Gedächtnisstörungen bedeutet das, dass nicht nur das individuelle Gedächtnis und die individuellen kognitiven Fähigkeiten von Relevanz für die Hervorbringung sozialer Interaktionen sind, sondern auch die Art und Weise des praktischen Zusammenspiels unterschiedlicher Interaktionspartner:innen und lokal verfügbarer Ressourcen.

Methodologisch rücken damit vorhandene implizite Fertigkeiten als ein praktisches Können von Menschen mit Demenz in den analytischen Fokus, mit denen sie im situativen Zusammenspiel mit anderen Akteur:innen bestimmte Formen von Interaktionen hervorbringen können. Alltägliche und institutionelle Interaktionen zwischen Menschen mit und ohne Demenz werden damit zum Forschungsgegenstand einer Soziologie der Demenz, die die Bedingungen gelingender Interaktionen beschreiben kann. Einige empirische Studien dazu liegen bereits vor (vgl. etwa Plejert et al. 2017; Döttlinger 2018; Barth 2023). Interaktionen, die ausschließlich unter Menschen mit Demenz stattfinden, werden bislang kaum untersucht (vgl. als Ausnahmen Meier zu Verl 42,43,a, b).

2.1 Das Soziale individueller Gedächtnisse, soziale Interaktion und Interkorporalität

Leibgedächtnis (Fuchs 2000) und Körpergedächtnis (Dimbath et al. 2016) sind zwei Vorschläge, die versuchen, die Verwobenheit von Individuum und Kollektiv im Anschluss an Maurice Halbwachs’ Kollektivgedächtnis (1967) neu zu denken.Footnote 5 Diese Verwobenheit wird im Non-Deklarativen, Impliziten und Vor-Symbolischen lokalisiert und ermöglicht Selektionen ohne Bewusstsein. Die Arten und Weisen der Selektionen sind Teil eines inkorporierten Alltagswissens (Berger und Luckmann 1969), so dass dieses Wissen im Alltag nicht bzw. nur selten reflektiert wird, da eine Reflexion impliziten Wissens den alltäglichen Vollzug von Praktiken und Handlungen nachhaltig irritieren würde (vgl. etwa Garfinkel 1967).

Leib- und Körpergedächtnis sind als konzeptionelle Reformulierungen des non-deklarativen Gedächtnisses zu verstehen, die die Verwobenheit von Individuellem und Sozialen auf der Ebene des Non-deklarativen und Impliziten verorten. Für die soziologische Gedächtnis- und Demenzforschung sind die beiden Konzepte insofern anschlussfähig, als dass sie vorhandene und abhandene Fähigkeiten von Menschen mit Demenz nicht ausschließlich als individuell, sondern auch als sozial verstehen. Individuelle Gedächtnisleistungen einzelner Akteur:innen sind Teil sichtbarer Fertigkeiten, Praktiken und Handlungen, die wiederum lokale Ressourcen sind, um soziale Interaktionen zu initiieren, fortzuführen und sich in verschiedenen Interaktionsordnungen (Goffman 1983) materialisieren. Beide Gedächtniskonzepte machen damit das Implizite und Verkörperte des Sozialen bzw. die inkarnierte Sozialität (Kastl 2016) des menschlichen Körpers und seiner Gedächtnisse beobachtbar.

Christian Meyer (2014) unterscheidet vier Dimensionen sozialer Interaktion, die gleichermaßen das Symbolische und das Verkörperte des Sozialen berücksichtigen, um Interaktionen mit Menschen mit Demenz zu untersuchen. Die erste Dimension beschreibt die semantische Kontinuierung von Interaktionen, indem Redebeiträge innerhalb eines Gesprächs inhaltlich aufeinander bezogen werden. In ihren Redebeiträgen können Sprecher:innen dabei auch Bezug auf unter den Gesprächsteilnehmer:innen als geteilt unterstelltes Wissen nehmen. Dieser Bezug auf Wissen bildet die zweite Dimension. Es kann sich dabei um abstraktes Wissen über die Welt oder auch episodisches Wissen über miterlebte Ereignisse oder Biografien handeln. Die formal-prozedurale Kontinuierung von Interaktionen bezieht als dritte Dimensionen die Fertigkeiten von Interaktionspartner:innen mit ein, ihre Beiträge an den zeitlich passenden interaktionalen Positionen zu artikulieren. Es handelt sich also um ein prozedurales Wissen über die verkörperte Rhythmik sozialer Interkationen. Z. B. folgt auf eine Frage erwartungsgemäß eine Antwort. Das Wissen über das Frage-Antwort Schema und weitere prozedurale Schemata hält Interaktionen formal am Laufen, auch wenn die Antworten evtl. inhaltlich unverständlich bleiben. Die vierte Dimension beschreibt die körperlich-affektive Ko-Responsivität von Interaktionspartner:innen, die sich mit ihren Körpern einbringen und damit auf eine basale Art und Weise Kopräsenz hervorbringen.

Diese Dimensionen werden jedoch durch die degenerative Progredienz einer Alzheimer-Krankheit nachhaltig gestört. D. h., Interaktionspartner:innen mit Demenz verlieren relativ früh die Fähigkeit semantische passende Redebeiträge zu artikulieren. Sie verlieren auch relativ früh die Fähigkeit in ihren Redebeiträgen auf als geteilt unterstelltes Wissen über die jüngere Vergangenheit Bezug zu nehmen. Diese beiden expliziten Dimensionen der Interaktion werden also bereits in einer frühen Phase prekär. Jenseits von Gesprächsinhalten sind soziale Interaktionen mit Menschen mit Demenz aber dennoch auch in der mittleren und späten Phase möglich. Über das implizite und prozedurale Wissen sind Menschen mit Demenz noch in der Lage, an Interaktionen teilzunehmen, um z. B. an gemeinsamen Pflegehandlungen mitwirken. Ihr (zwischen-)körperliches Wissen über die Hervorbringung basaler Formen der Ko-Responsivität ermöglicht es ihnen auch, sich als kopräsente Interaktionspartner:innen zu entwerfen. Die basale Körperlichkeit des Sozialen zeigt sich dabei als besonders stabil und ermöglicht auch noch in der späten Phase einer Alzheimer-Krankheit verschiedene Formen sozialer Interaktion. Dabei sind es nicht nur die Fertigkeiten, die sich auf den einzelnen individuellen Körper beziehen, sondern auch jene Fertigkeiten, die sich aus dem situativen Zusammenschluss mehrerer Körper zu einem Wir-Körper ergeben (vgl. Meier zu Verl 2024a). Diese Möglichkeit des menschlichen Körpers, sich mit anderen menschlichen Körpern zusammenzuschließen wird auch als Interkorporalität (Merleau-Ponty 1962) bezeichnet, die intersubjektive Verständigung jenseits von Sprache über die Reziprozität des Berührens und Berührt-werdens ermöglicht (vgl. Meyer et al. 2017). Demenzbedingte Störungen der sprachlichen Verständigung führen aber dennoch zu interaktionalen Krisen von Gesprächen, die durch basale Formen der Interkorporalität nur bedingt kompensiert werden können. Verschiedene Formen von Krisen sind die Folge, wenn sich Interaktionspartner:innen ohne Demenz v. a. an ihren normativ-alltäglichen und institutionellen Erwartungen orientieren (vgl. etwa Kotsch und Hitzler 2013; Radvanszky 2016; Lindemann und Barth 2021).

2.2 Der Vollzug von Praktiken als Erinnern und Praktiken des Erinnerns

Demenz und die Untersuchung des Vergessens von explizitem, propositionalem Wissen betont v. a. den Verlust von Handlungsfähigkeit. Das Erinnern von implizitem Wissen wird hingegen kaum erforscht. Eine solche Forschung kann zwei erinnerungstheoretische Positionen einnehmen, um praktisches Erinnern in Interaktionen empirisch zu beobachten.

Erstens kann Erinnern als Bedingung für den Vollzug von Praktiken an sich verstanden werden. Dieses Erinnern schließt damit direkt an den praxistheoretischen Begriff der Routine (etwa Giddens 1988) und Wiederholung (Schäfer 2016) an. Das implizite Wissen, das Know-how der Praxis wird mit den von den Akteur:innen durchgeführten Wiederholungen als „Erinnerungsspuren“ (Giddens 1988, S. 69) oder als praktische Vertrautheiten in die Körper der Akteur:innen eingeschrieben. Diese Erinnerungsspuren oder Vertrautheiten ermöglichen die Fortführung von Praktiken über Raum und Zeit hinweg. Der praxistheoretische Begriff der Wiederholung betont dabei, dass jede Wiederholung jedoch einem Paradox unterliegt: Sie erzeugt sowohl Identität als auch Differenz.Footnote 6 D. h., mit ihrer Wiederholung wird eine Praktik von ihrem raumzeitlichen Kontext gelöst und in einen neuen Kontext gestellt, so dass sowohl eine Stabilisierung als auch eine Transformation der Praxis und ihrer Bedeutung vollzogen wird (vgl. Schäfer 2016, S. 142). Die normative Dimension der Wiederholung von Praktiken kann z. B. in Interaktionen mit Menschen mit Demenz besonders deutlich beobachtet werden, wenn Wiederholungen von bestimmten Praktiken durch Interaktionspartner:innen ohne Demenz als für den situativen Kontext unangemessen interpretiert werden (vgl. etwa Honer 2011, S. 131–139).

Zweitens kann diesem allgemeinen praxistheoretischen Verständnis, das Erinnern als Eigenschaft der Wiederholung von Praktiken begreift, ein spezifischeres Konzept von Erinnern zur Seite gestellt werden. Als thematische Gegenstände von Interaktionen müssen auch Erinnerungen praktisch hervorgebracht werden. Erinnerung ist dann nicht mehr nur eine (implizite) Ressource zur Wiederholung einer Praktik, sondern zugleich auch (explizites) Thema einer Praktik des Erinnerns. Mit dem Konzept rekonstruktiver Gattungen (Bergmann und Luckmann 1995) werden Praktiken des Erinnerns beschrieben, die es Akteur:innen ermöglichen ihre subjektiven Erinnerungen auf eine Art und Weise zu thematisieren, die auch für andere Akteur:innen kommunikativ anschlussfähig ist. D. h., nicht nur was inhaltlich als Erinnerung erinnert wird, ist sozial, sondern auch, wie etwas praktisch erinnert wird. In Alltagsgesprächen wie auch in institutionellen Gesprächen (z. B. dem Feuerwehrnotruf) werden sprachliche Konventionen genutzt, um von der Vergangenheit als Vergangenheit zu sprechen. Aber nicht nur die Sprachlichkeit, sondern auch die Körperlichkeit des Vergangenen kann durch Akteur:innen rekonstruiert werden, indem sie das Vergangene nicht mehr (ausschließlich) sprachlich, sondern körperlich-reinszenierend thematisieren (vgl. etwa Bergmann 2000; Sidnell 2006; Meier zu Verl 2016). Das vergangene Performative einer Praxis kann somit auch zum Gegenstand einer Rekonstruktion gemacht werden, ohne für deren Rekonstruktion die Modalitäten der Kommunikation wechseln zu müssen. Körperliche Reinszenierungen gehören, wie sprachliche Formen der Vergangenheitsrekonstruktion, zum Ensemble der rekonstruktiven Gattung. Als Praktik des Erinnerns kann die Reinszenierung jedoch die subtile, implizite und verkörperte Dimension des Sozialen unmittelbarer vermitteln, als es sprachliche Rekonstruktionen können. Dabei werden die Grenzen zwischen einer (expliziten) Reinszenierung und einer (impliziten) Wiederholung von Praktiken jedoch fließend, wie z. B. in der Praxis des Tanzens (s. 4.2).

3 Daten und Methode

Diese Studie über Demenz und Erinnern im praktischen Vollzug basiert auf meiner ethnografischen Feldforschung in verschiedenen Pflegeeinrichtungen, in denen ich als teilnehmender Beobachter an der Praxis professioneller Demenzpflege teilgenommen habe.Footnote 7 Ich habe Pfleger:innen bei ihrer Arbeit in der Rolle eines Pflegepraktikanten über einen Zeitraum von fünf Monaten unterstützt, einfache Arbeiten nach kurzer Zeit selbstständig ausgeführt und bei komplexeren Tätigkeiten den Pfleger:innen assistiert. Auf diese Weise konnte ich mir ein praktisches Wissen über institutionelle Interaktionen mit Menschen mit Demenz aneignen, das ich v. a. als analytische Ressource zur Interpretation meiner empirischen Materialen reflexiv nutze (vgl. Chatwin et al. 2022; Meier zu Verl 2024b). Während meiner Feldforschung (2017–18) habe ich über 30 h an Interaktionen zwischen Pfleger:innen, Bewohner:innen mit Demenz (Menschen mit der Diagnose Alzheimer-Krankheit) und deren Verwandten gefilmt, die nachfolgend auszugsweise in Form von Videotranskripten präsentiert werden.Footnote 8 Daneben habe ich mehrere hundert Seiten Beobachtungen protokolliert und Dokumente des Feldes gesammelt, die jedoch nicht Teil des in diesem Text analysierten Materials sind. Mit Hilfe von einzelnen Videoanalysen der gefilmten Interaktionen zwischen Menschen mit und ohne Demenz können grundlegende Dimensionen des Körpergedächtnisses und der sozialen Praxis des Erinnerns im performativen Vollzug beobachtbar gemacht werden. Damit kann sowohl die (zwischen-)körperliche als auch die akustisch-sprachliche Ebene sozialer Interaktionen nachvollziehbar analysiert und interpretiert werden (vgl. Meyer und Meier zu Verl 2014). Für die Interaktionsanalyse wurden vier Interaktionen ausgewählt, in denen sich Erinnern als Teil der Pflegepraxis vollzieht und teilweise durch die Akteur:innen selbst explizit gemacht wird. Im Diskurs der Demenzpflege wird Erinnerung aktuell v. a. als explizite Biografiearbeit diskutiert (vgl. etwa Wickel 2011; Berner 2019), die implizite, praktische und (zwischen-)körperliche Dimension des Erinnerns bleibt dabei unberücksichtigt. Die aus den nachfolgenden Interaktionsanalysen hervorgehenden empirischen Erkenntnisse machen deutlich, dass individuelle Wissensverluste in Interaktionen mit Menschen mit Demenz sozial kompensiert werden können und dass sich mit der Progredienz der Demenz die Formen des Erinnerns vom Inhaltlichen hin zum Verkörperten verschieben.

4 Praktisches Erinnern und Praktiken des Erinnerns in Interaktionen mit Menschen mit Demenz

Erinnern hat also seinen praktischen Vollzug; es ist nicht nur innerliche Aktivität, sondern auch äußerliche, körperlich fundierte soziale Aktivität, die auf eine bestimmte erkennbare Art und Weise öffentlich gemacht wird. In sozialen Interaktionen zeigen wir uns wechselseitig an, ob und wie wir etwas erinnern. Im Alltag nutzen wir also soziale Praktiken des Erinnerns und kommunikative Gattungen der Rekonstruktion, um Vergangenheiten sozial hervorzubringen und zu bearbeiten (vgl. Bergmann und Luckmann 1995; Knoblauch 1999). Das Wissen über die soziale Praxis des Erinnerns ist Teil impliziter, praktischer und prä-reflexiver Wissensbestände. Dies hat u. a. zur Folge, dass Menschen mit Demenz zwar ihr inhaltliches Wissen über die Vergangenheit verlieren, sich aber noch lange an das prozedurale Wissen des Erinnerns erinnern können. Sie können also weiterhin Praktiken des Erinnerns durchführen, jedoch ohne Inhalte zu benennen.

Die nachfolgenden Ausschnitte aus vier Interaktionen zeigen, wie im institutionellen Kontext der Demenzpflege von den Interaktionspartner:innen mit und ohne Demenz praktisches Erinnern vollzogen wird und wie dabei Vergangenheiten rekonstruiert, Wissensverluste situativ kompensiert und mit fortschreitender Demenz v. a. (zwischen-)körperliche Formen des Sozialen genutzt werden, um im Hier und Jetzt intersubjektive Verständigung zu ermöglichen.

4.1 Demenz und Erinnern im Vollzug der Pflege

Eine Demenz führt zum Verlust von Wissen und kognitiven Fähigkeiten und schränkt damit die individuelle Handlungsfähigkeit von Menschen mit Demenz ein. Die Koordination und Durchführung von alltäglichen Aktivitäten, wie etwa Kochen, Einkaufen und die Pflege des eigenen Körpers fallen Menschen mit Demenz daher zunehmend schwer. Interaktionssoziologisch relevant ist, dass auch bei einer fortgeschrittenen Demenz einzelne inkorporierte Praktiken durchaus noch selbstständig ausgeführt werden können, aber deren zeitliche Koordination misslingt. D. h., einzelne Praktiken gelingen, während die Planung und Durchführung z. B. von Teilaufgaben einer Aktivität scheitern (vgl. etwa Hydén 2014). Es bedarf also einer Koordination durch andere, um bestimmte Praktiken zum passenden Zeitpunkt wiederholt auszuführen. Damit werden vormals individuelle Aktivitäten zu sozial organisierten Aktivitäten, in deren Verlauf die Frage „what to do next?“ beantwortet werden muss. Das erste empirische Beispiel zeigt die Bewohnerin Anne, die mit der Unterstützung des Pflegers Bert ihre morgendliche Körperpflege durchführt. Anne ist laut Pflegepersonal in der mittleren Phase ihrer Alzheimer Krankheit. Sie ist häufig zeitlich und räumlich desorientiert, kann aber mit pflegerischer Unterstützung einige Aktivitäten noch weitgehend selbstständig durchführen.

Abbildung 1 zeigt Anne und Bert, wie sie gemeinsam vom Bett aufstehen, um anschließend ins Badezimmer zu gehen. Das Aufstehen vom Bett ist ein notwendiger Teilschritt, um anschließend im Badezimmer die morgendliche Pflege durchzuführen. Bert koordiniert die einzelnen Teilschritte der Pflege nicht nur sprachlich, sondern auch zwischenkörperlich.

Abb. 1
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Transkript 1: Erinnern durch den gemeinsamen Vollzug einer Praktik (8 Sek.)

Nachdem der Pfleger Bert die Bewohnerin Anne gegen 8:30 Uhr weckt (vgl. Meier zu Verl 2023, S. 176–181), erklärt er ihr den Ablauf der morgendlichen Pflege in drei Schritten (ins Bad gehen, sich waschen und anziehen), um anschließend im Speisesaal zu frühstücken. Die drei Schritte und die mit ihnen implizierten Teilschritte werden von Bert nicht erläutert. Anne setzt sich auf ihr Bett, sitzt dann da und schaut teilnahmslos vor sich (vgl. Rasmussen et al. 2019, S. 269–274). Bert senkt zunächst das Kopfende des Bettes. Anne unternimmt währenddessen keinen eigenen Versuch aufzustehen, auch wenn sie sich zuvor selbst im Bett aufrichtete. Bert fordert sie auch nicht sprachlich auf, von selbst aufzustehen, sondern legt ihre Bettdecke zur Seite (Abb. 1a) und setzt sich dann neben sie aufs Bett (Abb. 1b). Der implizite Teilschritt Vom-Bett-aufstehen, um ins Bad zu gehen, wird von Anne nicht selbstständig durchgeführt. Stattdessen richtet Bert zunächst seinen Körper an Annes Körper aus, um anschließend zusammen aufzustehen und ins Bad zu gehen. Hierfür nimmt er ihre linke Hand und umgreift mit seinem rechten Arm ihren Rücken (Abb. 1c, Markierungen). Beide Körper bilden dadurch ein zwischenkörperliches Wir (Meyer und v. Wedelstaedt 2017). Mit dem lauten Zählen von Bert (Z. 1) beginnen die beiden Oberkörper sich synchron vorwärts und rückwärts zu bewegen und etablieren mit ihren synchronen Bewegungen einen gemeinsamen Rhythmus (Abb. 1d und 1e). Durch diese Synchronisierung und Rhythmisierung gelingt den beiden bei der laut ausgesprochenen „Drei“ (Z. 1) ein gemeinsames Aufstehen (Abb. 1f).

Die Pflege des Körpers besteht aus unterschiedlichen Praktiken, deren spezifische Abfolge für das Gelingen der Pflege mit entscheidend sind. Das individuelle Wissen über längere Abfolgen von Praktiken kann mit der neurodegenerativen Progredienz einer Demenz verloren gehen (vgl. Hydén 2023, S. 6). Demenzbedingt werden dann aus individuellen Aktivitäten, wie die Pflege des eigenen Körpers, (wieder) sozial koordinierte Aktivitäten (vgl. etwa Majlesi und Ekström 2016; Meier zu Verl 2020; Reichertz et al. 2020). Die Frage „what to do next?“ bleibt im empirischen Beispiel implizit und wird weder von der Bewohnerin noch vom Pfleger explizit artikuliert. Die zwischenkörperliche Koordination des Aufstehens stellt aber eine prä-reflexive und praktische Beantwortung dieser Frage dar, ohne sich reflexiv-sprachlich darüber verständigen zu müssen. Erinnern vollzieht sich in diesem Beispiel doppelt: Mit dem gemeinsamen Aufstehen wird Anne implizit an den nächsten Teilschritt der Pflege erinnert und mit dem lauten Zählen und Rhythmisieren der Körperbewegungen wird die Performativität der kulturellen Praktik des Zählens bis drei (erneut) genutzt, um eine gemeinsame Aktivität zu initiieren.

4.2 Demenz und Erinnern in Form von Tanzbewegungen

Erinnern hat eine (zwischen-)körperliche und rhythmische Dimension, die sich auch in der wiederholenden Praxis des Tanzens zeigt. Tanzen wird daher als eine Form von Erinnerungsarbeit beschrieben (Brinkmann 2012). Tänzerische Bewegungen und ihre sequenziellen Abfolgen werden mit jedem Tanz als implizites Wissen in das non-deklarative Gedächtnis der Tänzer:innen eingeschrieben. Auch Menschen mit Demenz können daher durchaus noch in der späten Phase der Demenz tanzen. Die professionelle Demenzpflege nutzt v. a. die affektiv-körperliche und vergemeinschaftende Dimension des Tanzens, um das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz zu steigern (vgl. Herron et al. 2020). Im nächsten empirischen Beispiel sind die Bewohnerin Caro und der Pfleger Bert zu sehen, die miteinander tanzen. Caro ist laut Pflegepersonal in der späten Phase ihrer Alzheimer-Demenz. Sie hat einen ausgeprägten Bewegungsdrang, muss aber aufgrund der eigenen Gebrechlichkeit häufig im Rollstuhl sitzen. Sie wird außerdem als aphasisch, enthemmt und unruhig beschrieben.

Abbildung 2 zeigt Caro und Bert, wie sie miteinander tanzen, während sie sich zufällig im Speisesaal begegnen. Bert ist eigentlich auf dem Weg zum nächsten Pflegeeinsatz. Die Tanzbewegungen von Caro und Bert gelingen, weil beide sich u. a. an ihr verkörpertes Tanzbewegungswissen erinnern und sowohl Bein- als auch Armbewegungen rhythmisch-synchron und zwischenkörperlich miteinander koordinieren können.

Abb. 2
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Transkript 2: Tanzen als Erinnerungsarbeit (7 Sek.)

Caro steht von ihrem Rollstuhl auf und geht mit Bert, der sie stützt, ein paar Schritte durch den Speisesaal. Bert führt Caro vor sich und beide bleiben voreinander stehen. Anschließend nimmt Bert beide Hände von Caro (Abb. 2a). Er führt diese nach oben und beide machen zugleich einen Schritt mit ihrem rechten Fuß aufeinander zu (Abb. 2b). Begleitend artikuliert Caro, die aphasisch ist, eine Äußerung des Erstaunens (Z. 1) und blickt dabei in Berts Gesicht (Abb. 2b). Anschließend blickt sie in Richtung der gestreckten Arme (Abb. 2c) und artikuliert eine weitere Äußerung des Erstaunens, die jedoch deutlich lauter ist (Z. 2). Mit etwas Verzögerung stimmt Bert dem Erstaunen zu, indem er Caros Oh-Laut wiederholt (Z. 3). Beide gehen wieder einen kleinen Schritt auseinander (Abb. 2c), senken ihre Arme und gehen wieder leicht seitlich mit dem rechten Fuß aufeinander zu (Abb. 2d). Auch ihre Arme machen eine rhythmische Bewegung, indem Bert seinen linken Arm zu sich zieht, während sein rechter Arm ausgestreckt bleibt (Abb. 2d). Caro beginnt erst zu lächeln (Abb. 2d), lacht anschließend laut (Z. 4) und dreht dabei ihren Oberkörper immer weiter nach rechts (Abb. 2e und 2f). Auch Bert lacht (Z. 5) und geht diese Bewegung mit, indem er sich etwas nach links bewegt (Abb. 2f).

Tanzen als sich vollziehende Praxis sozialen Erinnerns, die v. a. durch implizite Wissensbestände des non-deklarativen Gedächtnisses mitgestaltet wird, kann auch unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen Alzheimer-Krankheit soziale Interaktion und praktische Vergemeinschaftung ermöglichen. Diese basale Form der Vergemeinschaftung ist in ihrer rhythmischen und zwischenkörperlichen Bewegungsabfolge aber dennoch überaus komplex. Prozesse der Vergemeinschaftung durch Bewegungserinnern haben dabei eine körperlich-emotionale Dimension. Die Körperlichkeit und Emotionalität des Tanzens affiziert die Tänzer:innen, ohne Leistungen des deklarativen oder auch episodischen Gedächtnisses zu beanspruchen. Dabei wird intersubjektives Verstehen mit und durch die zwischenkörperlich erinnerten und wiederholten Tanzbewegungen möglich. Dieses Verstehen bleibt jedoch als ein zwischenkörperliches Verstehen auf den situativen Vollzug der Tanzpraxis selbst beschränkt.

4.3 Demenz und reflexive Körperwahrnehmung und -erinnerung

Die Körper der Akteur:innen nehmen zwar sichtbar, aber für die Akteur:innen selbst oft unbemerkt am Vollzug der Praxis teil. Krisen sind jene Momente der Praxis, in denen die Implizitheit des Körperlichen expliziert wird. Weil körperliche Fertigkeiten und Praktiken fehlen, oder unvollständig sind, tritt eine Störung der Praxis für die Akteur:innen selbst wahrnehmbar hervor. Auch erworbene körperliche Fertigkeiten sind Teil eines individuellen Gedächtnisses, das u. a. Wissen über das eigene Körperschema und die eigenen Fertigkeiten erinnern kann. Dabei wird dieses Wissen als relativ stabil, aber nicht unveränderlich betrachtet. Es wird nach seinem Erlernen „mit-bewusst“ und kann prinzipiell auch durch die Akteur:innen selbst thematisiert werden (Kastl 2016, S. 90–91). Eine fortschreitende Alzheimer-Krankheit kann dazu führen, dass altersbedingte körperliche Veränderungen und das eigene (fehleingeschätzte) Alter nicht mehr in Einklang miteinander gebracht und in ihren verkörperten Konsequenzen nicht mehr angemessen reflektiert werden können (vgl. Mollenhauer 2023).

Im dritten empirischen Beispiel sitzen die Bewohnerin Doro und ihre Betreuerin Ella zusammen im Speisesaal. Ella aktiviert Doro durch unterschiedliche Praktiken der Demenzbetreuung (vgl. Meier zu Verl 2023, S. 187–191). Doro ist laut Pflegepersonal in der mittleren Phase ihrer Alzheimer-Demenz, kann an Gesprächen inhaltlich teilnehmen und nimmt auch gerne an gemeinschaftlichen Veranstaltungen teil, ist aber häufig zeitlich und räumlich desorientiert. Abbildung 3 zeigt, wie Ella und Doro zusammen singen und mit ihrem gemeinsamen Singen eine temporale Wir-Melodie hervorbringen. Vor dem gemeinsamen Singen hat sich Doro biografisch noch als junge Abiturientin entworfen (vgl. Meier zu Verl 2023, S. 189), was nach dem Singen implizit relevant wird. Zum Ende des Singens setzen sich die beiden Stimmen hörbar voneinander ab und treten deutlich als zwei einzelne Stimmen hervor. Mit dem Verschwinden der Wir-Melodie reflektieren die beiden Sängerinnen anschließend die körperlichen Bedingungen ihre Gesangskrise.

Abb. 3
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Transkript 3: Wahrnehmung von und Erinnerung an Körperlichkeit (16 Sek.)

Ella und Doro singen gemeinsam ein älteres ethnisierendes Lied („Lustig ist das Zigeunerleben“). Zum Ende der Strophe singen sie zwar synchron, aber in unterschiedlichen Stimmlagen (Z. 1, 2). Während Ella in der Stimmlage Alt singt, singt Doro altersbedingt weit unter dieser Stimmlage (vgl. Hartwig 2023, S. 162). Ihre Stimme ist kratzig und leise. Anschließend singen die beiden Sängerinnen nicht mehr synchron und es kommt zu Verschiebungen innerhalb des Gesangs (Z. 3–6), bei denen auch Ellas Stimme leiser wird und die vorherige Stimmlage nicht mehr gehalten werden kann (Z. 3, 5). Beide treten damit als einzelne Sängerinnen hervor. Ella beugt sich, während ihre Stimme leiser wird, zu Doro herüber (Abb. 3a), damit sie von ihrer Mitsängerin noch gehört wird und ein synchrones Singen weiterhin möglich wäre. Beide hören mit dem Ende der Strophe auf zu singen. Die anderen Strophen singen sie nicht mehr, sondern Ella beginnt damit, ihren Gesang reflexiv zu kommentieren. Sie sagt zu ihrer Mitsängerin Doro, dass sie „nicht so hoch“ (Z. 7) singen kann. Währenddessen macht sie eine Geste mit ihrer linken Hand, die die problematische Tonhöhenbewegung körperlich-performativ visualisiert (Abb. 3b). Dabei schaut Doro in Richtung von Ella. Anschließend spricht Doro von ihrer aktuellen Stimme, die sich in ihrer Wahrnehmung von ihrer erinnerten Stimme unterscheidet. Sie kann sich selbst und ihrer Mitsängerin nicht erklären, warum sie „ne andere stimme gekriegt“ (Z. 8) hat. Diese körperliche Veränderung ist Doro unerklärlich, die sich vor dem gemeinsamen Singen noch als junge Abiturientin entworfen hat. Ella bietet ihr daran anschließend eine Erklärung an („°°h gut (.) s_kann passieren mal.“, Z. 9), die einen möglichen Konflikt entschärft, den eine subjektiv-unerklärliche Wahrnehmung körperlicher Veränderung mit sich bringen kann. Sie veralltäglicht den von Ella wahrgenommenen und thematisierten Unterschied einer erwarteten bzw. erinnerten und aktuell hörbaren Stimme.

Der Vollzug des Singens als eine erinnernde und sich wiederholende Praxis gelingt den beiden Sängerinnen. Die demenzbedingten Einschränkungen des episodischen Gedächtnisses haben jedoch bestimmte Konsequenzen für die individuelle Wahrnehmung und reflexive Thematisierung der eigenen Körperlichkeit. Körperliche Veränderungen können zwar durch Doro wahrgenommen und deren Wahrnehmung thematisiert werden, aber durch den Verlust von biografischem Wissen werden diese subjektiven Veränderungen zugleich unerklärlich und müssen daher v. a. intersubjektiv erklärbar gemacht werden. Dabei besteht die Gefahr, dass die angebotenen, sozial hervorgebrachten Erklärungen nicht durch subjektive Erfahrungen der eigenen Leiblichkeit nachvollzogen werden können. Teile des eigenen Leibs und deren Leistungen werden also in bestimmten Phasen der Alzheimer-Krankheit fremd bzw. von anderen Teilen als fremd wahrgenommen. Der Leib wird damit teilweise und temporär zum fremden unverstandenen Körper. Die angebotene Erklärung von Ella ist dementsprechend allgemein gehalten und deutungsoffen, so dass sie auch für Doro Sinn ergeben und den thematisierten wahrgenommenen Unterschied erklärbar machen könnte. Aber auch wenn diese Erklärung für Doro situativ funktioniert, kann sie dieses neue episodische Wissen demenzbedingt nicht lange präsent halten und erneut aktivieren, so dass in nachfolgenden Situationen diese und ähnliche individuelle Probleme erneut entstehen und wieder sozial erklärbar gemacht werden müssen.

4.4 Demenz, Bewegungserinnern und verkörperte Reflexivität

Verkörpertes Bewegungswissen kann nicht nur durch erinnernde Bewegungen (wiederholt) aktiviert werden, sondern es kann auch durch die Akteur:innen selbst – wie im vorherigen Beispiel – sprachlich reflektiert und beschrieben werden. Es wird angenommen, dass mit dem Verlust des deklarativen Gedächtnisses unter den Bedingungen einer fortschreitenden Alzheimer-Krankheit reflexive Beschreibungsleistungen nicht mehr möglich sind. Diese Annahme misst dem verkörperten Situationsverständnis von Menschen mit Demenz jedoch wenig Relevanz bei. Anhand des vierten und letzten empirischen Beispiels kann beobachtet werden, wie sich der Bewohner Gerd durch die sprachlichen und gestischen Handlungen seiner Betreuerin Fina auf seine eigenen Handlungen körperlich-reflexiv beziehen kann. Laut Pflegepersonal ist Gerd in der mittleren Phase seiner Alzheimer-Krankheit, d. h. er ist teilweise aphasisch sowie häufig zeitlich und räumlich desorientiert.

Abbildung 4 zeigt, wie die anwesenden Bewohner:innen zusammen mit den Betreuerinnen Fina und Hera ein Ballspiel spielen. Dieses Ballspiel soll die Bewohner:innen individuell-körperlich trainieren und zugleich als Gruppenaktivität temporär vergemeinschaften. Diese beiden Aufgaben motivieren auch die Handlungen der Betreuerin Fina, die den Ball zum Beginn des Transkripts an Gerd übergibt, der anschließend unter ihrer Anleitung versucht, den Ball in den vor sich stehenden Korb zu werfen.

Abb. 4
figure 4

Transkript 4: Bewegungserinnern und die verkörperte Reflexivität von Bewegungen (6 Sek.)

Die Betreuerin Fina fordert Gerd auf, an einer sportlichen Aktivierungsübung teilzunehmen, die die Beweglichkeit der Bewohner:innen trainieren soll. Das Training selbst kann als eine sich wiederholende Praxis beschrieben werden, die die Körper der Teilnehmer:innen an bereits bekannte und inkorporierte Bewegungsabläufe erinnern soll. Vor Gerd waren bereits einige andere Mitbewohner:innen an der Reihe, einen Ball in den vor ihnen liegenden Korb zu werfen. Fina fordert dabei jede einzelne Bewohner:in auf, den Ball in den Korb zu werfen. Einige Bewohner:innen haben dabei krankheitsbedingte Bewegungs- und Koordinationsprobleme und werfen den Ball erst nach mehreren Anläufen in den Korb. Gerd ist als nächster an der Reihe, und auch er wird von Fina mit seinem Nachnamen angesprochen, wie es in der Pflegeeinrichtung üblich ist (Z. 1). Dabei streckt Fina Gerd den Ball entgegen und beide konzentrieren sich zunächst auf die Ballübergabe (Abb. 4a). Anschließend hebt Fina den Korb an und stellt ihn danach wieder auf den Tisch (Abb. 4b und 4c), um ihre vorherige Anweisung und das evtl. für Gerd uneindeutige „auch da reinschmeißen“ (Z. 1) visuell zu verdeutlichen. Gerd beginnt anschließend, seinen Körper und v. a. seinen Kopf, dessen Blickrichtung, seine Arme und den Ball in seiner Hand für einen Ballwurf zu koordinieren (Abb. 4d). Währenddessen beobachtet ihn Fina, die dessen leichte Armbewegung nach oben kommentiert (Z. 3), sich dann aber selbst dabei unterbricht. Anschließend setzt Gerd zum Wurf an, blickt dabei aber zur Decke und nicht zum Korb (Abb. 4e). Fina und die anderen Zuschauer:innen erwarten mit dieser Ausrichtung von Gerds Blick einen Wurf, der weit über den vor ihm stehenden Korb hinausgeht. Fina thematisiert diese Erwartung (Z. 4) und blickt dabei auch in Richtung der Zimmerdecke (Abb. 4f). Gerds Versuch zu werfen und die sprachliche und performative Kommentierung durch Fina bringt nicht nur die beiden, sondern auch einige andere anwesende Bewohner:innen zum Lachen (Abb. 4g, Z. 4–7). Aber es Lachen nicht alle Anwesenden. Währenddessen zeigt die Bewohnerin Inge mit ihrem rechten Zeigefinger in die Luft und hält damit die projizierte Flugbahn des Balls gestisch transformiert für die Dauer ihrer Geste visuell präsent (Abb. 4h).

Die Interaktionsteilnehmer:innen orientieren und koordinieren sich teilweise anhand einer verkörperten Reflexivität ihres erinnerten Bewegungswissens und der situativ sichtbaren Bewegungen von Gerd. Durch das Anleiten und Kommentieren der Betreuerin Fina wird Gerds Wurfversuch v. a. in seinem Vollzug betrachtet und auch bewertet. Dabei ist Gerd durch seine Alzheimer-Krankheit körperlich-räumlich desorientiert und kann seinen Körper nicht passend für die Wurfbewegung ausrichten. Eine praktisch-erinnernde Wiederholung passender Bewegungsabläufe ist also zunächst nicht möglich. Gerd kann sich aber anhand der Reaktionen der anwesenden Interaktionspartner:innen seinem eigenen Wurfversuch wiederum körperlich zuwenden, indem er ihn unterbricht und sich von der vergemeinschaftenden Aktivität des Lachens affizieren lässt. Die wechselseitige visuell-körperlich Orientierung der Interaktionspartner:innen ermöglicht ihnen ein temporäres intersubjektives Verstehen, wie es z. B. durch Inges Geste sichtbar wird, ohne sich im Detail reflexiv-sprachlich verständigen zu müssen. Demenzbedingt kann auch implizites Wissen, also das praktische Können beeinträchtigt und gestört werden. Diese wahrnehmbare Störung kann, auch wenn sie nicht explizit-sprachlich thematisiert wird, dennoch sozial und v. a. körperlich-reflexiv, gestisch und affektiv durch die Interaktionsteilnehmer:innen bearbeitet werden.

5 Fazit

Mit der degenerativen Progredienz einer Demenz werden individuelle Gedächtnisleistungen und kognitive Fähigkeiten prekär und die betroffenen Personen verlieren ihr Wissen über die Welt und sich selbst. Dieses Wissen ist für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben mit-relevant. In sozialen Interaktionen kann dieser Verlust von Wissen jedoch durch lokal verfügbare Ressourcen temporär und bis zu einem gewissen Grad situativ ausgeglichen werden. Zu diesen Ressourcen zählen nicht nur materielle Gegenstände, sondern auch die anwesenden Interaktionspartner:innen sowie ihre Praktiken und Handlungen. In den empirischen Untersuchungen wurden Formen von Sozialität beobachtbar, die von expliziten, sprachlich-reflexiven Formen des Erinnerns im Gespräch bis hin zu basalen, körperlich-affektiven Formen des Erinnerns durch gemeinsame Bewegung (wie etwa beim Singen und Tanzen) reichen. Damit konnte v. a. die soziale Dimension von Gedächtnis und Kognition beobachtet werden. Beides wird in Interaktionen situativ, verteilt und wechselseitig durch die Interaktionspartner:innen selbst hervorgebracht. Eine soziologische Demenzforschung kann also empirisch beschreiben, wie individuelle Wissensverluste in Interaktionen sozial kompensiert werden. Mit dieser Kompensation findet zugleich auch eine relevante Verschiebung statt: Vormals individuelle Aktivitäten, wie etwa die Pflege des eigenen Körpers, werden wieder zu sozial organisierten Aktivitäten. Sozialtheoretisch werden mit dieser Verschiebung Formen gelebter Sozialität sichtbar, mit denen mögliche Interaktionskrisen unproblematisch werden (vgl. Meyer 2016), aber zugleich Individualitätskrisen entstehen können (vgl. Lindemann und Barth 2021). Demenzbedingte Formen gelebter Sozialität haben also zur Konsequenz, dass die vormals gelebte Individualität und Selbstständigkeit mit der Progredienz einer Demenz immer prekärer wird. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft führt der Verlust von individuellem Wissen und kognitiven Fähigkeiten nicht zu einer generellen Exklusion, sondern zu einer Intensivierung körperlicher Sozialität.

Die interaktionssoziologische Untersuchung konnte verschiedene Formen sozialen Erinnerns im institutionellen Kontext der professionellen Demenzpflege sichtbar machen. Neben den Praktiken des Erinnerns stellte dabei auch die Wiederholung von körperlichen Praktiken eine Form des praktischen und impliziten Erinnerns dar, die bislang kaum erforscht wurde. Im ersten Beispiel wurde sichtbar, dass Erinnern im Kontext von Pflegehandlungen in verschiedenen Dimensionen erfolgen kann. Das Wissen über den zeitlichen und räumlichen Ablauf von Praktiken und Handlungen, wie die Pflege des eigenen Körpers, kann demenzbedingt verloren gehen, auch wenn einzelne Praktiken der Pflege durchaus noch selbstständig durchgeführt werden können. Die Unterstützung der Pflegenden erfolgt dann wie im ersten Beispiel durch eine Koordination, die explizit oder auch implizit an den nächsten passenden Schritt erinnert. Dieser Praktik des Erinnerns kann noch eine weitere Dimension des praktischen Erinnerns im Vollzug zur Seite gestellt werden. Der Vollzug einer Praktik ist immer auch deren Wiederholung und damit eine (inter-)subjektive Erinnerung an ein bestimmtes inkorporiertes Praxiswissen, das mit jedem Vollzug angewandt und zugleich erinnert wird. Das zweite Beispiel zeigte auch, wie dieses Praxiswissen durch das Tanzen erneut erinnert und damit praktisch wiederholt werden konnte. Im Vollzug des wiederholten Tanzens findet ein praktisches Erinnern und zugleich eine Fortsetzung der Praxis des Tanzens selbst statt. Der Pfleger und die Bewohnerin konnten dabei ohne Verständigungsprobleme miteinander tanzen und sich rhythmisch-synchron zueinander bewegen. Im dritten Beispiel konnte beobachtet werden, wie die Betreuerin und die Bewohnerin zusammen singen. Die beiden Sängerinnen konnten durch ihr verfügbares und verkörpertes musikalisches Wissen zusammen eine Wir-Melodie hervorbringen. Ihr gemeinsames Singen beendeten sie aufgrund von körperlich-stimmlichen Problemen bereits nach der ersten Strophe. Für die nachfolgende reflexive Deutung der eigenen Stimmveränderung fehlte der Bewohnerin demenzbedingt jedoch ein Teil ihres episodischen und biografischen Wissens, so dass für sie eine unerklärliche Diskrepanz zwischen ihrer erwarteten und aktuellen Stimme entstand, die nach ihrer Thematisierung sozial erklärlich gemacht wurde. Mit dem vierten und letzten Beispiel konnte auch beobachtet werden, dass prozedurales und implizites Bewegungswissen durch die degenerative Progredienz einer Demenz verloren gehen kann, wenn z. B. das räumliche Orientierungswissen betroffen ist. Auch mit den Handlungsanweisungen der Betreuerin war ein Bewohner demenzbedingt nicht in der körperlichen Lage, einen Ball in den vor ihm stehenden Korb zu werfen. Dennoch orientierte er sich an den situativen Reaktionen der anwesenden Interaktionspartner:innen und ließ sich durch deren Äußerungen affizieren.

Sozialität ist mannigfaltig und spielt sich in vielen verschiedenen Formen ab. Ein individueller Wissensverlust und der Verlust von individuellen kognitiven Fähigkeiten sind interaktionssoziologisch nicht gleichbedeutend mit einem allgemeinen Verlust von Sozialität. Diese individuellen Verluste werden in sozialen Interaktionen teilweise situativ kompensiert und durch Verschiebungen von Sozialitätsformen (z. B. vom inhaltlichen Gespräch hin zum gemeinsamen Gesang oder Tanz) für die Akteur:innen unproblematisch. Eine Soziologie der Demenz kann diese verschiedene Sozialitätsformen und deren Konsequenzen beschreiben und damit die dementiellen Bedingungen der Vergesellschaftung zwischen Verlusten von Individualität und Intensivierungen des Sozialen kritisch reflektieren.