1 Einleitung

Am 15. Dezember 1926 veröffentlichte die koreanische Tageszeitung Maeil shinbo (hiernach MS)Footnote 1 einen Artikel mit dem Titel „Eine rasche Zunahme koreanischer Schülerinnen im Damenbereich der Kinos: Das jungfräuliche Gemüt tanzt wild, betrunken von provokativen romantischen Dramen“.Footnote 2 Dieser Artikel steht repräsentativ für die gesellschaftlichen Bemühungen, die Schülerinnen von Kinobesuchen abzuhalten. Der Journalist befragte vier Lehrer*innen an renommierten Mädchenschulen und den Leiter eines Kinos in Seoul. Min Hyŏng-ujo, der Schulleiter der Cheil Frauenoberschule, behauptete, der Kinobesuch von Schülerinnen sei „inakzeptabel, nicht [nur] weil Filme ihre Moral korrumpieren könnten, sondern [auch] […], weil der Besuch solch schlecht beleuchteter Räume zu ungewissem Schaden führen könnte [Hervorhebung hinzugefügt]“. Ahn Haeng-jung, ein Lehrer der Ehwa Frauenoberschule, versprach „Kontrollgänge durch Kinos durch die Lehrer“ und „strikte Disziplinarmaßnahmen“, um die Kinobesuche seiner Schülerinnen zu untersagen. Denn, so Ahn, „wenn sie allein unter sich ins Kino gehen, könnten sie von bösen Menschen leicht verführt werden und ihre unschuldigen Gefühle können leicht durch unterhaltsame Filme aufgewühlt werden“.

Die Anmerkung eines anonymen Theaterleiters in selben Zeitungsartikel weist auf die gesellschaftliche und medizinische Komplexität der vermeintlich kinotypischen Schäden hin: „Wie Sie wissen, ist das Kino ein Ort, an den alle möglichen Gäste kommen. Sogar Kisaeng-Frauen würden krank werden, wenn sie häufig das Kino besuchen würden. Daher könnte die Versuchung für Jungfrauen, die die Welt nicht kennen, viel größer sein“ (ebd., Hervorhebung hinzugefügt). Kisaeng-Frauen waren amtliche Dienerinnen der Chosŏn-Dynastie (1392-1897), die nicht nur in traditionellen Tänzen und musikalischen Darbietungen, sondern auch in der Medizin ausgebildet und eingesetzt wurden (vgl. Lee 2010, S. 75-76). Mit der Kolonialisierung durch Japan standen sie jedoch zunehmend männlichen Kunden für sexuelle Dienstleistungen zur Verfügung (vgl. Woo 2007, S. 70-71). Da sie ihre Freier ins Theater begleiteten und dort auch nach neuer Kundschaft suchten,Footnote 3 wurden auch deren Kinobesuche mit sexuellen Kontaktmöglichkeiten und der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten assoziiert. Doch wie kam es dazu, dass die Kinobesuche der Schülerinnen öffentliche Besorgnis erregten, während eine ähnliche Aufregung über die Anwesenheit der Kisaeng-Frauen ausblieb?

Der Konfuzianismus vermag einen Teil der Frage zu beantworten, da er die Gesetze und Sitten auf der koreanischen Halbinsel über mehrere Jahrhunderte maßgeblich formte (vgl. Kim-Haboush 1991). Unter dem Einfluss des Konfuzianismus galten je nach Geschlecht und Stand unterschiedliche Regeln und Erwartungen (Yoo 2008, S. 18-20). So wurde bei adligen Männern und Kisaeng-Frauen eine gewisse sexuelle Freizügigkeit geduldet, während die Sexualität der Frauen höherer Stände strikt kontrolliert wurde (vgl. Lee 2014).

Der verruchte Ruf der TheaterhäuserFootnote 4 als ein Treffpunkt für die „lüsternen Frauen und Lebemänner (ŭmbu t’angja)“ (Mun 2009, S. 343) einschließlich der Kisaeng-Frauen kann einen weiteren Teil der Frage beantworten. Als ein neuartiger öffentlicher Ort, der erst um 1900 auf der koreanischen Halbinsel entstand, gerieten die verdunkelten Spielstätten in die Missgunst der aufklärerischen Intellektuellen und konfuzianistischen Gelehrten. Seit der Eröffnung des ersten Theaters in Seoul waren Kisaeng-Frauen als Darstellerinnen und Begleiterinnen Teil dieser neuen Kulturinstitutionen (Gang 2021, S. 159-161), während von den Schüler*innen erwartet wurde, sich diesem Ort fernzuhalten.

Ein weiterer Aspekt, der bisher wenig Beachtung in der Forschung über die Kinokultur im kolonialen Korea fand, ist der Einfluss der Eugenik auf die Wahrnehmung des Kinos und der Zuschauer*innen. Philippa Levine und Alison Bashford zufolge steht im Kern der Eugenik „the rational planning of, and intervention into, human breeding, the application of selection to humans based on statistical probability and an understanding of the mechanisms of heredity“ (Levine und Bashford 2010, S. 5). Die Verflechtung des Diskurses rund um Geschlechtskrankheiten mit Fragen der Reproduktion, Vererbung und Nationenbildung in der Debatte über die Kinobesucher*innen hatte einen unverkennbar eugenischen Ton.

Im vorliegenden Text werden mediale Beiträge und Nachrichten, medizinische Artikel, Meinungsstücke, satirischen Texte und Befragungen über den Themenkomplex der Kino- und Jugendkultur, Geschlechtskrankheiten, eugenische Politik, Ehe und Schwangerschaft, die in koreanischen Zeitungen, Frauen- und Populärmagazinen erschienen sind, als ein Teil eines Diskurses im Foucaultschen Sinne untersucht. In Archäologie des Wissens definiert Foucault den Diskurs als „Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 2020, S. 74), wobei das Sagbare und die Sagenden von den Machtverhältnissen abhängig sind (ebd., S. 75-82). Im Kontext des Diskurses um die Seouler Kinobesucherinnen lässt sich fragen: Welche Bedingungen ermöglichten und bedingten Aussagen, dass junge Seoulerinnen durch den Besuch von Kinos ihre sexuelle Gesundheit und damit zugleich die Zukunft der Nation gefährden? Welche Akteure stehen im Zentrum des Diskurses und welche biopolitischen Machtverhältnisse wurden etabliert und normalisiert?

Hierfür wird zuerst die Popularisierung westlicher Liebesfilme unter koreanischen Jugendlichen in den 1920er-Jahren umrissen. Die in Filmen dargestellte, freizügige Liebesbeziehung wurde einerseits als das höchste Maß an Modernisierung angesehen, löste jedoch andererseits eine moralische Empörung und Ablehnung aus, die nicht zuletzt die Zensur dieser Filme unter der japanischen Kolonialherrschaft mit sich brachte (Kap. 2 und 3).Footnote 5 Im Anschluss setzt sich die Arbeit mit der eugenischen Bewegung ab der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre als einen weiteren Ausdruck des Modernisierungsdiskurses kritisch auseinander (Kap. 4). Dabei liegt der Fokus auf der sogenannten eugenischen Ehe, usaenghak chŏk kyŏrhon (Kap. 5).

Die vorliegende Arbeit schlägt vor, die Entfaltung des eugenischen Diskurses im kolonialen Korea aus der Perspektive des Konzepts der transculturation zu betrachten. Mary Louise Pratt zufolge wird der Begriff in der Ethnographie benutzt, um „processes whereby members of subordinated or marginal groups select and invent from materials transmitted by a dominant or metropolitan culture“ zu beschreiben (Pratt 1991, S. 36). Dieser Begriff ist zur Erklärung der gestiegenen Rezeption und Entfaltung der Eugenik im kolonialen Korea besonders fruchtbar, denn er ersetzt „overly reductive concepts of acculturation and assimilation used to characterize culture under conquest“ (ebd.). Pratt setzt fort: „While subordinate peoples do not usually control what emanates from the dominant culture, they do determine to varying extents what gets absorbed into their own and what it gets used for.“ (ebd.)

Im Kontext der vorliegenden Arbeit bedeutet dies, dass die eugenischen Konzepte trotz der machtpolitischen Asymmetrie zwischen dem kolonialisierten Korea und Ländern wie z. B. Deutschland, den USA und Japan durch die lokalen Akteur*innen adaptiert und angepasst wurden. Insbesondere beleuchtet der Text die Regulierungsdebatte über die Kinobesuche von Schülerinnen in Seoul als ein Beispiel des Einflusses der koreanischen eugenischen Bewegung, die durch nicht-staatliche Organisationen, Mediziner*innen und Intellektuelle vorangetrieben wurde. Gleichzeitig wurde die Implementierung eines eugenischen Gesetzentwurfs in Korea durch die japanische Kolonialmacht zwar diskutiert, jedoch bis zum Ende der Kolonialherrschaft nicht vollzogen. Inwiefern harmonierte diese nichtstaatliche eugenische Biopolitik mit der faschistischen Zielsetzung Japans und inwiefern wurde eine auf die Kontrolle der weiblichen Sexualität abzielende Geschlechter- und Klassenpolitik dadurch verstärkt?

2 Kinos: Die umstrittene Schule der Liebe

Laut dem Filmhistoriker Dong Hoon Kim wurde der Grundstein für die Entwicklung des koreanischen Kinos „into a prominent form of mass entertainment“ (Kim 2017, S. 18) in den späten 1910er-Jahren gelegt. Die Sicherung eines Filmvertriebsnetzes war für das koloniale koreanische Filmgeschäft von entscheidender Bedeutung, da bis in die frühen 1920er-Jahre kaum kommerzielle Filme von koreanischen FilmemachernFootnote 6 produziert wurden. Kim zufolge war dies auch bedingt durch die Kolonialherrschaft: „the unstable political and economic state of Joseon [Korea] as a colony […] affected not only the growth of the film business but the culture industry overall.“ (ebd., S. 20) Selbst nachdem koreanische Filmemacher begannen, kommerzielle Filme zu produzieren, machten diese höchstens 5 % aller Filme aus, die während der Kolonialzeit (1910-1945) in Kinos liefen (ebd., S. 1).

Yi Ho-gŏls Studie belegt, dass das koloniale Korea „ein Teil des Marktes [war], der von den Zweigstellen der US-Filmgesellschaften verwaltet wurde, die nach Japan vorstießen“ (Yi 2010, S. 83). 1916 begann das Umigwan-Kino im Rahmen eines Sondervertrags mit Universal Pictures mit der Distribution amerikanischer Filme, während das Tansŏngsa-Kino und das Chosŏn-Kino westliche Filme über Shōchiku, eine japanische Vertriebsgesellschaft, einkauften (ebd., S. 83-85). Die Vertragsverhältnisse änderten sich in den 1920er-Jahren mehrfach, als amerikanische Filmverleiher wie Paramount, United Artists, MGM und Fox sowie japanische Konkurrenten, darunter Nikkatsu und Star Film, in Vermarktung und Vertrieb einstiegen (ebd., S. 86-91).

Die freizügige Darstellung von Sexualität war ein wichtiger Aspekt derjenigen Modernität,Footnote 7 die die Filme aus den USA und Europa für das koreanische Publikum im frühen 20. Jhd. zeigten. Insbesondere waren die koreanischen Zuschauer*innen fasziniert von den grafischen Darstellungen von Küssen und Umarmungen, da die öffentliche Sichtbarkeit von Liebesbekundungen nicht Teil der jahrhundertalten Sitten von Geschlechtertrennung und ehelicher Sexualität waren (vgl. Yoo 2008; Choi 2009; Lee 2014). Die Wirkung einer Kussszene auf das damalige Publikum lässt sich aus einer anonymen Analyse der amerikanischen Filme aus der Tageszeitung Chosŏn ilbo (hiernach CI) von 1928 erahnen:

„[Amerikanische Filme] werfen dem Publikum Kussszenen in Großaufnahme direkt ins Gesicht. Das Publikum kann dann gar nicht anders, als davon begeistert zu sein, als wäre man nur ins Kino gekommen, um diese eine Liebesszene zu sehen. Wie in der Komödie Komiker gebraucht werden, so werden in Zelluloidfilmen Zehntausende von Liebesszenen von unzähligen Liebesforschern […] eingebettet.“ (CI, March 6, 1928)

Während Liebestod (chŏngsa) oder Liebessuizid (yŏnae chasal) radikale Ausdrücke des Strebens nach der absoluten Liebe darstellten (vgl. Kwŏn 2003, S. 180-192), waren Liebesfilme wie z. B. Weit im Osten (1920) (vgl. Yi 2010, S. 99) und Die Nächte einer Schönen Frau (1923) nicht nur massentaugliches Konsumgut, sondern auch reichhaltiges Referenzsystem für Liebesenthusiast*innen, die in ihrem Alltag die romantische Liebe auf eine neue Art und Weise entdecken wollten. In einem Zeitungsartikel von 1935 über die Geschichte des Kusses heißt es, dass insbesondere zwei Hollywood-Stars, Rudolph Valentino und Adolphe Menjou, für die Koreaner*innen „Lehrer des Küssens (kissǔ ǔi sŏnsaeng)“ waren (TI, 28. Juni 1935). Ein Autor der populären Zeitschrift Samch’ŏlli (hiernach SC) erstaunte sich über seine Beobachtung, wie das Verhalten eines jugendlichen Paares „in einem unglaublichen Maße westlichen Filmen ähnelte“ (SC, Nov. 1936, S. 196). Das jugendliche Paar interagiere in einer verspielten Art und Weise, als würden sie ihr Zusammensein verbergen, obwohl dies offensichtlich sei (ebd.). Der Dramatiker Yi Sŏ-gu (1899-1981) beobachtete in ähnlicher Weise, wie Liebesbriefe junger Menschen jenes übertriebene Pathos aufwiesen, welches typisch für die Erklärungen von Filmerzähler*innen in Aufführungen von romantischen Filmen war (Pyŏlgŏn’gon; hiernach PG, Sept. 1929, 34). Nicht zuletzt wurden Kinobesuche als „die Lehre des Küssens“ (PG, Jan. 1927, S. 64) oder „Exkursion für die Liebe“ (PG, Feb. 1928, S. 121) verschmäht (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Eine Kussszene mit Edna Purviance (l.) und Adolphe Menjou (r.) aus dem Film Die Nächte einer Schönen Frau (A Woman of Paris © Roy Export S.A.S.) von Charlie Chaplin, der am 31. Januar 1926 im Seouler Tansŏngsa-Kino seine Premiere feierte (vgl. Shidae ilbo, Feb. 1, 1926)

Indem sie die Rhetorik und das Verhalten aus den Filmen übernahm, erkundete die jüngere Generation ihre Sexualität auf neue Weise. Dieser Enthusiasmus für die westlichen Liebesfilme stieß jedoch, wie bereits die vorherigen medialen Beispiele zeigen, auf Widerwillen. Insbesondere war die Kritik den Schülerinnen sichtbar, die bereits in den 1920er-Jahren „mehr als die Hälfte“ der Frauen im Kinosaal ausmachten (PG, März 1927, S. 94). In den späten 1920er-Jahren etablierte sich das Clichébild von koreanischen Schülerinnen, die in Kinos bei der Kussszene kreischen (ebd.; MS, 15. Dez. 1926). Der folgende satirische Beitrag von Yi Sŏ-gu für das Populärmagazin PG zeigt beispielhaft die Angst vor der affektiven Wirkung romantischer Filme und deren Gefahr für die Gesundheit der Schülerinnen. In der Vorstellung des Autors würden Schülerinnen, die häufig romantische Filme sahen, nicht nur in einer gescheiterten Romanze, sondern in einer „Geschichte von Prostitution und Schande“ enden:

„Wenn eine Liebesszene ihren Höhepunkt erreicht, ertönt ein jugendlicher Aufschrei des Damensitzes. Wir alle haben schon gesehen, wie die Zweit- oder Drittklässlerinnen der Mädchenschulen ihre Hände um die Taille der anderen gelegt haben und immer wieder ‚oh je!‘ [aigo] gerufen haben. Auf diese Weise haben sie große Chancen, mit ihrem Körper das Falsche zu tun. Da es sich um Jungfrauen handelt, die gerade sexuell erwachen, ist es unmöglich, dass ihr Verstand nach den süßen Erklärungen des Filmerzählers und der Liebesdemonstration auf der Leinwand ruhig bleibt. So explodiert das Verlangen nach dem anderen Geschlecht […] und [die Schülerinnen] gehen in Parks, auf die Insel Wŏlmido und in Kinos, um einen Liebhaber zu finden. Doch wenn sie aus dem Traum erwachen, haben sie nur eine Geschichte von Prostitution und Schande erlebt.“ (PG, Sept. 1929, S. 36)

Konkretere Ausführungen dieser geschlechterspezifischen „Schande“ sind einem Essay des Schriftstellers Pang In-gŭn zu entnehmen: Er behauptete, dass Schülerinnen besonders auf ihren Körper und ihren Geist achten müssten, weil sie „leicht der Romantik verfallen“ könnten (Tonggwang, Dez. 1931, S. 55). Wenn eine junge Frau „als eine verwelkte Blume“ in die Ehe gehen würde, so Pang, nachdem sie „alles Mögliche“ – m.a.W. vorehelichen Sex – erlebt habe, würde es „keine Chance für das Wohlergehen des Zuhauses“ geben (ebd.). Schülerinnen sollten vor allem „wertvolle Mütter werden, die das neue Korea gebären“, so dass jede Romanze vor der Heirat ihrem zukünftigen Heim schaden würde (ebd., S. 56). Sowohl Yi als auch Pang argumentierten hier, dass das Streben der Frauen nach Romantik und sexuellem Begehren zur Schande für sie und ihre Familien führe.

Die Erwartung an die jungen Frauen, keine sexuelle Erfahrung vor der Ehe zu haben, war zutiefst mit der konfuzianistischen Keuschheitspflicht für die Frauen verbunden (vgl. Lee 2014). Diese Geschlechtsspezifik wird noch deutlicher angesichts der Tatsache, dass die Kinobesuche von Schülern und jungen Männern in den 1920er-Jahren medial kaum thematisiert wurden. Wie die Historikerin Lee Sook-in aufzeigt, galt die Pflicht zur Keuschheit nur den Frauen (ebd., S. 34). Obwohl in den hier analysierten Medienbeiträgen aus den 1920er-Jahren durchaus darüber berichtet wurde, dass koreanische Männer bereits im jungen Alter Freier waren (vgl. CI, 15. Mai 1925; MS, 24. Nov. 1925; CI, 19. Mai 1927; MS, 16. Juni 1927; CI, 2. Dez. 1931; CI, 22. Feb. 1932), stieß ihr freizügiges Sexualverhalten im kolonialen Korea auf größeres Verständnis als das der Frauen.

Eine bemerkenswerte Tendenz der späten 1920er-Jahre bestand darin, dass Frauen auch in medizinischen Diskursen von Theater- und Kinobesuchen abgeraten wurde. Die medizinische Besorgnis um die Zuschauerinnen wurde mit Verweisen auf die pränatale Erziehung (t’aegyo) und die mentale Hygiene (chŏngshin wisaeng) der Frauen begründet. 1929 erläuterte die Tageszeitung TI in einem mehrteiligen Artikel über t’aegyo – „Die geistige Vorbereitung einer schwangeren Mutter auf die Geburt eines guten Kindes“ (TI, 29. Sept. 1929) –, dass die Gefühlslage der Schwangeren einen kritischen Einfluss auf den Fötus habe, und riet den Frauen, während der Schwangerschaft emotionale Ruhe ohne „Gefühlsturbulenz oder Begierde“ zu bewahren (ebd.). In ähnlicher Weise betonte Hŏ Shin, Gynäkologe an der Seouler Imperialen Universität, in einem Beitrag, dass „Dinge wie Spiele, Musik, Romane und Ähnliches, die die Emotionen stimulieren könnten“, schlecht für die Psychohygiene während der Schwangerschaft seien (TI, 16. März 1930).Footnote 8 Das Theaterviertel wurde hierbei von ihm besonders als Ort der Unruhe und somit für Schwangere ungeeignet hervorgehoben (ebd.). In einer weiteren Kolumne empfahl der Arzt schwangeren Frauen zusätzlich, Theater wegen der dortigen angeblichen Ansteckungsgefahr mit Infektionskrankheiten zu meiden (TI, 14. April, 1930).

Der Kontrolldebatte um die weibliche Lust am Unterhaltungskino lagen Erwartungen zugrunde, die vor allem an Frauen mit einem überdurchschnittlichen Bildungs- und Wohlstand gerichtet waren: keusch zu bleiben, standesgemäß zu heiraten und gesunde Kinder zu gebären. Im Gegensatz dazu wurden die Kinobesuche der Männer oder Kisaeng-Frauen selten problematisiert. Die Debatte weist somit eine sowohl geschlechts- als auch schichtspezifisch variierende Akzeptanz des Theater- und Kinobesuches auf. Die öffentliche Missgunst gegenüber den jungen, gebildeten Zuschauerinnen wurde durch psychologische und medizinische Argumente begründet, wonach besonders junge Frauen anfällig seien für die affektive Kraft der filmischen Darstellung von Romantik. Deren Kinobesuche beschädige das Wohlergehen der zukünftigen Familien und Kindern. Diese Debatte veranschaulicht die Spannung zwischen dem Enthusiasmus für die romantische Liebe, der die Jugendkultur der 1920er-Jahren prägte, und der eugenischen Biopolitik, die zunehmend in den kolonialen Alltag eindrang. Dieses Spannungsverhältnis wird im folgenden Teil näher beleuchtet.

3 Im Namen der Liebe

Die Begeisterung für westliche Liebesfilme in den 1920er-Jahren ist Ausdruck für eine Zeit, in der die junge Generation die herkömmlichen Vorstellungen von Sexualität und Familienleben in Frage stellte. Die Literaturwissenschaftlerin Kwŏn Podŭrae weist auf den Willen zur gesellschaftlichen Reform (kaejo) unter den Jugendlichen nach der landesweiten Widerstandsbewegung 1919 hin, um den Boom der romantischen Liebe (yŏnae) in den frühen 1920er-Jahren zu erklären (Kwŏn 2003, S. 8). Maßgeblich für die Popularisierung des Konzepts der romantischen Liebe seien vor allem drei Faktoren gewesen: Erstens gewann das Thema durch den Neologismus yŏnae an Bedeutung. Yŏnae bezog sich ausschließlich auf die romantische Beziehung, während andere verwandte koreanische Wörter eine patriotische, kindliche oder religiöse Konnotation hatten (Kwŏn 2003, S. 15; vgl. Peng 2010, S. 189). Zweitens wurde die Liebe durch die breite Rezeption der schwedischen Autorin Ellen Key (1849-1926) zu einem relevanten Thema für den sozialen und politischen Reformdiskurs in Korea (Kwŏn 2003, S. 105). Drittens lösten manche jungen Koreaner*innen hitzige Debatten in den Medien aus, indem sie freizügiger lebten (Kwŏn 2003, S. 132).

Die Historikerin So Hyŏn-suk weist darauf hin, dass die romantische Liebe für gebildete Koreaner*innen nicht nur für eine neuartige Beziehungsform, sondern auch für eine Emanzipation von familiären Zwängen stand (So 2017, S. 253). Indem die jungen Menschen die erfüllende Liebesbeziehung als ihr Lebensziel verabsolutierten und verfolgten, konnten sie sich dem Druck, bereits im jungen Alter eine unbekannte Person zu heiraten, um die Familienlinie fortzuführen, entziehen (vgl. ebd.). Hierbei spielte Keys Konzept der freien Scheidung eine entscheidende Rolle. Es besagt, dass zwar „als leitender sittlicher Grundsatz […] die Einheit der Ehe und der Liebe unerschütterlich festgehalten werden [muss]“ (Key 1905, S. 24), jedoch die lieblose Ehe einen größeren Schaden als die Scheidung verursache (vgl. ebd., S. 321). Inspiriert vom Konzept der romantischen Liebe und der freien Scheidung ließen sich zahlreiche gebildete Männer von ihren Ehefrauen scheiden, mit welchen sie meist schon als Kind unter elterlichen Druck verheiratet wurden. Diese Entwicklung wurde ab den frühen 1920er-Jahren als gesellschaftliches Problem diskutiert (So 2017, S. 254-259). Jüngere gebildete Männer bevorzugten die sogenannten „Neuen Frauen“ (shin yŏsŏng) als ihre neuen Liebespartnerinnen (ebd., S. 255-256). Im engeren Sinne bezog sich der Begriff der Neuen Frau auf „Frauen, die mindestens die Mittelschule absolvierten“ (Chu 1934; zit. nach Kwŏn 2003, S. 63) oder Frauen, die die koreanische Gesellschaft reformierten (Kim 2009, S. 218), indem sie in ihre individualistische Entwicklung und intellektuelle Bildung investierten, sich in sozialen Bewegungen aktiv einsetzten sowie sich von der herkömmlichen Sexualmoral befreiten (vgl. ebd., S. 240-266). Im Alltag wurde die Neue Frau jedoch als ein Synonym verwendet für diejenigen, die sich westlich ankleideten (Kwŏn 2003, S. 67). Tageszeitungen wie TI und CI berichteten von Ehefrauen, die von ihren gelehrten Ehemännern verlassen wurden und verzweifelt versuchten, die Schulbildung nachzuholen (So 2017, S. 256-257). Laut Kwŏn „verkörperten die Neuen - und Alten Frauen (kushik puin) jedoch komplett unterschiedliche Sensibilitäten, Ethik und Gewohnheiten“, die nicht auf die moderne Schulbildung reduziert werden konnten (Kwŏn 2003, S. 76).

Betrachtet man die Tatsache, dass Key in Japan und Korea kaum als Eugenikerin bekannt war, zeigt sich die (durchaus ironische) Paradoxie, dass das Streben nach der wahren, absoluten Liebe unter den gebildeten Koreanern einem eugenischen Ideal nahekam. Zu dem Missverständnis über Key in Korea trug Kuriyagawa Hakusons Bestseller Moderne Sicht auf die Liebe (1922) maßgeblich bei (Yu 2012, S. 142), da dieses Buch auch im kolonialen Korea eine große Verbreitung fand (SC, Sept. 1929, S. 31). In seinem Werk stellte Kuriyagawa Key als Verfechterin einer „Absolutheit der Liebe“ dar, und attestierte Key, dieser absoluten Liebe den höchsten Stellenwert zuzuschreiben (Kuriyagawa 2010, S. 32). Was sie jedoch verabsolutierte, war nicht die Liebe, sondern die Evolution der Menschheit aus sozialdarwinistischer Perspektive. Für sie galt die Liebe lediglich als ein Mittel zur Verbesserung der Menschheit als Gattung. So kritisierte Key explizit Menschen, die „ihrem subjektiven Gefühl auf Kosten des künftigen Geschlechts“ folgen und „ihre Liebe als Selbstzweck“ behandeln (Key 1905, S. 19). Key betonte, dass der Kinderwunsch einzelner Menschen kontrolliert werden sollte: „Es ist außer aller Frage, dass der Trieb des einzelnen, in der Gattung fortzuleben, beherrscht werden muss, um lebenssteigernd, nicht leben-verheerend zu werden“ (ebd., S. 45-46). Selbst wenn man frei nach Liebespartner*innen suchen und Kinder bekommen wolle, müsse dies, so Key, „unter Bedingungen [geschehen], die der Gattung günstig sind; Begrenzung nicht der Freiheit der Liebe, wohl aber der Freiheit des Kinderzeugens unter Bedingungen, die der Gattung ungünstig sind – dies ist die Lebenslinie“ (ebd., S. 162).

Mit Blick auf diesen ambivalenten intellektuellen Einfluss von der Eugenik auf die diskursive Konstruktion einer individualisierten Liebes- und Beziehungsform, kann die angeblich emanzipatorische Praxis der romantischen Liebe im kolonialen Korea der 1920er-Jahren auch als ein Versuch privilegierter, gebildeter Männer mit hohem Bildungsstand bewertet werden, eine neue Liebhaberin zu finden, die dem (Selbst‑)Bild und Ideal des modernen koreanischen Mannes entspricht. Die Tatsache, dass die Männer, die die öffentlichen Diskurse im kolonialen Korea dominierten, sich die Neuen Frauen als ihre idealen Partnerinnen vorstellten, wirft ein anderes Licht auf die öffentliche Aufregung über die Kinozuschauerinnen in den 1920er-Jahren. Die Männer versuchten letztendlich die Sexualität derjenigen Frauen einzuschränken und zu kontrollieren, nach denen sie sich selbst sehnten.

4 Die eugenische Bewegung im kolonialen Korea

Die geschlechts- und schichtspezifische Besorgnis über die Gesundheit der koreanischen Frauen, die sich in den öffentlichen Beiträgen über die Kinobesucherinnen erkennen lässt, gewann in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre durch die Eugenik eine wissenschaftliche Sprache und argumentative Untermauerung. Der sozialdarwinistische Grundgedanke, der als Nährboden für die Rezeption der Eugenik diente, wurde bereits ab 1896 durch die aufklärerische Zeitung Tongnip shinmun in Korea bekannt gemacht (Tikhonov 2010, S. 59). Basierend auf seiner Analyse der intellektuellen Strömungen des späten 19. und frühen 20. Jhdts. in Korea stellt der Historiker Vladimir Tikhonov fest, dass der Sozialdarwinismus „as a common, unifying mode of thinking for almost all the major groups and personalities of the modernization-oriented intelligentsia“ in jener Zeit an Bedeutung gewann (ebd., S. 8). Im Kern der rapiden Verbreitung jenes Weltbildes stand der Glaube, dass die koreanische Nation sich inmitten des „Überlebenskampfes“ gegen andere Nationen befinde und diesen zu gewinnen habe (ebd., S. 13). Die Eugenik selbst wurde auch ab den späten 1910er-Jahren als „Volksverbesserungswissenschaft (minjok kaesŏnhak)“ oder „Rassenverbesserungswissenschaft (injong kaesŏnhak)“ über Japan in Korea eingeführt (Shin und Chŏng I. 2019, S. 44). Doch die faschistische BiopolitikFootnote 9 wurde in den späten 1920er-Jahren im damaligen global politischen Kontext und mit Blick auf natur- und humanwissenschaftliche Entwicklungen und nicht zuletzt dem innerkoreanischen Streben nach Leistungssteigerung zu einem relevanten und präsenten Thema in koreanischen Zeitungen und Zeitschriften. Ein Einblick in die Diskursivierung der Eugenik im kolonialen Korea regt somit an, den Diskurs über Kinozuschauerinnen und ihre Gesundheit als einen komplexen sozio-politischen Aushandlungsprozess zu betrachten.

Zu den Akteur*innen, die den eugenischen Diskurs im kolonialen Korea maßgeblich beeinflussten, zählten sowohl die japanische Regierung als auch einzelne Eugeniker*innenFootnote 10 und koreanische Organisationen, vor allem der Geschäftsförderungsclub (Hŭng’ŏp kurakbu) und die Koreanische Eugenische Vereinigung (KEV). Im Juni 1926 verkündete das japanische Innenministerium, dass es eine sog. „Rassenverbesserungspolitik“ entwickle, die auf den „Ausschluss schlechter Elemente“ und die „Vermehrung guter Elemente“ abziele (TI, June 3, 1926). Die TI berichtete:

„Das Innenministerium plant, Migration und Kolonisierung als Lösung für das Bevölkerungsproblem zu festigen und zu fördern, und untersucht gleichzeitig die Rassenverbesserung (chongjok kaeryang) unter Berücksichtigung der nationalen Hygiene (minjok wisaeng). Laut der Studie des Hygieneministeriums zielt die erbliche Rassenverbesserung auf 1. den Ausschluss schlechter Elemente und 2. die Vermehrung guter Elemente ab. [Die Studie] nennt A. die Unterbrechung der Fortpflanzung durch Kleinkinder und B. die Unterbrechung der Fortpflanzung bei Krankheit als vorübergehende Methoden [der Rassenverbesserung] und schlägt A. das Verbot der Heirat und B. die Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit für die grundlegende [Rassenverbesserung] vor. Zur Verbesserung der Rasse nach der Geburt soll 1. Sport und 2. Hygiene betrieben werden. Da die unmittelbare Verbesserung ganz vom Erwachen der Nation abhängt, [schlägt die Studie vor, dass der Staat] Sterilisationsoperationen durchführt oder die Heirat von Leprakranken und Geisteskranken per Gesetz verbietet. Da das Heiratsverbot für Leprakranke unerlässlich ist, um die Lepra zu beenden, plant das japanische Parlament, dieses Gesetz einzubringen. Da das Heiratsverbot für Geisteskranke und andere ebenfalls eine Gesetzgebung erfordert, konsultiert [die japanische Regierung] die Gesetze der einzelnen Bundesstaaten in Amerika.“ (TI, June 3, 1926).

Parallel zur Etablierung der Eugenik als politisches Prinzip einer „Rassenverbesserungspolitik“ in Japan, die sich sowohl als leichte eugenische Gesundheitspolitik sowie auch harte Intervention in die Reproduktion mit Gesetzesentwürfen und Implementierungsplänen zu Zwangssterilisationen, Eheverboten etc. niederschlug, wurde die Eugenik ab den späten 1920er-Jahren auch im kolonial koreanischen Diskurs zunehmend einflussreich. Insbesondere waren die Mitglieder des Geschäftsförderungsclubs, der 1926 in Seoul gegründet wurde, in der koreanischen eugenischen Bewegung aktiv. Das Ziel dieses Clubs, die japanische Kolonialherrschaft durch ökonomische Leistungssteigerung der koreanischen Nation zu überwinden (Kim K. 2011, S. 240-241), teilte (paradoxerweise) denselben sozialdarwinistischen Grundsatz wie die sich zum Teil auf den Sozialdarwinismus beziehende japanische Kolonialherrschaft, nämlich das „Überleben des Tüchtigsten“ (vgl. Tikhonov 2010, S. 210-214). Gemäß dieser Logik betrachteten die Mitglieder jenes Clubs nicht die imperialistische und rassistische Expansionspolitik Japans, sondern stattdessen die „mangelhafte Leistung“ des koreanischen Volks als die wesentliche Ursache der Kolonialisierung (Yang 2008, S. 114). Yang weist darauf hin, dass genau jene sogenannte „Leistungssteigerungsthese (shillyŏk yangsŏng ron)“ und deren Vertreter*innen in den 1930er-Jahren von der japanischen Assimilierungspolitik vereinnahmt wurden (ebd., S. 117-118).

Während der Geschäftsförderungsclub im wirtschaftlichen Bereich die koreanische Nation überlebensfähiger machen wollte, verfolgte die KEV dasselbe Ziel im medizinischen Bereich. Die KEV wurde am 14. September 1933 in Chiyoda Grill nahe des Seouler Südtors gegründet (Usaeng; hiernach US 1933, S. 37). Neben dem Vorsitzenden gab es zwölf Vorstandsmitglieder und einen Vorstandsrat sowie zahlreiche Berater*innen und Geschäftsführer*innen (US 1933, S. 36). 30 von 85 Initiator*innen der KEV waren auch in die Aktivitäten des Geschäftsförderungsclubs involviert (Shin 2006, S. 135), darunter Yun Ch’i-ho, der als Herausgeber der Tongnip shinmun den Sozialdarwinismus propagierte, und Yi Kap-su, der mittels Medienbeiträgen das koreanische Publikum mit der Eugenik vertraut machte.Footnote 11 So bekleidete Yun das Amt des Vorsitzenden und Yi des geschäftsführenden Direktors der KEV (US 1933, S. 37). 45 Gründungsmitglieder des KEV hatten im Ausland studiert (25 Mitglieder absolvierten das Medizinstudium vollständig im Ausland), womit ein starker Einfluss des westlichen medizinischen (Eugenik‑)Diskurs verbunden war (Shin 2006, S. 135). Zugleich spiegelt sich hier die elitäre Eigenschaft der Mitglieder, die sowohl die Art als auch die Inhalte ihrer Aktivitäten bestimmten, wider.

Den Kern der KEV-Aktivitäten bildete die Öffentlichkeitsarbeit. Da die Mitglieder der KEV im Journalismus, im Erziehungs- und Bildungssektor und in der Politik tätig waren (Shin 2006, S. 136), konnten sie für die Verbreitung der Eugenik öffentliche Vorträge, Rundtischgespräche, Beratungen, Beiträge für Zeitungen und Magazinen sowie die eigene Zeitschrift Usaeng (=Eugenik; ebd., S. 137) nutzen. So finanzierte TI im Januar 1935 Vorträge der KEV über Geschlechtskrankheiten, Sport, t’aegyo und Geburtenkontrolle, im April 1936 veröffentlichte die Zeitung Chosŏn chung’ang ilbo Vorträge über Methoden, kräftige und gesunde Kinder zu bekommen sowie über das Konzept der eugenischen Ehe (ebd., S. 137).Footnote 12

Die KEV wurde zu einem Zeitpunkt gegründet, als sich die nationale Leistungssteigerungsthese argumentativ an die Positionen der Kolonialmacht annäherte (Yang 2008, S. 104-105). Aus den analysierten Quellen über die Aktivitäten der KEV lassen sich ähnliche intellektuelle Positionierungen und politische Plädoyers für eine als durchaus faschistisch einzuordnende Biopolitik erkennen (vgl. Dickinson 2004). Ein eindrückliches Beispiel dieser unkritischen Haltung gegenüber dem Faschismus war Yi Kap-sus koreanische Übersetzung des deutschen Sterilisationsgesetzes Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (1933), die ohne jegliche kritische Distanzierung in der ersten Ausgabe von Eugenik erschien (Yi 1934, S. 32-34). Die (ideologische) Annäherung der KEV an die japanische Kolonialregierung zeigte sich zudem auch nicht zuletzt in den späten 1930er-Jahren durch die Kollaboration der Schlüsselfiguren der eugenischen Vereinigung Yun und Yi mit dem ultranationalistischen Japan (Shin 2006, S. 149; Shin und Chŏng I. 2019, S. 73). Vor dem Hintergrund dieser Aktivitäten der zentralen Akteure der Eugenik im kolonialisierten Korea stellt sich nun die Frage, wie die elitären und faschismusnahen Aktivitäten der Eugeniker*innen konkret jenen Diskurs über die Lust und Sexualität der koreanischen Frauen formten, welcher in der Debatte über Schülerinnen in Kinos zum Ausdruck kommt.

5 Die eugenische Ehe zwischen dem heilen Zuhause und der infektiösen Halbwelt

Geschlechtskrankheiten, im kolonialen Korea oft „Krankheit der Halbwelt“ (hwaryubyŏng) genannt, wurden ab den 1920er-Jahren im Zusammenhang mit der Eugenik diskutiert. Dies geschah unter anderen vor dem Hintergrund einer zunehmenden Herausforderung der Gesundheitsversorgung durch den Anstieg an sexuell übertragbaren Krankheiten. Nach den Statistiken des Krankenhauses des Generalgouvernements (Kolonialadministration) wurden 20 % der Patient*innen zwischen 1914 und 1926 wegen Geschlechtskrankheiten behandelt (Kim M. 2006, S. 392). Damit lagen sie vor Verdauungsproblemen (19,5 %) und Atemwegserkrankungen einschließlich Tuberkulose (18,7 %) (ebd.).

Eine Besonderheit des Diskurses über Geschlechtskrankheiten war ihre symbolische wie linguistische Verortung in der sogenannten „Halbwelt (hwaryugye)“, die dem „Zuhause/Familie (kajŏng)“ diametral entgegengesetzt wurde. Ein typisches Beispiel für diese diskursiv und symbolisch konstruierte Dichotomie stellt der Vortrag des Christlichen Vereins Junger Menschen (CVJM) im Mai 1921 dar. Die Organisation verfolgte das Ziel, Jugendliche vor sexuell übertragbaren Krankheiten zu warnen (TI, 15. Mai 1921). Dabei betonte der CVJM, dass Geschlechtskrankheiten „den Nachfahren Schaden anrichten werden“, und man sich deswegen davor schützen sollte, um „die Zukunft unserer Nation zu retten“ (ebd.). Bemerkenswerterweise zählte die Jugendorganisation das (Film‑)Theater zu den „schändlichen Orten“, die genau wie das „Rotlichtviertel in Shinjŏng, Kisaeng-Läden und Kneipen“ die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten beschleunige (ebd.). Diese Orte wurden demnach als konkrete Beispiele der „Halbwelt“ angeführt, die in vermeintlich aufklärerischen Vorstellungen von Sexualität, Gesundheit und Hygiene als Gegenpole zur koreanischen Nation und Familie erklärt wurden.

Da eine tatsächliche gesetzliche Implementierung der Eugenik mittels eines Zwangssterilisierungsgesetz (tanjongbŏp) und durch Eheberatungsstellen im kolonialen Korea unwahrscheinlich war, warben die koreanischen Eugeniker*innen in den Medien eifrig für die private Umsetzung ihres Ehemodells. Ihre Beiträge fungierten als eine Art kollektive Beratung für die eugenische Ehe, da sie durch konkrete Anweisungen in Artikeln und publizierten Vorträgen Wissenslücken zu füllen versuchten. Dies geschah, indem sie im öffentlichen Diskurs das Thema Eheleben und Reproduktion besetzten und es aus der eugenischen Sicht uminterpretierten. Dabei bedienten sich die Eugeniker*innen der symbolischen Dichotomie zwischen Halbwelt und Familie, um entsprechende Forderungen und Erwartungen formulieren zu können. Obwohl die Lebenswelten der koreanischen Frauen der 1920er und 1930er sich nicht auf einzelne Räume und Orte beschränkten, sondern ganz im Gegenteil, wie am Theater und Kino deutlich wurde, hier Frauen unterschiedlicher Schichten zusammentrafen, dienten die Kategorien der Halbwelt und des Zuhauses einer klaren räumlichen Zuordnung und Zuschreibung bestimmter Orte mit (eugenischen) Handlungserwartungen.

Für die Frauen, die nicht der Halbwelt zugeordnet wurden und denen im Idealfall aufgrund von Bildungsniveau und finanziellem Wohlstand eine gewisse Respektabilität attestiert wurde, propagierten die koreanischen Eugeniker*innen ab der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre die sogenannte eugenische Ehe als erstrebenswerten Lebensweg. Insbesondere betonten sie die Bedeutung der Auswahl des richtigen Ehepartners für die Gründung einer Familie und damit für das Ziel des Aufbaus der Nation auf der Grundlage körperlicher und geistiger Gesundheit. So verglich der Arzt Yi Kap-su, der in Deutschland und den USA ausgebildet worden war, in einem Sonderbeitrag unter dem Titel „Ein gesunder Ehepartner ist der erste Schritt zur häuslichen Hygiene“ die Ehe und die Fortpflanzung mit dem Gartenanbau, um die Bedeutung der Erbgesundheit für die Ehe zu unterstreichen:

„Wenn wir über häusliche Hygiene sprechen, diskutieren über wir Kleidung, Essen und Wohnen aus einer sanitären Perspektive, aber dies ist nicht gründlich genug […]. Um die Gesundheit der Familie zu verwirklichen, was das Ziel der häuslichen Hygiene ist, sollten wir als erstes danach streben, dass die Familienmitglieder [Ehepartner mit] einen gesunden Körper und gesunde Erbanlagen bekommen. Mit anderen Worten: es ist so, als ob man die Bäume verbessern muss, um Früchte von guter Qualität zu erhalten.“ (CI, 6. Jan 1928)

Laut Yi sei das „Erreichen einer gesunden Konstitution und [gesunden] Rasse der Nachkommen“ das Ziel der Ehe (ebd.). Dabei vertrat der Mediziner die Ansicht, dass ein Körper, der frei von Geschlechtskrankheiten ist, der Schlüssel zur Verwirklichung der Rassenhygiene sei, da einige Geschlechtskrankheiten an die Nachkommen vererbt würden und angeborene Störungen verursachen könnten:

„In der Regel steckt sich der Ehemann mit Syphilis oder Tripper an und infiziert seine Frau; gleichzeitig werden [diese Krankheiten] von der schwangeren Mutter an die Kinder weitergegeben, so dass die Nachkommen mit den Krankheiten infiziert werden. Schließlich kann ein Familienmitglied oder ein Blutsverwandter in eine beklagenswerte Situation geraten.“ (ebd.)

Außerdem behauptete der Mediziner, dass „die Trunkenheit der idealisierten romantischen Liebe (yŏnae)“ (ebd.) ein Hindernis für die eugenische Ehe sei, da sie zu Infektionen mit Geschlechtskrankheiten führen könne. Somit platzierte er Sexualität, Ehe und Reproduktion in den Kontext der Eugenik, die sich von den bisherigen Bezugsrahmen – der konfuzianistischen Moralvorstellung oder dem individuellen Glück – unterschied. In einem ähnlichen Beitrag für das populäre Magazin PG 1928 beteuerte der Sozialpädagoge Ch’oe Tu-sŏn (1894-1974), dass „man es [die Reproduktion] nicht dem Zufall überlassen kann, wenn man ernsthaft über die Zukunft der Nation nachdenkt“, und forderte „die Reduzierung der Zucht der uninteressantesten Personen in der Nation (minjok chŏk pŏnshik)“ sowie „die Vermehrung der Zucht viel besserer Personen in der Nation“ (PG, Feb. 1928, S. 140).

Die Spannung, die die Unmöglichkeit der Trennung zwischen dem Zuhause und der Halbwelt verursachte, war eindeutig spürbar im Diskurs über die eugenische Ehe. Während die Zugehörigkeit von Frauen im eugenischen Diskurs eindeutig der Halbwelt oder des familiären Zuhauses zugeordnet wurden, waren es die koreanischen (Ehe)Männer, die sich als Freier in der sog. Halbwelt mit Sexualkrankheiten infizierten und somit die symbolische wie räumliche Trennung im eugenischen Diskurs unterliefen. Wie aus einem Artikel von 1930 in PG deutlich wird (PG, May 1930, S. 69), waren sexuelle Kontakte mit unregistrierten Prostituierten (meist über den Besuch von entsprechenden Cafés) und damit Infizierung mit Geschlechtskrankheiten bereits unter Schülern üblich. So wurde 1934 der Fall eines 15-jährigen Schülers bekannt, der mit einer Kellnerin Geschlechtsverkehr hatte und sich mit Syphilis angesteckt hatte (vgl. PG, April 1934, S. 29-31). 1938 stellte eine Berufsschule bei einer Gesundheitsuntersuchung fest, dass 10 % der Bewerber im Alter von 18 bis 19 Jahren bereits Geschlechtskrankheiten hatten (CI, 5, März 1938).

Die koreanischen Eugeniker*innen reagierten mit stiller Akzeptanz auf das Problem der hohen Zahl an Freiern und der damit verbunden Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten. Umgekehrt wurden die Ehefrauen mit der Realisierung der eugenischen Ehe beauftragt und gleichzeitig eine strengere medizinische Kontrolle der Prostituierten und anderer „Frauen der Halbwelt“ propagiert. In Anbetracht des Problems betonten die Beiträge über die eugenische Ehe, die fast ausschließlich in der Zeitungsrubrik „Frauen“ oder in den Frauenmagazinen erschienen und Frauen adressierten, die Wichtigkeit, Männer ohne Geschlechtskrankheit zu ehelichen.Footnote 13 Beispielsweise befragte das Frauenmagazin Shin Kajŏng (hiernach SK) für die Sonderausgabe zum Thema Sexualaufklärung 15 Ärzt*innen, medizinisches Fachpersonal und sechs Prominente, was Frauen tun sollten, um keinen geschlechtskranken Mann zu heiraten (SK, Sept. 1936, S. 32-38). 19 der 21 Befragten empfahlen den Frauen, von ihren Partnern eine medizinische Untersuchung bzw. ein ärztliches Attest vor der Eheschließung einzufordern (ebd.). Die Befragten legitimierten die Notwendigkeit der ärztlichen Untersuchung mit dem Wohlergehen des Volkes: Sie wäre „sowohl für das eheliche Glück als auch für die Volkshygiene ein selbstverständlicher Schritt“, so eine Ärztin (ebd., S. 33). Die ärztliche Untersuchung einschließlich des Bluttests stellte auch eine pragmatische Lösung dar, weil Geschlechtskrankheiten wie Syphilis ansonsten nicht ohne Weiteres festgestellt werden konnten (ebd.).

Einige Befragten schlugen noch weiterführende Schritte für die eugenische Ehe vor. Zum Beispiel forderte der Maler Yi Yŏ-sŏng, dass grundsätzlich bei jeder Ehe eine ärztliche Bestätigung beigefügt werden sollten (ebd., S. 36). Yun Po-sŏn, der spätere Präsident Südkoreas (1960-1962), plädierte für die Ausweitung der Untersuchung auf Erbkrankheiten im Allgemeinen (ebd., S. 34). Chŏng Ku-ch’ung, ein Arzt und Mitglied der KEV, fügte hinzu, dass die Frauen auch wissen sollten, was sie zu tun hätten, wenn bei ihrem Bräutigam eine Geschlechtskrankheit festgestellt werden sollte. Denn: „nur ca. 50 % aller Männer um die 30 haben keine Geschlechtskrankheit“ (ebd., S. 33). Dieser Artikel wurde abgerundet mit einem Erfahrungsbericht eines Ehepaars (ebd., S. 38). Dass dieses Paar „Gesundheitsurkunde und Tagebücher statt des Familienstammbaums“ als „den kräftigsten Beleg“ ihrer Gesundheit und Verhaltensweise für die Eheschließung austauschte (ebd.), zeigt, wie in Teilen des kolonialen Koreas als Maßstab bei der Entscheidung zur Eheschließung der Familienrückhalt nach und nach durch Gesundheitsnachweise verdrängt wurde.

Ein weiteres Beispiel für die Beauftragung der Frauen als Verantwortliche für die Realisierung der eugenischen Ehe war der zehnteilige Sonderbeitrag des Arztes Oh Wŏn-sŏk, der zwischen dem 7. und 18. Dezember 1932 in der Damenrubrik der CI mit dem Titel „Diverse Geschlechtskrankheiten zerstören das Zuhause und die Gesellschaft. Die Hausfrauen sollten den großen Schaden vermeiden, indem sie die Geschlechtskrankheiten ihrer Ehemänner vorbeugen“ erschien. Das spätere Gründungsmitglied der KEV (vgl. Shin 2006, S. 136) rief die Frauen dazu auf, ihr Wissen über Geschlechtskrankheiten zu erweitern und die richtige Wahl des Ehepartners zu treffen bzw. ihre sexuelle Gesundheit in der Ehe zu kontrollieren. Er informierte die koreanischen Leserinnen über die Ansteckungswege, Symptome, Heilmittel und Gefahren der Gonorrhoe, die häufig von Ehemännern auf Ehefrauen übertragen wurde. Statt die Männer zu adressieren, die sich gewohnheitsmäßig als Freier mit Geschlechtskrankheiten infizierten, wies Oh auf das Unwissen der koreanischen Frauen hin und schilderte, welche Gefahr es für ihr Zuhause darstelle.

„Geschlechtskrankheiten machen nicht nur keinen Halt vor Frauen aus der Halbwelt oder vor Männern, die ihnen nahestehen, sondern schaden auch guten und klugen Hausfrauen sowie unschuldigen Kindern. Wie erbärmlich, dass die meisten koreanischen Hausfrauen nicht einmal die Ursache für ihr Leiden kennen.“ (CI, 7. Dez. 1932)

Für die Frauen, die für die eugenische Ehe verantwortlich sein sollten, galt eine strengere Kontrolle über Körperhygiene und Sexualität, während die Männer seltener aufgefordert waren, ihr Verhalten zu verändern. So beschuldigte Oh die Prostituierten als „Ursprung der Geschlechtskrankheiten“ (CI, 13. Dez. 1932) und forderte deren strenge Kontrolle, jedoch erklärte er, dass „die Abschaffung der lizenzierten und nicht-registrierten Sexarbeit in der koreanischen Gesellschaft unmöglich“ sei (ebd.). Stattdessen forderte er als Präventivmaßnahmen für Männer lediglich „eine bessere Aufklärung über Sex“ (CI, 14. Dez. 1932) im jugendlichen Alter und „die Verwendung eines Kondoms“ (ebd.). Gleichzeitig forderte der Eugeniker die Leserschaft auf, die Hygiene und das Verhalten der Töchter von klein auf streng zu überwachen. Um eine indirekte Ansteckung mit Gonorrhoe zu vermeiden, riet er den Eltern, „das Holzbrett, das als Sitz verwendet wird, zu waschen, bevor die Mädchen sich hinsetzen, und sie in öffentlichen Bädern zu waschen“ (CI, 9. Dez. 1932).

Wenngleich die Anzahl gering war, gab es auch Beiträge, die die systematische Gesundheitskontrolle der Männer forderten. In einem Zeitungsbeitrag von 1920 plädierte die Ärztin Hŏ Yŏng-suk für die gesetzliche Meldepflicht der geschlechtskranken Männer und deren Exklusion von der Eheschließung für einen begrenzten Zeitraum (TI, 10. Mai 1920). Denn sie habe wiederholt beobachtet, „wie unschuldige Jungfrauen kurz nach der Ehe Syphilis melden“ und Kleinkinder wegen der Gonorrhoe ihrer Eltern erblindeten (ebd.). In ähnlicher Weise kam ein serialisierter TI-Artikel von 1927 zu dem Schluss, dass die Präventivmaßnahmen, die sich ausschließlich auf die Prostitution von Frauen konzentrierten, die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten nicht aufhalten würden, wenn die Männer ihr Verhalten nicht änderten (TI, 13. Feb. 1927). Der Artikel wies darauf hin, dass durch die Männer, die Sex kauften, „Geschlechtskrankheiten auch in das unschuldige und friedliche Heim eindringen“ (TI, 13. Feb. 1927). Als Lösung riet der Artikel den Männern dazu, vor ihrem 25. Lebensjahr zu heiraten, um nicht in Versuchung zu geraten, in die Rotlichtviertel zu gehen (TI, 14. Feb. 1927). Darüber hinaus forderte der Artikel die Männer auf, auch dann keinen Sex zu kaufen, wenn ihre Frauen krank wurden oder Kinder zur Welt brachten, was im Umkehrschluss die zu dieser Zeit weite Verbreitung der Käuflichkeit von Sex durch verheiratete Männer deutlich aufzeigt (ebd.).

Auf die Infektion des Fötus in der Gebärmutter (t’aenae kamyŏm) hinzuweisen, war ein wirksames Mittel, um koreanische Frauen für die Ansteckung ihrer Kinder mit Geschlechtskrankheiten genauso verantwortlich zu machen wie ihre Ehemänner. In ihrem Artikel für die Frauenzeitschrift Yŏsŏng (hiernach YS) schilderte die Ärztin Chang Mun-Kyŏng, wie Geschlechtskrankheiten die generativen Funktionen der Frauen und die Gesundheit der Kinder beeinträchtigten. Sie erklärte, dass der Embryo „unheimlich und ekelhaft“ werde und schließlich tot geboren werde, wenn die Mutter eine Geschlechtskrankheit auf ihn übertrage (YS, June 1936, S. 46). Außerdem ging sie davon aus, dass Kinder, die sich mit Syphilis anstecken, entweder arbeitsunfähig oder kriminell würden, wenn sie erwachsen sind, was die Frauen unter noch größeren moralischen Druck setze (ebd., S. 47). Obwohl die Ärztin Geschlechtskrankheiten als „himmlische Strafe für Männer, die das Rotlichtmilieu betreten“ definierte und den Ehemann als Zwischenwirt bezeichnete, argumentierte sie, dass auch die Frauen (mit)verantwortlich seien, wenn Babys mit Geschlechtskrankheiten geboren würden: „Das Kind ist nicht schuld, sondern […] die Eltern“ (ebd., S. 46-47).

Während die Vorsichtsmaßnahmen und die Aufklärungsarbeit auf die Frauen außerhalb der Sexarbeit fokussiert waren, galten die Prostituierten, Kisaeng, Barmädchen und Kellnerinnen nicht als Personen, die Pflege und Schutz benötigten, sondern als ein Risiko, das es zu regulieren und kontrollieren gilt (vgl. Kang 2009, S. 90). Als Reaktion auf ansteigende Infektionszahlen von Geschlechtskrankheiten erweiterte die Kolonialregierung die Untersuchungspflicht von Kisaeng-Frauen und Prostituierten auf die Angestellten in Cafés und Bars sowie Hostessen in Restaurants in den 1930er-Jahren (Kang 2009, S. 111). In Anbetracht der Tatsache, dass sie nicht einmal die Freiheit hatten, männliche Freier mit Geschlechtskrankheiten abzulehnen oder ihre Arbeit aufgrund ihrer Geschlechtskrankheiten aufzugeben, setzte eine solche Kategorisierung den Teufelskreis fort, in dem Sexarbeiterinnen ungeschützt Geschlechtskrankheiten ausgesetzt waren und gleichzeitig für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten bestraft wurden (vgl. TI, 14. Feb 1927).Footnote 14

6 Schluss

In diesem Beitrag wurde der soziale und politische Hintergrund im kolonialen Korea der 1920er- und 1930er-Jahre betrachtet, welcher die gemeinsame Grundlage bildete sowohl für die mediale Kritik an Schülerinnen, die sich westliche romantische Filme in Theater und Kinos ansahen, als auch für einen sich selektiv auf die Kontrolle und Regulation der Sexualität von Frauen fokussierenden eugenischen Diskurs. Die Filme aus den USA und Europa enthielten oft grafische Darstellungen körperlicher Intimität wie Kuss- und Umarmungsszenen, weshalb sie im kolonialen Korea der 1920er und 1930er-Jahre als Medium der Sexualität und der Erotik angesehen wurden. Diese Filme trafen den Nerv der Zeit, in der das neue Konzept von romantischer Liebe (yŏnae) und das Versprechen des individuellen Glücks die Jugendlichen faszinierten. Die Jugend eignete sich die Liebesfilme als ein reichhaltiges Referenzsystem für romantische Beziehungen an, zu denen auch der Besuch von Kinos und Theatern gehörte. Während der neu aufkommende Enthusiasmus für die individualisierte romantische Liebe und das damit verbundene Konzept der freien Scheidung vor allem durch privilegierte Männer in Anspruch genommen wurde, um sich von bestehenden Ehen zu befreien und neuartige Beziehungsformen mit der sog. Neuen Frau einzugehen, wurde die freie Scheidung für Ehefrauen als gesellschaftliches Problem identifiziert.

Das leidenschaftliche Streben nach der absoluten Liebe und die zunehmenden sexualisierten Begegnungen, die mit dem Konsum von Liebesfilmen in Kinos bzw. Theatern diskursiv in einen direkten Zusammenhang gestellt wurden, standen in Kontrast zum Konzept der eugenischen Ehe, die die im Ausland ausgebildeten Mediziner*innen ab der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre als neues Ideal für die Eheschließung bewarben. Sie vertraten die Ansicht, dass die sexuellen Beziehungen einen Beitrag zur Nation und zum Staat leisten müssten, indem sie Nachkommen mit ‚besseren‘ Charakterzügen und Gesundheit zeugen. Zwar vertrat Ellen Key das eugenische Weltbild, jedoch wurde sie in Japan und Korea als Vorreiterin der verabsolutierten Liebe rezipiert. Da es im kolonialen Korea kein eugenisches Gesetz gab, konzentrierten sich die Bemühungen der koreanischen Eugeniker*innen auf mildere Varianten eugenischer Politik wie beispielsweise auf den Schutz vor Geschlechtskrankheiten. Aufgrund der hohen Infektionsrate von Geschlechtskrankheiten bei Männern konzentrierte sich die koreanische eugenische Bewegung auf den Schutz der Gesundheit von Frauen und erhöhte so den sozialen Druck auf sie. Eugeniker*innen sahen im Kinobesuch eine der Ursachen für einen konstatierten Werteverfall und rieten schwangeren Frauen, aus Gründen der Psychohygiene Kinos zu meiden. Als ein Ort, an dem Frauen romantische Filme konsumieren und sich sogar mit Fremden zur yŏnae treffen konnten, wurden Kinos im medialen Diskurs als zugleich physischer Ort und symbolischer Ausdruck einer gesundheitsgefährdenden romantischen Liebe adressiert, die eine zentrale Herausforderung für die anvisierte eugenische Biopolitik darstellt.

Die Analyse der medialen Beiträge zentraler Akteure und Organisationen der eugenischen Bewegung zeigt, dass deren Erwartungen je nach Geschlecht und Schicht der Zielgruppe unterschiedlich formuliert wurden. Die Warnungen und pragmatischen Tipps für die Realisierung der eugenischen Ehe durch die Prävention von Geschlechtskrankheit adressierten häufig gebildete und wohlsituierte Frauen, die im eugenischen Weltbild zu den besseren Menschen gehörten. Ihre Körper und ihre Sexualität wurden als Ressourcen für das eugenische Ziel einer glorreichen Zukunft von Familie, Gesellschaft und Staat betrachtet, so dass sie zum einen angehalten wurden, sich dementsprechend zu verhalten, und zum anderen mit Sonderaufgaben beauftragt wurden, um auf die physische wie psychische Gesundheit von sich selbst, ihren Ehemännern sowie ihren (ungeborenen) Kindern zu achten. Trotz des öffentlichen Wissens und der bereits in den 1930er-Jahren öffentlich gemachten Fakten über den weitverbreiteten männlichen Konsum sexueller Dienstleistungen und der damit einhergehenden, von Männern ausgehenden Ansteckungsgefahr mit Geschlechtskrankheiten adressierte der mediale Diskurs über die eugenische Ehe selten Männer. Die Verantwortung für das Infektionsrisiko wurde stattdessen auf die Frauen aus den untersten sozialen Schichten („Halbwelt“) verlagert, ohne sie jedoch besser zu schützen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als gleichermaßen der Druck einer westlich orientierten Modernisierung sowie einer Assimilierung mit der japanischen Kolonialherrschaft das soziale wie politische Klima Koreas prägte, verschmolzen Diskurse über Theater, Kino, romantische Filme mit Diskursen zu Liebe, Sexualität, Ehe, Scheidung und Eugenik. Der vorliegende Beitrag konzentrierte sich auf die eugenische Biopolitik als eines der Beispiele der komplexen Geschlechter- und Klassenpolitik, welche durch die in der Forschung zum kolonialen Korea dominierende Dichotomie zwischen pro- oder antijapanischen Bewegungen nicht vollständig abgebildet werden kann. Dadurch zeigt der Text, dass der eugenische Diskurs als Form einer faschistischen Biopolitik nicht nur auf der makropolitischen Ebene der Kolonialpolitik oder der internationalen Konflikte der 1920er- und 1930er-Jahre, sondern auch auf der Alltagsebene Subjekte produzierte, die je nach ihrem Geschlecht und Stand unterschiedlich bewertet und beauftragt wurden, ihre Körper, Gesundheit und Menschlichkeit für das Volk, die Nation und den Staat einzusetzen. Die katastrophalen Folgen einer solchen eugenisch motivierten Politik sind bekannt.