1 Einleitung

Seit der Wende gehören Erinnerungen an Inhaftierungen und körperverletzende Angriffe seitens der repressiven Staatsorgane zum festen Repertoire der Diskurse zur Aufarbeitung der Diktatur in der DDR. Diese Erfahrungen erweisen sich als äußerst biografisch prägend und können in Anlehnung an Foucaults „Politik der Zwänge“ folgendermaßen beschrieben werden: „Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt“ (Foucault 1993, S. 176).

Obwohl die konkreten Zahlen von politischen Häftlingen je nach Quellen, Begriffsdefinition, Schätzmethode und Untersuchungszeitraum stark voneinander abweichen, zählte die Inhaftierung zu einer der zentralen staatlichen Kontroll- und Überwachungsmechanismen der DDR (vgl. Schröder und Wilke 1998; Lukas et al. 1996). Sie beinhaltete eine andauernde körperbezogene Misshandlung der Betroffenen, nicht nur bei der Festnahme. Ebenso gehörten Entkleidung, Prügel, Schlafentzug, fehlende Körperhygiene, Isolationshaft, Mangelernährung und schlechte medizinische Versorgung, Übergriffe des Strafvollzugspersonals und nicht selten Folter zum Alltag der Inhaftierten in den Gefängnissen der DDR (vgl. Wunschik 2003; Plogstedt 2010; Alisch 2016).

Im wissenschaftlichen Diskurs wurden die Erinnerungen über diese Misshandlungen meistens als mentale oder kognitive Vorgänge gedeutet, die bei auftretenden psychischen Störungen und Problemen konkret betroffener Zeitzeugen therapeutisch behandelt wurden. Hieraus bildete sich ein Forschungsfeld (vgl. Maercker 1995), das als Derivat individueller psychischer Probleme und behandlungsbedürftiger Gegenstand weitgehend PsychologInnen überlassen wurde. Solche Erfahrungen gehören allerdings nicht nur der Sphäre des Psychischen und Geistigen, sondern vor allem auch der Sphäre des Leiblichen an, da mit diesen subjektiven Misshandlungserfahrungen langlebige körperliche Gewohnheitsstrukturen erzeugt und verinnerlicht wurden, die zugleich Teil des leiblichen Gedächtnisses sind (vgl. Koloma Beck 2016).

Ziel des Beitrags ist es, aufzuzeigen wie körperliche Empfindungen und Wahrnehmungen von Inhaftierungen als ein Feld körperbezogener Selbst- und Fremderfahrung sowohl in den Akten der Stasi dokumentiert, als auch in Zeitzeugenberichten rekonstruiert und darstellbar gemacht werden. Das Körpergedächtnis zeigt sich im Folgenden als Operation, welche die gegenwärtigen Sinnvollzüge körperliches Wissen in Form von impliziten Generalisierungen zur Verfügung stellt (Sebald 2016, S. 104) und zum lebendigen authentischen Trägermedium von Prozessen des Erinnerns und Vergessens wird (vgl. Belting 2001; Kanter 2016; Gukelberger et al. 2023). Von besonderer Bedeutung ist daher die kommunikative Konstellation, in der ein vorreflexives Körpergedächtnis nun reflexiv und in einem Format öffentlicher medialer Kommunikation als eine spezifische Erfahrung vermittelt wird. Es stellt sich daher sowohl die Frage, wie körperliche Erfahrungen zu einem intersubjektiven Gegenstand der Reflexion über Inhaftierungen in der DDR werden, als auch die Frage wie körperliche Erfahrungen versprachlicht und welche kommunikativen und institutionellen Probleme damit gelöst werden.

Um dieser Fragen zu beantworten, ist zum einen die Konzeptualisierung der Rolle des Körpers als Gedächtnis und zum anderen der analytische Fokus auf intersubjektive Erinnerung an Verhaftungen in der DDR notwendig.

Zur Operationalisierung des Konzepts des Körpergedächtnisses werden zunächst relevante theoretische und methodische Ansätze entwickelt und erläutert. Anschließend werden vielfältige Daten zu Erinnerungen ehemaliger DDR-Inhaftierter analysiert, deren Verhaftungen mit Erfahrungen körperlicher Gewalt verbunden waren. Die mediale Vielfalt des Datenmaterials umfasst schriftliche und mündliche Erinnerungen in unterschiedlichen institutionellen und privaten Formaten, mit denen die Erinnernden ihre körperlichen Empfindungen und Wahrnehmungen der Inhaftierung intersubjektiv thematisierbar und kommunikativ darstellbar machen.

2 Integrative Konzeptualisierung von Körpergedächtnis

Bei einer sehr großen konzeptuellen Heterogenität ist das Feld der Gedächtnisforschung generell von klaren Dichotomien durchzogen. Körperliche, reflexive, individuelle, kommunikative und kulturelle Gedächtnisse sind zwar kaum trennscharf auseinanderzuhalten, haben sich aber je nach subjektiven und objektiven oder interaktionsbasierten und differenzierungstheoretischen Ansätzen als eigenständige idealtypische Formen aus unterschiedlichen theoretischen und empirischen Fundamenten heraus entwickelt. Dieser Zustand macht die Erfassung von empirischen Phänomenen unscharf und zueinander inkompatibel (vgl. Sebald 2014).

Die Abschwächung dieser Dichotomien kann durch die Entwicklung einer integrativen Beschreibungssprache erfolgen, welche im Hinblick auf gedächtnissoziologisch relevante Fokussierungen auf die situationsschaffende Intersubjektivität, Strukturierung sozialer Beziehungen, Reziprozität von Perspektiven und Erwartungen aus den Handlungen sozialer Mitglieder zulässt. Diese Fokussierungen sind im vorliegenden Beitrag insofern zentral, als dass sie es ermöglichen, Generalisierungen der Erinnerungen nachzugehen, wodurch Letztere ihre soziale Geltung aufrechterhalten.

Gerd Sebald hebt die Generalisierungen der Erinnerungsprozesse als einen besonders relevanten integrativen Untersuchungsfokus hervor, der verschiedene Gedächtnisformen (wie etwa körperliches und kommunikatives Gedächtnis) miteinander verbindet, wie das folgende Zitat verdeutlicht:

„Generalisierungen werden im Gebrauch pragmatisch spezifiziert, an die Sinnvollzüge der je aktuellen Situation angepasst und die entsprechenden Veränderungen gehen gegebenenfalls wieder in die Generalisierung ein. Diese Generalisierungen können in unterschiedlichen Gedächtnissen parat gehalten werden: in den individuellen Formen des Körpergedächtnisses und des reflexiven Gedächtnisses oder aber in dezidiert sozialen Formen, medialen Materialitäten, die eine gewisse Dauerhaftigkeit, Verbreitung, Verfügbarkeit und damit eine soziale Geltung (als Gewissheit und Verbindlichkeit) der generalisierten vergangenen Ergebnisse von Sinnvollzügen ermöglichen.“ (Sebald 2014, S. 26)

Ausgehend davon lässt sich einer forschungsrelevanten Frage nachgehen: Wie erfahren die Erinnerungen eine Generalisierung und somit ihre soziale Geltung? Infolge dieser Fragestellung und einer Fokussierung auf die Generalisierung werden die körperlichen Erfahrungen der Betroffenen in Haft nicht mehr auf die Intentionen eines souveränen Subjekts zurückgeführt, sondern auf einer intersubjektiven Ebene gedacht. Als Verschränkung zwischen dem eigenen leiblichen Erleben und dem leiblichen Erleben der Anderen dient das Konzept der Zwischenleiblichkeit, welches dafür verantwortlich ist, dass die Körper oder bestimmte Spuren am Körper der Anderen Erinnerungen an Erlebnisse sowie mittelbare oder unmittelbare Erfahrungen wecken können (vgl. Kissmann 2016; Hahn 2010).

Laut Merleau-Ponty (1966) konstituiert sich die Zwischenleiblichkeit in der Wahrnehmung des Zusammenhangs von eigenem und fremdem Leib auf der Basis des inkarnierten Sinns, der in der leiblichen Praxis verkörpert ist. Somit müssen die Erfahrungen nicht in einer sozialen Situation gemeinsam durchlebt worden sein, viel mehr reicht ein strukturidentisches Erleben, das eine durch den (gemeinsamen) körperlich strukturierten Weltbezug vermittelte Verständigung sichert. Dadurch findet ebenso das Einflechten einer generalisierten Erinnerung in individuelle körperliche Erfahrung, die durch Dialog(izität) intersubjektiv wird, so dass der Körper einer solchen Erinnerung die Materialität und Form zur Verfügung stellt (vgl. Bachtin 1975).

Während Zwischenleiblichkeit ursprünglich als vorreflexiver, unmittelbar über den Leib erfahrbarer Zustand verstanden wird, der kein sprachliches Explizieren benötigt, stehen hier die Situationen mit reflektierten und durch Sprache generalisierbaren vergangenen körperlichen Erfahrungen im Mittelpunkt. Somit gerät die Zwischenleiblichkeit unter bestimmten Gesichtspunkten in Fokus der Analyse. Nämlich durch die kommunikationsanalytische Annährung an soziale Situationen, in denen die Handelnden den „eigenleiblichen, subjektiven Erfahrungsraum“ (Stadelbacher 2010, S. 317) mittels der Pragmatik der Sprache konstituieren und in relevante mediale und kommunikative Formate verpacken, um an die körperlichen Erfahrungen anderer zu appellieren.

3 Methodischer Zugang

Abgesehen von der obig beschriebenen theoretischen Dichotomisierung im Feld der Gedächtnisforschung lassen sich Dichotomisierungen auch auf dem methodologischen Feld überbrücken. Der zentrale Ausgangspunkt zeigt dabei auf: Wenn die Teilnehmenden bestimmte Ereignisse beschreiben, erinnern sie sich (aus psychologischer Sicht) an diese Ereignisse; sie bemühen sich aber auch, diese Beschreibungen als Erinnerungen so wiederzugeben, dass sie einen berichtenswerten Status erlangen. Somit werden Erinnern und Vergessen in Abgrenzung zur traditionellen kognitiven Psychologie nicht (nur) als mentale Prozesse, sondern auch als interaktionelle Phänomene untersucht (Goodwin 1987; Edwards und Potter 1992; Lynch und Bogen 1996; Wooffitt 1991, 2005). Im Fokus stehen unter anderem die strategischen Handlungen, die einen expliziten Bezug auf das Erinnern oder Vergessen pragmatisch einsetzen, um bestimmte Handlungsprojekte auszuführen oder unerwünschten Konsequenzen zu entgehen (Drew 1989; Goodwin 1987; Schegloff 1991; Locke und Edwards 2003).

Um dies umzusetzen entwickelten Lynch und Bogen einen hilfreichen methodologischen Ansatz. Laut diesem sollen fallfokussiertes Erinnern und Vergessen anhand von Handlungen und Ausdrücken in besonderen interaktionellen, pragmatischen und politischen Kontexten bearbeitet werden. Somit können die verfügbaren Beschreibungen von kognitiven Prozessen im Hinblick auf ihre Rolle in der Interaktion im Detail untersucht werden (Lynch und Bogen 1996; Wooffitt 2005, S. 228). Auch Edwards und Potter sehen einen Zugang zum Gedächtnis nur durch die Analyse öffentlich zugänglicher sozialer Praktiken (Edwards und Potter 1992, S. 100), welche individuelle Erinnerungspraktiken akkumulieren und Prozesse ihrer Verfestigung sichtbar machen.

Auch wenn die vorgestellten Studien recht verschiedene methodische Zugänge bieten, besteht eine Gemeinsamkeit darin, dass sie ihre „alternativen Geografie“ dadurch behaupten, indem sie Kognition und Leib explizit ausklammern wollen und sich dabei auf eine objektivierbare sinnvermittelnde Funktion des situativen Einsatzes von Körper, Mimik und Gestik in multimodaler Interaktion konzentrieren. Auch wenn der Körper in seiner sinngenerierenden Rolle durch Beschreibungen der körperlichen Ausrichtung und Bewegung in die Analyse Eingang findet, wurde der Zusammenhang der Zwischenleiblichkeit und generalisierender körperbezogener Kategorisierungsaktivitäten selten zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Seien es Studien zur Kommunikation zwischen Bürger und Polizei, in denen Schilderungen körperlicher Gewalt im Zentrum stehen (vgl. Antaki et al. 2015) oder die Arzt-Patienten Gespräche zum körperlichen Leiden (vgl. Kütemeyer 2002), wurden Aspekte der Körperlichkeit als Anlass und Quelle situativer Erinnerung einerseits und andererseits als Medium der Sinngenerierung in seiner beziehungskonstituierenden Funktion in Interaktion separat behandelt. Dies ist besonders im Feld der Studien von Erinnerungen der Patienten über Anfälle und damit verbundener körperlicher Kontrollverluste und Bewusstseinslücken problematisch, in denen die Patienten, die nicht erinnerbaren Teile der Ereignisse im Gespräch mit Ärzten rekonstruieren (vgl. Kütemeyer 2002). Selbst wenn diese sprachwissenschaftliche Studien sich überwiegend nur auf Metaphern, Muster und Narrative körperlicher Erinnerung(-slücken) der Patienten konzentrieren wollen, fällt in den vorgestellten Gesprächstranskriptionen deutlich auf, wie es den Betroffenen durch die generalisierende Leistung eines Fachspezialisten gelingt, die Erinnerungen „zurückzugewinnen“, diese nach bestimmten relevanten Fachkriterien zu formalisieren und somit das Verstehen, Erkennen und Behandeln einer körperlichen Störung zu ermöglichen (vgl. Brünner und Gülich 2002; Schemm 2002).

Unter allgemeinen kommunikations- und gesprächsanalytischen Zugängen zu Körper und Erinnerung stellt die Analyse von rekonstruktiven kommunikativen Gattungen einen relevanten Ansatz für die Untersuchung gesellschaftlicher Kommunikationsformate des Erinnerns dar, da die Gattungen der Rekonstruktion von Vergangenem dienen und das Erinnern durch situationsrelevante medial Formate „sozial sichtbar“ machen können (Knoblauch 1999, S. 737). Durch die Beschreibung der binnen- und außenstrukturellen Eigenschaften bestimmter erinnerungsrekonstruierender Handlungsmuster erlaubt das Konzept, die Strukturen und vor allem die Medien der Generalisierungen nachzuspüren (vgl. Kanter 2016). So zum Beispiel macht Johanna Lalouschek (2002) eine kritische Stellungnahme in Bezug auf die mediale Präsentation des Chronischen Erschöpfungssyndroms (CFS) in einer medizinischen Informationssendung. In diesem Zuge stellt die Autorin fest, dass es sich bei der untersuchten Sendung um einen gesellschaftlichen Krankheitsdiskurs handelt. Diese Sendung versagt jedoch die eigene Medialität auszuschöpfen: Sie bleibt nämlich nur bei einzelnen Erinnerungen über persönliche Symptome der Betroffenen, statt eine intersubjektive Ebene körperlicher Störungen zu entdecken sowie diese Letztere als Ausdrucksformen für soziale Spannungen und als Prototyp eines modernen Leidens in der Leistungsgesellschaft zu problematisieren.

Auch im vorliegenden Aufsatz soll nicht die Unmittelbarkeit des körperlichen Erinnerns, sondern die Rolle einer besonderen medialen und situativen Einbettung der Erinnerung im Fokus der Analyse stehen. Um die Eigenlogik verschiedener Formen und Medien ans Licht zu bringen, welche es den körperverletzenden Erfahrungen ermöglichen, sich als berichtsrelevante Erinnerungen zu manifestieren und zu institutionalisieren, wird hier ein Datenmaterial in verschiedenen medialen und kommunikativen Formaten zusammengestellt und gattungsanalytisch untersucht. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: In welchen Erinnerungspraktiken, -formate und -medien wird das Körpergedächtnis in Bezug auf eigene oder fremde Inhaftierungssituationen generalisiert? Und welche Eigenlogiken der Zeitlichkeit und Generalisierung werden dadurch expliziert und institutionalisiert?

Zeitlichkeit und Generalisierung bilden dabei eine gedächtnissoziologisch relevante Schnittstelle und stellen hierbei einen roten Faden bei der Strukturierung und Systematisierung des Datenmaterials dar. Dies geschieht nach folgender Logik: Auch wenn sich Erinnerungen thematisch auf die Vergangenheit beziehen, bringen sie gegenwärtige und künftige Perspektiven zusammen, indem die Sinnzusammenhänge von vergangenen Ereignisse in die Reflexivität einer unmittelbaren gegenwärtigen Interaktionssituation eingebettet sind und in Bezug auf ihre künftige Wirkung gestaltet werden. Beispielsweise bildet Dringlichkeit insofern eine relevante Zeitlichkeitsstruktur in Feuerwehrnotrufen, als das sie die situative Verständigung und die Entwicklung künftiger Entscheidungen der Beteiligten zusammenbindet. Die Dringlichkeit lässt sich an bestimmten kommunikativen Aufgaben und prosodischen Merkmalen erkennen, wie es Jörg Bergmann (1993) anhand der Analyse persuasiver Elemente in Feuerwehrnotrufen beschreibt. Andererseits wird Zeitlichkeit auch als eine Zeitspanne zwischen dem Erleben und Erinnern relevant, die eine chronometrische Distanz zum Ereignis ausmacht. Sharrock und Turner (1978) weisen auf diese Distanz hin, wenn sie in ihrer Studie über Bürgeranrufe bei der Polizei systematische Unterschiede zwischen „immediatly“, „as soon as possible“ und „in reasonable time“ ansprechen sowie einfache, direkte und umständlich lange Anrufe herausarbeiten.

Auf Grund der beschriebenen Leistungen der Zeitlichkeit lässt sich das Datenmaterial im Folgenden in drei Gruppe aufteilen und jeweils anhand der zeitlichen Distanz zum Ereignis beschreiben: Neben Erinnerungen, die eine kurzfristig erfolgte Verhaftung thematisieren, lassen sich Rekonstruktionen der länger zurückliegenden Festnahmen in der Analyse mitberücksichtigen.

4 Kommunikative Formate sozialen Erinnerns an Inhaftierungen

Das Bundesarchiv stellt eine große Sammlung von Berichten, Protokollen und Audioaufnahmen authentischer Telefongespräche zur Verfügung, welche vom Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) überliefert wurden. Darunter sind sowohl abgehörte Gespräche von privaten Anschlüssen, welche durch die darauf spezialisierte Abteilung 26 heimlich aufgenommen und im Tonarchiv aufbewahrt wurden, als auch direkte Anrufe beim ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit. Mit der Wiedervereinigung und Abschaffung der Stasi verschwanden die Erinnerungen an Inhaftierungen jedoch keineswegs aus dem gesellschaftlichen Kommunikationsrepertoire. Vielmehr drangen sie in den Bereich öffentlicher Kommunikation und wandelten sich in Formate medialer Interviews und historischer Dokumentationsfilme. Die medialen Erinnerungen an körperverletzende Ereignisse während der Verhaftung stellen eine weitere Quelle für die folgende Analyse dar. Zusätzlich werden die Entwicklungsprozesse ehemaliger Gefängnisse in Gedenkstätten in den Blick genommen, nämlich als Beispiel dafür, wie die Erinnerungen materialisiert und zu Museen institutionalisiert werden.

4.1 Beschwerden

„Meine Erinnerungen an das Friedenskonzert mit Udo Lindenberg u. a. im Palast der Republik“ ist der Titel eines vierseitigen AugenzeugenberichtsFootnote 1 aus den Stasi-Unterlagen von Nikolaus Becker über seine Nacht in Haft. Laut dem Bericht nahm ihn die Volkspolizei am 25. Oktober 1983 fest, als er im Umfeld des Lindenberg-Konzerts fotografierte: „Das ich keine Chance hatte, Karten zu bekommen, war mir von vornherein klar. So wollte ich wenigstens die Stimmung während des Konzerts vor dem Palast fotografieren.“ Er schließt den Bericht mit einer kritischen persönlichen Stellungnahme zum Geschehen ab:

„Diese Nacht hat für mich eine ziemlich große Bedeutung. Sie hat mir meine letzten eventuell noch vorhandenen Ideale in Bezug auf diesen Staat genommen. Ich habe Jugendliche heulend physisch und psychisch zusammenbrechen sehen, ich habe ‚Volkspolizisten‘ mit Lust und Genugtuung mit dem Knüppel zuschlagen sehen … Ich bin dadurch bestimmt kein besserer ‚Staatsbürger‘ geworden.“ (Zitat aus dem Augenzeugenbericht im Original, 25.10.1983)

Die Beschreibungen der Festnahme und des Aufenthalts in der Polizeiwache sind in Abb. 1 abgebildet.

Abb. 1
figure 1

Abschnitt aus einem Augenzeugenbericht zu den Verhaftungen während des Lindenberg-Konzerts in Ost-Berlin am 25.10.1983 (BStU, MfS, HA XX/9, Nr. 89, Bl. 2, https://www.stasi-mediathek.de/medien/augenzeugenbericht-zu-den-verhaftungen-waehrend-des-lindenberg-konzerts-in-ost-berlin/blatt/2/ (Zugriff, 14.03.2024).)

In geschriebener Sprache wird hier an die jüngst geschehenen Ereignisse erinnert, die den Berichtenden stark emotional und körperlich beansprucht haben. Während alle erwähnten Vorkommnisse im Bericht in ihrer zeitlichen Abfolge (mithilfe von Adverbien der Zeit wie etwa „nach“ oder „danach“) rekonstruiert werden, fällt hierbei jedoch auf, dass die Beschreibungen des brutalen polizeilichen Umgangs mit Körpern einen besonders detailgetreuen und abwertenden Teil des Textes darstellen. Welche Rolle spielen die Rekonstruktionen dieser vergangenen leiblichen Gewalterfahrungen im vorliegenden Bericht?

Auch wenn die behördliche Bezeichnung des Dokuments „Augenzeugenbericht“ ist, welcher eine objektive Darstellung eigener Erinnerungen an das optisch Wahrgenommene impliziert, ähnelt dieses Schreiben dem kommunikativen Format einer Beschwerde, da es auf Missstände hinweist und dazu explizit eine kritische Stellung einnimmt. Der Rekonstruktion körperlicher Gewalt wird dabei eine zentrale Rolle eingeräumt, sowohl durch detaillierte Schilderungen, wie etwa: „Man konnte die Beine überhaupt nicht so breit machen, daß sie nicht noch etwas breiter getreten worden wären“, „mit Füßen (schweren Stiefeln) treten“, „gegen die Wand schleudern“ und „mit dem Knüppel gedroht“, als auch mithilfe einzelner Bezeichnungen wie „zuschlagen“, „kleinkriegen“, „heulen“. Solche Bezugnahmen auf Körper appellieren an intersubjektive Schmerzerfahrungen und erfüllen somit aufmerksamkeitsgenerierende und kritisierende Funktionen. Durch das Zurückgreifen auf die durch den Leib erlebbaren schmerzlichen Erfahrungen wird die Erinnerung an die Verhaftungssituation reflexions- und berichtsrelevant. Der Körper wird hier zum „Organ des Wissens“ (Sebald 2014, S. 98) und zum Mittelpunkt einer leiblich erlittenen Situationsdeutung, die in einem gegebenen Setting als kommunikativer Authentizitäts- und Wahrheitsnachweis dient.

Abschließend wird im Bericht explizit thematisiert, wie die LeserInnen des Textes die Erinnerungen interpretieren und einordnen sollen. Die beschriebenen Ereignisse werden nämlich mit den Zuständen in einem KZ in Verbindung gebracht. Dadurch wird ein aktiver Charakter der Erinnerungen an die Inhaftierung deutlich. Sie sind nicht deshalb erwähnenswert, weil sie gerade stattfanden und dann etwas Außergewöhnliches geschah. Vielmehr sind diese Beschreibungen darauf ausgerichtet, Merkmale hervorzuheben, welche für das nachfolgende Ereignis relevant wurden. Sie sollen bestimmte Assoziationen hervorrufen, damit die Zuständigen die Notwendigkeit sehen, sich mit den kritisierten Umständen auseinanderzusetzen.

Diese Beobachtung verdeutlicht einerseits, wie das Schreiben einer Beschwerde als eine „paradigmatische soziokulturelle und sozio-materielle Wissens- und Gedächtnisaktivität“ (Sebald 2014, S. 169) in einer konkreten sozial gerahmten Situation stattfindet, welche die Relevanzen und Selektionskriterien des Körpergedächtnisses vorgibt. Andererseits stellt das Schreiben eine spezifische (individuelle) Aneignung eines epistemischen Verfahrens der sozialen Wissensproduktion und des Auf-Dauer-Stellens von Generalisierungen dar. Da die mediale Besonderheit einer schriftlichen Beschwerde keine Interaktionsprozesse abbildet und keine direkte Reaktion von vermutlichen Rezipienten zulässt, erfolgt die Erinnerungsgeneralisierung über eigene Körpererfahrungen durch das „Unwohlsein des Textes“ (Hermann 2002, S. 337), welches durch strukturelle Schwankungen, Themenwechsel und Durchstreichung sichtbar wird.

Ein weiteres besondere Merkmal besteht hierbei darin, dass nicht nur die Erinnerung an das eigene Unwohl in der Haft zentral ist. Darüber hinaus bilden die Rekonstruktionen der Misshandlungen der Körper anderer Festgenommener einen Gegenstand der Beschwerde. In diesem Abschnitt werden „man“ und „ich“ so verwendet, als würde der Bericht nicht nur den Verfasser allein betreffen, sondern im Namen aller Anwesenden verfasst sein könnte. Dies entpersonalisiert die zwischenkörperlichen Erinnerungen und verleiht ihnen einen Gemeinschaftscharakter. Genauso wie die eigene Festnahme können sich auch die körperlichen Misshandlungen bei der Festnahme anderer als Gegenstand der Erinnerungen einprägen.

Wie im nächsten Schritt gezeigt wird, kann die Erinnerung und Problematisierung einer Festnahme und körperlichen Misshandlung einer anderen Person Anlass geben, sich direkt telefonisch an die Stasi zu wenden. Auch wenn telefonische Anrufe das Geschehene in einem anderen Medium und prinzipiell anders als schriftliche Beschwerden rekonstruieren, lässt sich auch hier untersuchen, wie die Anrufenden ihre Erinnerungen über leibliche Erfahrungen anderer Personen generalisieren und Intersubjektivität bezüglich körperlicher Gewalt herstellen. Dabei greifen sie zurück auf ein relevantes Format institutioneller Beschwerden, um auf Missstände hinzuweisen.

Die Telefonnummer der Stasi befand sich im Telefonbuch und die Anrufenden wurden zunächst mit dem Offizier vom Dienst verbunden, welcher die eingehenden Anrufe entgegengennahm, im Dienstjournal registrierte und weiterbearbeitete. In diesem Anruf meldet der Anrufer eine Festnahme, die er zufällig auf der Straße beobachtet hat (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Anruf bei der Stasi zur Festnahme einer Frau (BArsch, MfS, BdL, Tb 173 rot.)

In dieser Passage berichtet der Anrufer, dass er an einem Abend zum Beobachter einer brutalen Festnahme wurde. Dabei lässt der Verlauf des Gesprächs offen, ob der Anrufer sich über den Fall informieren oder eher die Behörde in Kenntnis darüber setzen möchte. Es fällt allerdings besonders auf, dass sich der Anrufer stark darum bemüht, Authentizitäts- und Wahrheitsnachweise zu erbringen. In dieser Hinsicht ist interessant, wie der Anrufer sein Anliegen in diesem Telefongespräch eröffnet. Er schildert nämlich, dass er unmittelbar nach Dienstende Zeuge der Festnahme wurde. Selbst nachdem er die Möglichkeit einer Reformulierung durch die Nachfrage des OvD bekommt, das Anliegen (vermutlich aufgrund technischer Störungen) zu wiederholen, bedient sich der Anrufer erneut derselben Struktur. Laut Wooffitt wird diese Art der Formulierung häufig dann verwendet, wenn die SprecherInnen Misstrauen erwarten und der skeptischen Reaktion seitens des RezipientInnen entgehen wollen (Wooffitt 2005, S. 215). In diesem Zusammenhang bemüht sich der Anrufer um einen Wahrheitsnachweis und stellt sich in einem direkten Bezug zum Geschehen als unmittelbarer Beobachter dar (vgl. Bergmann 1993).

Bei der zweiten Schilderung des Anliegens rekonstruiert er das Erlebte durch die Wiedergabe einer Abfolge körperlich relevanter Tätigkeiten, wie zum Beispiel ersichtlich aus den verwendeten Begriffen „angesprochen“ und „tätlich angegriffen“, und fügt zusätzlich noch die Uhrzeit als Objektivitätsbeweis seiner Schilderung hinzu. Im weiteren Verlauf fügt der Anrufer immer wieder neue Details zum Ort der Festnahme und seiner Entfernung hinzu. Zudem eskaliert er in seinen Schilderungen die negativen Wertungen des Geschehens: „angegriffen“ wird als „gewalt angewendet“ expliziert. Der OvD wird aber erst zur Antwort angeregt, nachdem der Anrufer die kommunikative Gestaltung seiner Erinnerungen des Informationshinweis in die Beschwerde eines Bürgers „in unserm arbeiter und bauernstaat“ umwandelt, moralische Äußerungen („ich konnte mir das überhaupt gar nich vorstellen“) hinzufügt und die Situation als „eine ältere dame von zwei jüngeren genossen einfach so (.) von der straße weggeschleust“ typisiert. Diese Moralisierung funktioniert durch eine Kontrastierung körperbezogener Kategorisierungen (zwei gegen eine, Jüngere gegen eine Ältere, Männer gegen eine Frau) und setzt damit eine Pointe in die Rekonstruktion des Geschehenen.

Im weiteren Gesprächsverlauf nimmt der OvD aktiver teil und bewegt den Anrufer zur Darstellung weiterer Details, beispielsweise in Bezug darauf, was die Täter genau gemacht hätten und wer noch vor Ort gewesen wäre (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Anruf bei der Stasi zur Festnahme einer Frau

Die Erinnerungen kommen hier als Resultat der Befragung und als Leistung eines skeptischen Rezipienten, für den sich der Anrufer um einen Wahrheitsnachweis seiner Schilderung bemühen muss, zustande. Misstrauen bei Anrufrezipienten in institutionellen Kommunikationskontexten ist als ein Trigger für Detaillierung und Vertiefung der Beschreibungen der Anrufenden bekannt (vgl. Wahlen und Zimmermann 1990). In dieser Hinsicht bietet die Interaktion viele Möglichkeiten, die Ereignisbeschreibungen in unterschiedlichen Kommunikationsformaten auszuprobieren und sich an relevante Details zu erinnern, welche die Beziehungskonstellation zwischen den Beteiligten in bestimmte Richtungen beeinflussen, beziehungsweise vertrauenswürdiger machen können.

Erweckt die Erinnerung einen Eindruck eines „ewig unvollendeten Ganzen“, wird sie aber durch Bezug auf Körper vervollständigt und abgerundet. Auch wenn dem expliziten Bezug auf Körperlichkeit kommunikationsanregende, aufmerksamkeitsgenerierende, authentizitäts- und beziehungsstiftende Bedeutungen zukommen, kommt Körperlichkeit jedoch keineswegs in jeder Rekonstruktion vergangener Inhaftierungssituationen vor. Im Gegensatz zu dem vorherigen Anruf wird dem Körper des Betroffenen bei der Festnahme im nächsten kontrastierenden Gespräch keine Rolle zugewiesen. Der Anrufer empört sich in diesem Gespräch über die Festnahme eines westdeutschen Bürgers an der DDR-Grenze (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Anruf bei der Stasi zur Festnahme an der Grenze (BArsch, MfS, BdL, Tb 57 grün links 1.)

Im Gegensatz zum ersten Anruf stellt der Anrufer hier die Richtigkeit der Verhaftung in Frage (sich in KEIner weise (2.0) gegen … STaatsgrenze verstoßen). Dabei gibt er keine konkreten körperbezogenen Details zum Prozess der Verhaftung wieder. Im Geltungskampf von Themen, die hier um die Aufmerksamkeit des OvD ringen, bekommen körperrelevante Aspekte im Beitrag des Anrufers keine Präferenz. Es bleibt auch unklar, aus welcher Quelle der Anrufer von der Festnahme erfahren hat, ob er selber an diesem Ort zum Zeitpunkt der Festnahme anwesend war und ob er sie unmittelbar beobachtet hat. Als Folge kommt das Misstrauen des OvD deutlicher zum Ausdruck. Mit seiner Frage: „und wer sind sie bitte?“ räumt der OvD dem Anrufer eine Möglichkeit ein, diesen fehlenden Bezug herzustellen. Der Anrufer identifiziert sich jedoch nur noch als störende Person, ohne sich auf die Aufforderung seitens des OvD einzulassen.

Im Gegensatz zum ersten Gespräch fällt hier auf, dass dem OvD das Rederecht entzogen wird [50]. Dadurch wird seine Teilnahme an der Ereignisbeschreibung blockiert und als Resultat findet keine weitere Detaillierung statt, anders als es im ersten Anruf der Fall war. Das Geschehene bleibt somit ein Ereignis und kann schwer als Erlebnis identifiziert werden, welches der Anrufer mit dem OvD teilen und somit zum gemeinsamen (Körper‑)Erlebnis machen würde (vgl. Bergmann 1987, S. 95).

4.2 Gerüchte

Das zuvor analysierte Datenmaterial ist gekennzeichnet durch eine direkte Adressierung der Rekonstruktionen vergangener körperverletzender Erfahrungen an die Stasi. Dies geschieht aus den Vorstellungen der Anrufenden heraus, um ein bestimmtes Anliegen für die Behörde zu einer institutionellen Relevanz zu machen. Jedoch nahm die Behörde bereits an vielen kommunikativen Prozessen der DDR-Gesellschaft auch indirekt, nämlich als unsichtbare Zuhörerin, teil und speicherte relevante Inhalte durch heimliche Überwachungsmaßnahmen. Im Folgenden verlagert sich der Fokus auf dieses Setting. Hier teilen sich DDR-BürgerInnen über körperliche Gewalterfahrungen miteinander aus. Dieser Umstand stößt daraufhin auf das Interesse der Staatssicherheit, welche die Gespräche heimlich aufnehmen und in Akten der Behörde einspeisen. So stammt zum Beispiel der folgende Abschnitt aus einem von der Abteilung 26 verschriftlichten Protokoll der Raumüberwachung einer Wohnung von Wolf Biermann. Es wird protokolliert, wie zwei Personen in einem überwachten Raum Gerüchte über die Verhaftung einer weiteren abwesenden Person miteinander teilen (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Stasi-Protokoll einer heimlichen Videoüberwachung der Wohnung (BStU, MfS, AOP 11806/85.)

Es geht hier um eine mehrfache Rekonstruktion des Ereignisses in folgender Beziehungskonstellation: die Stasi hält im Protokoll fest und hebt nachträglich durch eine Unterstreichung hervor, wie die Person einen ihr zuvor berichteten Arrest einer dritten Person wiedergibt. Eine solche Beziehungskonstellation nähert sich dem kommunikativen Format eines Gerüchts. „Gerüchte beinhalten unverbürgte Nachrichten, die immer von allgemeinerem Interesse sind und sich dementsprechend auf diffuse Weise verbreiten“ (Bergmann 1987, S. 95).

Bei der Wiedergabe der Verhaftung konzentriert sich die Erzählerin auf die wesentlichen und besonders schockierenden Inhalte der Geschichte, nämlich auf eine zwanghafte räumliche Sperrung und Entblößung des Körpers der Person. Dabei bemüht sie sich einen Wahrheitsnachweis zu erbringen, indem sie die Quelle des Berichts angibt („gehört von jemanden“) und die Ereignisse in einer bestimmten zeitlichen Abfolge wiedergibt (wurde in einen Keller gesteckt, musste sich ausziehen, wurde schließlich zu den Verbindungen befragt). Diese Reihenfolge ist außerdem auch in weiterer Hinsicht interessant. Die Erzählerin weist auf das Aufdeckungsrisiko netzwerklicher Verbindungen hin, welches nach der eskalierenden Aufzählung körperlicher Misshandlungen geschieht und somit noch gefährlicher erscheint. Das Protokoll zeigt, wie Gerüchte eine mitfühlende Anteilnahme am Schicksal anderer Menschen hervorrufen (ebd.), aber auch darüberhinausgehend eine warnende Funktion erfüllen können. Sie können auch dazu beitragen, dass körperliche Erfahrungen eines Einzelnen, von einer Community ernstgenommen und somit zum geteilten Erlebnis werden.

Die gesellschaftliche gerüchtartige Pflege der Erinnerungen gibt den potenziellen Teilnehmenden Anschlussmöglichkeiten, um mit eigenen Erinnerungen zu partizipieren und die Kommunikation fortzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist das folgende Telefongespräch zwischen einer Frau aus der DDR und einem Mann aus der BRD aufschlussreich. Die originale Audiodatei des Gesprächs stammt aus dem Tonbandarchiv der Staatssicherheit und wurde für den vorgelegten Aufsatz nach konversationsanalytischen Regeln wie in Abb. 6 transkribiert.

Abb. 6
figure 6

Privates Ost-West Telefongespräch (BArsch MfS HA XXII Ka 158.)

In diesem Gesprächsabschnitt tauschen sich die Beteiligten über die Ereignisse während oppositioneller Proteste in der BRD und in der DDR aus. Bei diesem Thema sprechen sie teilweise sehr leise, teilweise schnell und undeutlich. Der Grund hierfür liegt darin, dass sie sich anscheinend vor möglichen negativen Maßnahmen durch einen mutmaßlichen Mithörer schützen wollen. Unter diesen Bedingungen sinkt die Spontanität und steigt die Indexikalität, Reflexivität und Selektivität der Sprache bis hin zu einer strategischen Interaktion (vgl. Goffman 1981). Nichtdestotrotz oder gerade deswegen spielt die Zwischenleiblichkeit besonders an den Stellen eine grundlegende Rolle, an denen eine sanktionierte kritische Einstellung zum Ausdruck gebracht wird.

Gäbe man zu, verhaftete Freunde zu haben, ginge man das Risiko ein, selber in das Visier des Geheimdienstes zu geraten. In diesem Zusammenhang ist eine Äußerung über die verhafteten Freunde interessant. Auch wenn die Verhafteten schon freigelassen wurden, kommt eine kritische Einstellung zu den repressiven Konsequenzen durch einen abwertenden Hinweis auf den körperlichen Eingriff gegenüber ihnen zum Ausdruck („die haben se doch ganz schön verdroschen und so:“). Dieser Hinweis setzt eine aktive eskalierende Dynamik im Gespräch fort, bei welcher sich die Beteiligten zu überbieten versuchen. Denn im Anschluss daran bringt die beteiligte Frau weitere Details über das gewaltvolle Verhalten seitens der Vertreter repressiver Institutionen zum Ausdruck („wirklich wahllos drauf losgedroschen“, „runtergeschlagen zertreten (1.5) und dann völlig zusammengeprügelt ne also der hat sich (dann) nich mehr bewegt ne?“). Dies geschieht trotz der Befürchtung heimlicher Mithörmaßnahmen.

Der Austausch von Gerüchten nähert sich einem Spielformat, in dem sich die SpielerInnen um eine immer drastischere Darstellung bemühen. Die besonders erregenden Details werden dabei in Bezug zu Szenen körperlicher Gewalt gesetzt, die in der Erzählung helfen, einen Rezipienten zu binden und das „Spiel“ fortzusetzen.

4.3 Televisuelle Zeitzeugenberichte

Die oben beschriebenen beziehungsdynamisierenden Eigenschaften machen Gerüchte zu einer attraktiven Gattung für die Veröffentlichung von Zeitzeugen in Form von Biografien und Memoiren. Nach der Wende wurden aber auch zahlreiche Dokumentationen zur DDR-Geschichte gedreht, unter den neuesten sind beispielsweise „Sag mir, wo du stehst“ aus dem Jahr 2017 und „Hafterfahrungen in der DDR: Splitter im Kopf“ von 2018. Diese mediale Zeitzeugenberichte ehemaliger DDR-Häftlinge stellen eine Gruppe der körperlichen Erinnerungen über die längst zurück liegenden Verhaftungssituationen dar und bilden den Schluss der Analyse. Ihr eigenständiger Charakter beruht somit auf der Relevanz von Dauerhaftigkeit, aber auch visueller Darstellbarkeit. Dadurch ermöglichen die Mediatisierungsprozesse der Erinnerungen eine globale nachträgliche Beobachtbarkeit dauerhafter Erinnerungsprozesse (vgl. Gukelberger und Meyer 2023). So werden zum Beispiel die Erinnerungen von Klaus Schulz Ladegast (KSL) aus der am Anfang erwähnten Doku „Sag mir, wo du stehst“ folgendermaßen rekonstruiert (Abb. 7).

Abb. 7
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Interview mit Klaus Schulz Ladegast aus dem Film „Sag mir, wo du stehst“ (https://youtu.be/1v80GzFkTcs?si=5Z9n6Mp85YuELftN (Zugriff am 14.03.2024).)

In diesem Filmabschnitt agiert Ladegut als Zeuge und unmittelbarer Experte zum Thema der Verhaftung in der DDR. Aus dieser ihm zugeschriebenen Rolle im Dokumentarfilm soll er über seine eigene Festnahme berichten. Die Berichte können dabei jedoch keineswegs mit den (mehr oder weniger) spontanen Äußerungen im direkten Austausch zweier Beteiligter gleichgesetzt werden. Vielmehr stellen sie die Ergebnisse einer detaillierten Planung textueller und ästhetischer Inhalte sowie nachfolgender Überarbeitung und Re-Kontextualisierung durch die Filmproduzenten dar. Aus diesem Grund verschiebt sich der analytische Fokus darauf, wie Zwischenkörperlichkeit durch präsentierte sprachlich-bildliche Semantiken zum Einsatz gebracht wird.

Der Filmabschnitt inszeniert die Verhaftung nicht nur durch die Stimme des Zeitzeugen, sondern auch durch eine Reihe begleitender audiovisueller Mittel (Bewegbilder und Geräusche) sowie durch eine Erregung der haptischen Reize (z. B. durch die Makroaufnahme von schwarzem Stoff und Metallgeräusche). Mit anderen Worten handelt es sich um ein Bündel der mit leiblichen Empfindungen verbundenen visuellen, akustischen und haptischen Wahrnehmungen, die körperlich-leiblicher Qualität sind. Außerdem wird die Verhaftung durch die genauen Körperbewegungen und Ausrichtungen nachgestellt, für welche der Zeitzeuge selber eigene Interpretationen liefert: „also = äh (.) verHAFtet zu werden also des weiß = ich (.) in der zwischenzeit is im grunde genommen ein ähnlicher vorgang wie vergewaltigt zu werden“. Durch das Zusammenwirken der beschriebenen Eigenschaften der medialen Darstellung werden die ZuschauerInnen animiert, das Geschehene dementsprechend im Hier und Jetzt direkt nachzuvollziehen bzw. nachzuerleben.

Die Vergegenwärtigung der vergangenen Verhaftungssituation geschieht in der Dokumentation auch durch einen direkten Bezug zum Körper und ebenso in Berichten anderer Zeitzeugen. So beschreiben zum Beispiel Matthias Melster (MM) und Wolfgang Warnke (WW) die Konsequenzen der von ihnen erlebten Isolation für ihr heutiges Leben:

„MM: hier hat man mich quasi von den menschen entwöhnt und das hab ich noch nich so richtig überwunden wenn (.) menschenmassen um mich rum sind (0,5) massenveranstaltungen das geht gar nich da krieg ich halt = en flashback obwohl des ja:: = f genau das gegenteil is von meiner isolationshaft in = er zelle (0,5) aber (0,5) das halt ich nich aus sowas #00:18:02-4#

WW: ich hab alle türen immer (.) auflassen müssen ich bin (0,5) laufen (0,5) aus = er wohnung raus dann bin ich wieder karree gelaufen ein mal (.) um den häuserblock dann wieder zurück und so weiter (.) die UNruhe (0,5) also dieses (.) nicht mehr warten können das war scho:n (.) ziemlich stark gewesen #00:18:19-4#“

Aus einem gegenwärtigen Körperzustand heraus wird hier über die Vergangenheit berichtet, konkret wie diese heute im- und durch den Körper weiterlebt. Dadurch bleiben einerseits die Erinnerungen ehemaliger Häftlinge als Gegenstand heutiger gesellschaftlicher Kommunikation relevant. Andererseits wird deutlich, dass die ehemalige Untersuchungshaftastalt Hohenschönhausen in von der Haft betroffenen Körpern weiterlebt und sich durch den Zusammenhang von Erinnerungen, Körper und Kritik als Gedenkstätte nach außen legitimiert.Footnote 2 An dieser Schnittstelle zwischen Institution, Kommunikation und Erinnern zeigt sich ein Wechselspiel zwischen (materialisierten) kollektiven Repräsentationen und den im Körper und dessen Praktiken niedergeschlagenen Leiderfahrungen (vgl. Gukelberger und Meyer 2023).

5 Zusammenfassung und Ausblick

Erinnern und Vergessen sind Prozesse, die sich nicht nur mental, sondern auch wesentlich im Körper abspielen. Daher besteht das Anliegen des Aufsatzes darin, körperlich-leibliches Erinnern in das kommunikative Erinnern konzeptionell und methodologisch einzuordnen. Während das Körpergedächtnis normalerweise nicht im versprachlichten Modus arbeitet, wird es zum Gegenstand der Reflexion und der Kommunikation, wenn eine Störung eintritt und kommuniziert werden muss (vgl. Sebald 2016, S. 106), wie etwa in Situationen einer Festnahme (vgl. Meier zu Verl 2016). Dabei könnte allein die Tatsache von Relevanz sein, dass die Sprache bereits viele körperbezogene Metaphern beinhaltet, die das Embodiment der sprachlichen Symbolisierungen und des menschlichen Weltbezugs deutlich machen (vgl. Böhle 2016). Eine explizite Bezugnahme auf Körper und entsprechende Kategorisierungsaktivitäten können je nach Format und Medium zu einer Lösung bestimmter kommunikativer Aufgaben beitragen. Diese Pragmatik ist aber nur auf Grundlage der Zwischenleiblichkeit als unabdingbare Bedingung für Intersubjektivität, Generalisierung und gemeinsame Verständigung möglich.

Der Artikel befasst sich mit einem vielfältigen Datenmaterial zu Verhaftungen in der DDR, welches zum einen von Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes archiviert wurde und zum anderen auch nach dem Mauerfall entstanden ist. Somit kann ein zeitlicher Bogen von direkten Erinnerungen an körperliche Gewalt in der DDR zu heutigen rückblickenden Erinnerungen an die Gewalt gezogen werden, um die Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Gleichartigkeit, aber auch Unterschiede und Spezifika verschiedener kommunikativer Gattungen soziologisch zu untersuchen. Der gattungsanalytische Zugang zum Körpergedächtnis ermöglicht es, die explizierten Generalisierungen körperbezogener Erfahrungen als abgelöst von subjektiven Intentionen und als eigenlogisch prozessierende soziale Selektivitätsmuster und Relevanzen zu beschreiben, die immer auf pragmatische und lebensweltliche Problemlösungen bezogen bleiben. Auch wenn dieser methodische Zugang die körperlich-emotionalen Semantiken und sich generalisierten Bedeutungsmuster körperlicher Erinnerung erschließt, blieb jedoch unzugänglich, auf welche konkrete Leistung von Körpergedächtnis sie zurückgreifen, wie sie sich damit integrieren, es bereichern und weiterentwickeln.

Die Vielfalt der hier beschriebenen Gattungen reicht von Beschwerden und Gerüchten bis hin zu spezifischen Berichten in Dokumentarfilmen. Die institutionelle Transformation einer Haftanstalt in eine politische Gedenkstätte ist ein Beispiel dafür, wie ein ehemaliger Ort der Inhaftierung gesellschaftlich zum Erinnerungsort wird. Diese Formate zeichnen sich durch ihre eigene Zeitlichkeit, mediale Eigenlogik und ihren eigenen Bezügen auf Zwischenleiblichkeit aus. Die analysierte Dynamik offenbart dabei Steigerungen der Dauerhaftigkeit von Erinnerungen sowie Veränderungen von gattungsspezifischen Beziehungskonstellationen und Erweiterungen von konkreten sozialen Gruppen, welche durch verschiedene Formen von Zwischenleiblichkeit geprägt werden. Durch den Bezug auf Körper können die Betroffenen ihren Berichten über Inhaftierung einen authentischen, glaubwürdigen und besonders normalitätsbrechenden Status verleihen, um misstrauische Rezipienten zu überzeugen und die mediale Aufmerksamkeit eines großen Publikums zu binden.

Der sprachliche Bezug auf den verletzten Körper hat hier nicht nur den Status eines Themas oder eines Kommunikationstriggers. Als Plausibilitäts- und Wahrheitsnachweis bringt die körperverletzende Erfahrung vielmehr eine Verständigungsvoraussetzung in die Kommunikation hinein, welche die Betroffenen nutzen, um die Ereignisse als bedrohlich und schicksalhaft zu generalisieren und auf diese Weise die besondere Sensibilität des Anliegens zu Verstehen zu geben.

Ganz im Sinne Butlers (2010) berühmten Satzes, der Körper sei per Definition verletzlich, bringt der Bezug auf verhaftete Körper die Semantik der Fragilität und des Ausgeliefertseins mit sich (Galanova 2024). Aber auch darüberhinausgehend ist dieser Aspekt in einem stigmatisierenden und mobilisierenden Sinne zentral. Während alle Körper in ihrer Abhängigkeit und Schutzbedürftigkeit geeint sind, stellten die Häftlinge und ihr Umkreis eine besondere Gruppe der Systemfeinde in der DDR dar. Diese Gruppe wurde als nicht schützenswert oder als nicht gleichsam „betrauerbar“ in der nationalstaatlichen Gesellschaft der DDR ausgeschlossen und konnte nicht einmal spärliche Artikulationsmöglichkeiten in Anspruch nehmen. Eine Durchsetzung des Kommunikationsrechts durch gesellschaftlich zulässige Formate sowie die nachfolgende Institutionalisierung der Erinnerungsartikulationen nach der Wende ermöglichten es den Betroffenen, Formen von Betrauerbarkeit gesellschaftlich durchzusetzen (vgl. Sippel 2022).

Nach Butler bestehen Möglichkeiten der Betrauerbarkeit für stigmatisierte Gruppen v. a. durch gemeinsames Exponieren und kollektives Agieren. Je deutlicher diese Möglichkeiten für Artikulation im Zuge eines außenstrukturellen gesellschaftlich-historischen Wandels realisiert werden, desto vielfältiger werden legitime binnenstrukturelle Elemente und mediale Formate der Erinnerungsrekonstruktion, die zugleich eine Bedingung für gemeinsame politische Mobilisierungen handlungsfähiger Körper zum Zwecke gesellschaftlicher Kritik, kollektiver Anerkennung und kultureller Veränderung darstellt.