1 Einleitung

Kulturkritik motivierte die Pioniere der deutschen Eugenikbewegung zu ihren Forschungen: So fragte bereits Wilhelm Schallmayer 1891 nach dem Einfluss der modernen Kultur auf die menschliche „Zuchtwahl“ und fürchtete eine drohende „körperliche Entartung“ der Bevölkerung (Schallmayer 1891, S. 22). Trotz positiver Effekte der Kulturentwicklung, zu der die Hygiene gehörte, und dank derer sich das Lebensalter erhöhte und die Sterblichkeit sank, sorgte sich der im schwäbischen Kaufbeuren ansässige Arzt um schädliche Einflüsse, die mit dem modernen Leben einhergehen. Für Schallmayer und die damals lebenden Menschen veränderte sich aufgrund von Industrialisierung und Urbanisierung die Welt in einem bislang nicht gekannten Tempo: Viele Zeitgenossen und -genossinnen begriffen sich daher als „Übergangsmenschen“, denen eine nebulöse Zukunft bevorstand (Doerry 1986). Zu einer der umstrittensten Veränderungen der Übergangszeit gehörte die sog. Frauenemanzipation: Der Frauenanteil in der außerhäuslichen Erwerbsarbeit stieg. Zur Jahrhundertwende besuchten einige Frauen aus bürgerlichen Kreisen die neu entstandenen Mädchengymnasien, studierten anschließend und begannen in akademischen Berufen zu arbeiten. Schließlich forderten Frauen ihr Recht auf politische Teilhabe. In der deutschen Eugenikbewegung gab es keine einheitlich lautenden Urteile über diese Entwicklungen. Vielmehr waren eugenische Grundprämissen innerhalb des gesamten politischen Spektrums anschlussfähig (vgl. Paul 1995, S. 85; Herzog 2011, S. 25). Das hatte sich bereits in früheren Ideen zur „Menschenzüchtung“ gezeigt (vgl. Lorenz 2018, S. 23 f.): Erzkonservative Rassenhygieniker wie Max von Gruber waren sich sicher, „daß unser Volk am Feminismus erlahmt und verdirbt“ (von Gruber 1910, S. 7). Sozialistisch orientierte Eugeniker wie der Gynäkologe Max Hirsch hingegen betrachteten die Frauenbewegung als einen „entwickelungsgeschichtliche[n] Vorgang“, der ökonomisch begründet und daher unausweichlich sei (Hirsch 1920, S. 4; vgl. auch Hirsch 1914b, S. 94). Selbst innerhalb der Frauenbewegung griffen Aktivistinnen wie Helene Stöcker oder Ruth Bré eugenische Denkfiguren auf. Beide engagierten sich federführend im Bund für Mutterschutz und Sexualreform (BfM), dem auch eine Anzahl führender Eugeniker bzw. Rassenhygieniker wie Alfred Ploetz angehörten (vgl. Ferdinand 1999, S. 210).

Die Frage, ob die Frauenemanzipation einen Rückgang der Geburten in den Industrienationen begünstigte, bildete einen Kern der Auseinandersetzung (vgl. Klausen und Bashford 2010, S. 109 f.). Dabei bot Eugenik vor allem Konservativen wie Gruber eine neue Möglichkeit, geschlechterpolitisch zu intervenieren: Für sie standen „Feminismus und Völkertod“ in einem ursächlichen Zusammenhang.Footnote 1 Anstelle von Tradition und göttlicher Ordnung basierten eugenische Ideen auf naturwissenschaftlicher Grundlage – wenngleich zahlreiche Zusammenhänge noch unklar waren, was den kulturkritischen Prognosen der Eugenbewegung spekulativen Charakter verlieh. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Mediziner die geistige Leistungsfähigkeit von Frauen mit Hinweis auf deren Hirngewicht und Hirnstrukturen infrage gestellt (vgl. Schiebinger 1989, S. 288–294). Als sich Darwins Evolutionstheorie in den 1870er Jahren popularisierte, sorgten Anatomen wie Paul Broca, Carl Vogt und Theodor von Bischof dafür, die vermeintlichen Hirnunterschiede zwischen Männern und Frauen als Ergebnisse eines natürlichen Entwicklungsprozesses zu deuten (vgl. Schmersahl 1998, S. 74–91). Zur Jahrhundertwende weitete sich diese Perspektive und bezog zukünftige Entwicklungen ein: Mediziner, Biowissenschaftler, Anthropologen und Bevölkerungsökonomen fragten nun nicht mehr allein danach, wozu Frauen geistig und körperlich gegenwärtig in der Lage seien und was das mit ihrem sog. Mutterberuf zu tun habe. Sie fragten nach den zukünftigen Auswirkungen des individuellen (Fehl‑)Verhaltens auf die Gemeinschaft: In den Augen konservativer Wissenschaftler sollten Frauen ihre Gesundheit zum Wohl des Volkes nicht durch männlich konnotierte Erwerbsarbeit oder höhere Bildung gefährden und sie sollten ihre vermeintlichen Mutterpflichten nicht durch politische Betätigung vernachlässigen.

Die deutsche Eugenikbewegung gilt, ebenso wie deren internationale Vernetzung, als gut erforscht (vgl. Weindling 2010; Bashford 2010). Auch das Verhältnis der deutschen Frauenbewegungen zur Eugenik ist Gegenstand mehrerer monografischer Arbeiten (vgl. Herlitzius 1995; Ferdinand 1999; Manz 2007). Die Verbindungen zwischen organisiertem Antifeminismus und konservativ geprägter Rassenhygiene sind bekannt (vgl. Planert 1998, S. 83–94). Planert stellte zudem fest, dass sich Zivilisationskritik „in den Chiffren von Weiblichkeit und Männlichkeit“ äußerte und dabei „Weiblichkeit“ mit modernen Phänomenen wie der „Massengesellschaft“ gleichsetzte (Planert 2007, S. 193). Dementsprechend galten Frauenemanzipation und Frauenbewegung als Zeichen einer problematischen Modernität (Planert 1998, S. 41). Führende deutsche Rassenhygieniker beteiligten sich an diesen Deutungen. Doch beschränkte sich die Eugenikbewegung nicht nur auf konservative Rassenhygieniker. Bekannt ist die von Kevles (1985, S. 88 f., 173 f.) vorgenommene Differenzierung zwischen konservativen mainline eugenicists und den im linksliberalen bzw. sozialdemokratischen Spektrum verorteten reform eugenicists. Konservative waren an einer stabilen Geburtenrate vor allem in der Mittel- und Oberschicht interessiert, um die „weiße Rasse“ zu bewahren und „aufzuarten“ – hier spielten die deutschen Rassenhygieniker auch international eine einflussreiche Rolle (Kühl 1997, S. 22).Footnote 2 Biologische Maßstäbe waren für reformorientierte Eugeniker ebenso grundlegend, doch relativierten sie die vermeintliche Gefahr einer differentiellen Geburtenrate zwischen niedrigen und höheren Einkommensschichten. Sie setzten stattdessen auf soziale Reformen, Bildung und den Zugang zu Verhütungsmitteln, um dieses vermeintliche Problem zu lösen.

Aufbauend auf diesen Feststellungen stellt sich die Frage, welche Spielräume innerhalb der heterogenen deutschen Eugenikbewegung bestanden, wenn es darum ging, die Frauenemanzipation als Teil moderner Kultur zu beurteilen. Bislang fehlt eine Untersuchung darüber, wie die Frauenemanzipation im Diskursfeld der frühen Eugenikbewegung des deutschen Kaiserreichs rezipiert und kulturkritisch problematisiert wurde. Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei auf der konzeptuellen und formativen Phase der Eugenikbewegung in Deutschland zwischen den 1890er Jahren und dem Ende des Ersten Weltkriegs (vgl. Schmuhl 1987, S. 361). Die formative Phase, in der sich die wichtigen Fachzeitschriften und Organisationen herausbildeten, überschneidet sich im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende mit Entwicklungen, die es nahezu unumgänglich machten, sich mit dem Phänomen der Frauenemanzipation auseinanderzusetzen: Der Zugang zu höherer Bildung und der Kampf um politische Rechte wurde bereits erwähnt. Hinzu kam, dass sich einige Aktivistinnen der Frauenbewegung für eine Sexualreform engagierten. Gleichzeitig begannen sich Antifeministen zu organisieren und die Debatte über den Geburtenrückgang weitete sich auf Deutschland aus.

Grundlage des untersuchten Quellenkorpus sind drei Fachzeitschriften sowie die Werke der Herausgeber, die der frühen deutschen Eugenikbewegung wichtige Impulse gaben und deshalb ein hohes Maß an Deutungsmacht besaßen. Das Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie (ARG) sowie die Politisch-Anthropologische Revue (PAR) bildeten das Spektrum der deutschen rassenhygienischen Diskurse im Deutschen Reich ab. Es handelte sich um die beiden bedeutsamsten Periodika der Rassenhygieniker im deutschsprachigen Raum, die Besprechungen aller wichtigen monografischen Veröffentlichungen enthielten, sodass sich hier Diskurse verdichteten (vgl. Herms 2020, S. 58). Das Archiv für Frauenkunde und Eugenetik (AFE) erweitert das Quellenkorpus um ein Periodikum mit einer eher linkssozialistischen Orientierung. Durch diese Auswahl wird auch die Perspektive der frühen Reformeugeniker in die Analyse einbezogen, deren Positionen zur Frauenemanzipation differenzierter ausfielen. Die ARG und PAR wurden bis zu den 1921 herausgegeben Jahrgängen systematisch nach Bezügen zur Frauenemanzipation untersucht. Bei der AFE die Jahrgänge bis 1920.

Die Untersuchung basiert auf der von Keller (2011) ausgearbeiteten wissenssoziologischen Diskursanalyse. Diese Theorie geht von einer aktiven Rolle sozialer Akteure bei den Deutungskämpfen um gültiges Wissen aus. Ein einseitiger Fokus auf die kulturelle Ebene und die dort verhandelten Wissensbestände wird dadurch vermieden. Wissen erscheint somit als sozial umkämpft und abhängig vom Standort seiner Produktion (vgl. ebd., S. 204). Die Deutungsmacht der Akteure hängt von institutionell abgesicherten Sprechpositionen ab, die nicht nur bestimmen, wer als Sprechender an den Diskursen teilnehmen darf, sondern auch, wessen Stimme mehr Gewicht besitzt (vgl. ebd., S. 223). Bei Diskursen selbst handelt es sich um einen temporär stabilisierten Sprach- bzw. Zeichengebrauch, nach dessen Formationsregeln sich Bedeutungen herstellen und reproduzieren (vgl. ebd., S. 195 f.). Der Begriff des Diskursfeldes verdeutlicht, dass innerhalb der Eugenikbewegung verschiedene Spezialdiskurse existierten, die sich nicht nur hinsichtlich medialer Sprechorte, sondern auch durch ihre Problematisierungsweisen und Deutungsmuster unterschieden. Methodisch orientiert sich vorliegender Beitrag an der analytischen Differenzierung zwischen Problem- bzw. Phänomenstrukturen, Deutungsmustern und Subjektpositionen. Bei der Analyse von Problemstrukturen geht es darum, die Diskurse inhaltlich aufzuschlüsseln. Es fragt sich, aus welchen Gründen ein Sachverhalt zu einem Problem wird, wer dafür die Verantwortung trägt und welche Handlungsoptionen sich hieraus ergeben (vgl. ebd., S. 248 f.). Konkret heißt dies, Problemstrukturen aufzuzeigen, die sich mit dem Thema der Frauenemanzipation in den Diskursen der deutschen Eugeniker und Rassenhygieniker verknüpften. Oft ging es dabei um unerwünschtes oder erwünschtes Verhalten von Frauen, d. h. um die Definition von „Subjektpositionen“ (vgl., S. 221). Sie fungierten einerseits als Identitätsangebote, andererseits ermöglichten sie eine identitätspolitische Abgrenzung.

Ziel der Analyse ist es, die im Diskursfeld virulenten Deutungsmuster zu rekonstruieren, in denen sich die einzelnen Problemstrukturen und Subjektpositionen zu einem kohärenten Bild verdichteten. Dabei wird die These vertreten, dass innerhalb des Diskursfeldes der frühen deutschen Eugenik und Rassenhygiene bereits zwei Deutungsmuster vorherrschten, in denen sich die Urteile zur Frauenemanzipation unterschieden. Zwar erschien die Frauenemanzipation in beiden Deutungsmustern als Produkt des kulturellen und sozialen Wandels, allerdings wurden die Problemstrukturen verschieden gewichtet und es ergaben sich andere Handlungskonsequenzen. Was Frauenemanzipation eigentlich bedeuten sollte, blieb dabei zweitrangig. Der Quellenbegriff fungierte vielmehr als Projektionsfläche, um entweder die Frauenbewegung in Gänze zu diskreditieren oder aber um zu zeigen, dass lediglich vermeintliche Extrempositionen in dieser Bewegung problematisch seien.Footnote 3 Im Folgenden wird der Begriff im Sinne der Quellen genutzt: Seine Bedeutungen erschließen sich aus der Analyse des umkämpften Diskursfeldes und ist somit Gegenstand des Beitrags. Der nächste Abschnitt kontextualisiert zunächst die Suche nach den Ursachen des Geburtenrückgangs.

2 Geburtenrückgang und eugenische Kulturkritik

Zu einem Gradmesser für die Fitness der Bevölkerung entwickelte sich bereits in den frühesten Veröffentlichungen der deutschen Eugeniker die Geburtenrate. Auf den Zusammenhang zwischen Kulturentwicklung, „Degenerations-Erscheinungen“ und Geburtenrate wies 1895 der Mediziner und Nationalökonom Alfred Ploetz hin, der neben Schallmayer die deutsche Eugenikbewegung mitbegründet und den Begriff der „Rassenhygiene“ geprägt hatte (vgl. Ploetz 1895, S. 72). Als Beispiele galten ihm Frankreich und die USA. Aufgrund abnehmender Geburtenraten zählte er die Bevölkerungen beider Länder zu den „sinkenden Culturrassen“, wenngleich er dabei auf den Eindruck amerikanischer Ärzte verwies, nach denen die „Krankheit mehr eine moralische als eine physische“ sei (ebd., S. 77).Footnote 4

Etwas mehr als ein Jahrzehnt später schienen die Geburten auch im Deutschen Reich zurückzugehen. Erstmals deutete der Nationalökonom Paul Mombert (1907) die vorliegenden Bevölkerungsstatistiken in diese Richtung (vgl. Weindling 1991, S. 243). Mombert postulierte einen Zusammenhang zwischen wachsendem Wohlstand, Kultur und einer abnehmenden Fruchtbarkeit. Irgendwann käme der Zeitpunkt, an dem auch in Deutschland die Geburtenziffer rascher sinken würde als die Sterblichkeit (vgl. Mombert 1907, S. 265). Mombert schloss als Ursache für den Geburtenrückgang eine verminderte physische Zeugungsfähigkeit aus: Vielmehr sei es der psychische Fortpflanzungstrieb, der mit dem „Wollen des Menschen“ zusammenhänge (ebd., S. 170).

Über Momberts Studienergebnisse urteilte Wilhelm Böhmert, Direktor des Statistischen Amts in Bremen: „Man darf diesen Rückgang der Geburten geradezu als die zentrale Frage unserer modernen Kultur bezeichnen“ (Böhmert 1907, S. 124). Weiterführende Untersuchungen zu den Ursachen des Geburtenrückgangs erreichten zwischen 1912 und 1914 ihren publizistischen Höhepunkt. Als eine Konsequenz tauchte schon bald der Leitspruch vom „Willen zum Kinde“ auf, der sich vor allem an Mütter richtete und wie von Mombert postuliert auf die psychischen Ursachen abzielte (Graßl 1912, S. 727; Grotjahn 1914a, S. 184). Die Frage, ob der Geburtenrückgang psychische oder physische Ursachen habe, blieb jedoch kontrovers. In den Diskursen der Eugeniker lässt sich daher der weibliche Körper als eine umkämpfte Problemstruktur identifizieren.

Ebenfalls 1907 veröffentlichte der Mediziner und Rassenhygieniker Albert Reibmayr sein zweibändiges Werk zur „Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies“, das für eine eugenische Diagnose des Geburtenrückgangs bedeutsam wurde und stärker die physischen Ursachen hervorhob: Er betrachtete es als „Naturgesetz, daß bei einer gewissen Höhe der Züchtung die männlichen Linien der talentierten und genialen Familien degenerieren und infolgedessen in männlicher Linie aussterben“ (Reibmayr 1908, S. 28). Als populäres Beispiel galt der „Mannesstamm der großen Weimarer Dichter“, der bereits „erloschen“ sei (von Gruber 1910, S. 11). Die weibliche Linie bleibe von diesen Degenerationserscheinungen verschont und könne die wertvollen Erbanlagen weitergeben. Wenn es jedoch zu einer stärkeren „geistigen Betätigung“ durch Frauen käme, sei auch deren Fruchtbarkeit bedroht. Nordamerika diente auch hier als Vorbote einer drohenden Katastrophe: Reibmayr betrachtete die dortige Frauenemanzipation als Auslöser einer „weiblichen Talentzüchtung“ in den „oberen Ständen“, die dazu führe, dass die „Reproduktionskraft“ nachlasse (Reibmayr 1908, S. 65).

Zur Geburtenrate, die sich innerhalb der sozialen Stratifikation unterschied, gesellte sich das Menetekel einer sich vermeintlich vollziehenden Gegenauslese zur natürlichen Selektion, die vor allem in den Großstädten wirke (vgl. Ploetz 1895, S. 183). Berlin galt im Deutschen Reich als Sinnbild des modernen Molochs, in dem sich differentielle Geburtenrate und eine damit zusammenhängende Kontraselektion aus Perspektive der Rassenhygieniker am stärksten auswirkten. Die beschriebenen Zusammenhänge ließen sich mangels Daten jedoch gerade in deren frühen Veröffentlichungen lediglich postulieren. Die eugenische Kritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich damit an der Nahtstelle zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, an der wissenschaftlicher Anspruch, reformerische bzw. kulturkritische Ideen und politische Bewegung miteinander verschmolzen (vgl. Kühl 1997, S. 27). In den untersuchten Diskursen kam dieser Verbindung eine wichtige Funktion zu: Weil Evolution ungerichtet verläuft, besitzt der auf ihr aufbauende Biologismus kein Ziel. Eugeniker mussten deshalb auf kulturkritische Leitvorstellungen zurückgreifen, um ihre Zukunftsvorstellungen und die damit zusammenhängenden politischen Forderungen zu legitimieren (vgl. Nate 2014, S. 16).

Die Suche nach den Ursachen des Geburtenrückgangs bezog sich dabei auf drei Schwerpunkte, die mit einer sich durch die Frauenemanzipation wandelnden bürgerlichen Geschlechterordnung eng verbunden waren: Es ging darum, die Fruchtbarkeit erwerbstätiger und gebildeter Frauen zu beurteilen. Damit verknüpfte sich auf ökonomischer Ebene die Ehefrage. Problematisch erschienen sog. Spätehen, weil die Fertilität mit der Höhe des Heiratsalters abnahm. Im Bürgertum stellte ein hohes Heiratsalter keine Seltenheit dar, da die Berufslaufbahnen lang waren und eine repräsentative Ehe ein gesichertes Einkommen voraussetzte. In diesem Zusammengang tauchten die Wirtschaft, der Individualismus und das Gleichheitspostulat der Frauenbewegung als Problemstrukturen in den untersuchten Diskursen auf. Ein weiterer Schwerpunkt bezog sich auf die Sexualmoral. Neben der sexuellen Selbstbestimmung durch empfängnisverhütende Maßnahmen spielte hier der Umgang mit unehelichen Kindern eine Rolle. In allen drei Schwerpunkten galt die Frauenemanzipation als wichtiger Einflussfaktor: Die Aktivistinnen der Frauenbewegung setzten sich für höhere Frauenbildung und Frauenerwerbsarbeit ein, kritisierten aus ökonomischen Gründen geschlossene Ehen und einige Aktivistinnen leisteten Aufklärung über Empfängnisverhütung.Footnote 5 In den nächsten drei Abschnitten werden die mit der Frauenemanzipation verknüpften Problemstrukturen in den deutschen Diskursen zur Eugenik bzw. Rassenhygiene eingehender analysiert.

3 Zwischen Antifeminismus, Antisemitismus und totaler Biologisierung: Die Politisch-Anthropologische Revue

Der Mediziner und Sozialanthropologe Ludwig Woltmann war Gründer und Herausgeber der PAR, der ersten deutschsprachigen eugenischen Fachzeitschrift (vgl. Hufenreuter 2010). Woltmann, der sozialdemokratisch geprägt war, äußerte sich in der PAR nicht zur Frauenemanzipation. Seine Position findet sich jedoch in seiner 1903 publizierten „Politischen Anthropologie“. Dort werden zwei Problemstrukturen sichtbar, die in den untersuchten Diskursen wiederholt auftauchten: Zum einen beruhe die Frauenemanzipation auf der Idee des Individualismus, der in einem Konflikt zu Gemeinschaftsinteressen stehe. Zum anderen widerspreche die damit verbundene Forderung nach Gleichheit, der natürlichen Ungleichheit in der Geschlechterordnung, die eine männliche Herrschaft legitimiere. Für Woltmann unterlag der „soziale Organismus“ biologischen Grundgesetzen, wenngleich die Gesellschaft nicht mit einem Organismus gleichzusetzen sei, so bestehe die Gemeinsamkeit doch in der Organisation (Woltmann 1903, S. 129, 141). Jede politische Theorie müsse deshalb auf biologischen Erkenntnissen beruhen: Im historischen Entwicklungsprozess sei eine Parallele zwischen organischer und sozialer Vererbung erkennbar. „Entartung“ der Kultur drohe immer dann, wenn sich eine „Differenz zwischen der physischen Vererbung und der gesellschaftlichen Ueberlieferung“ zeige (ebd., S. 142). Dem entgegen wirke nur eine gezielte „Zuchtwahl“, die ihrerseits als „Mittel des Fortschritts“ dienen könne (ebd., S. 147): In der differentiellen Geburtenrate sah er einen solchen Widerspruch zwischen „organischer und sozialer Auslese“. Anstelle von kultureller Entwicklung erfolge deshalb ein „Rasseverfall“ (ebd., S. 278). Als eine Quelle der Degeneration betrachtete er das „moderne Cölibat der Frauen“, das zu einem Geburtenrückgang in den oberen Schichten führe und der „Rasse eine unwiederbringliche Summe intellektueller und moralischer Talente“ entzöge. Die Ursache des Kinderverzichts sah er im „genußsüchtigen Egoismus“, der auf dem „geistigen Individualismus“ beruhe. Die Freiheit des Individuums würde unvermeidlich eine „physiologische Entartung“ einleiten und den „organischen Bestand der Rasse“ gefährden. In der Familie, gedacht als „organischer und geistiger Machtkreis“, der im Dienst einer „Entwicklung der Rasse“ stünde, sei dieser Entwicklung entgegenzuwirken (ebd., S. 277): Demzufolge betrachtete Woltmann die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen als eine „natürliche und zweckmäßige“ Unterscheidung, die sich auch in der Begabung und Leistungsfähigkeit der Geschlechter zeige (ebd., S. 176). Die Geschlechterdifferenz deutete er nicht nur als Arbeits-, sondern als eine Herrschaftsteilung. Die „Herrschaft des Mannes“ müsse als „biologische Tatsache und Notwendigkeit“ betrachtet werden, „gegen welche rationalistische Gleichheitstheoretiker vergeblich anstürmen“ (ebd., S. 179).

Woltmanns Ansichten standen im Einklang mit der bürgerlichen Geschlechterordnung, die sich im 19. Jahrhundert etabliert hatte. Er gehörte damit zu jenen Rassenhygienikern, deren Forderungen bestehende Moralgrenzen oder gar Gesetze nicht überschritten. Die „theoretischen, historischen und praktischen Ansprüche“ einer Mehrheit von Autoren in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift standen allerdings „unverhohlen unter dem Vorzeichen der Biologisierung“ (Herms 2020, S. 192). Kultur und Gesellschaft standen hier unter dem Primat vermeintlich biologischer Gesetzmäßigkeiten und das sprengte die bürgerlichen Moralvorstellungen und den Rechtsrahmen gleichermaßen. Eine solche grenzüberschreitende Tendenz, mit der zugleich rassistische und antisemitische Töne einhergingen, wird in den folgenden Aussagen deutlich.

Der österreichische Philosophieprofessor Christian von Ehrenfels ging über Problembestimmungen hinaus und entwickelte ein utopisches Handlungsmodell „sexueller Reform“. Dabei kritisierte er die von Ruth Bré propagierte Mutterschaftsversicherung, die alleinstehende Mütter und deren Kinder schützen sollte und zu den Forderungen des 1905 gegründeten BfM gehörte (vgl. Herlitzius 1995, S. 178). Innerhalb seiner Aussagen wird eine weitere Problemstruktur sichtbar: Er warf der Frauenbewegung vor, eine weibliche Herrschaft anzustreben. Wenn die Abhängigkeit von einem männlichen Versorger verschwinde, so Ehrenfels, dann würden Frauen die „Rolle der Auslese“ übernehmen (von Ehrenfels 1905a, S. 437). Er betrachtete eine staatliche Versorgung für Mütter und deren Kinder als den „Sehnsuchtstraum aller aggressiven Frauenseelen“, da diesen nun über den Weg der sexuellen Auslese die „Alleinherrschaft“ zufalle (ebd., S. 436). Trotz dieser Kritik befürwortete Ehrenfels jedoch den BMS aus humanitären Gründen (ebd., S. 440). Den „fortschrittlichen Frauen“ dürfe ihr „Übermut“ nicht übel genommen werden. Ihre „Sehnsucht“ nach „utopischen Postulaten“ würde sich abschwächen, sobald die Frauenbewegung aus ihren „Kinderschuhen“ entwachsen sei (von Ehrenfels 1905b, S. 636). In diesen Aussagen zeigt sich eine Problemstruktur, die eine durch die Frauenrechtlerinnen betriebe Übersteigerung kritisierte – d. h. die Aktivistinnen hätten mit ihren Forderungen einen nicht näher definierten Rahmen verlassen. Dabei gingen Ehrenfelds’ eigene Forderungen selbst an die Grenzen des damals Sagbaren. Er stellte die monogame Einehe infrage und forderte polygyne Lebensgemeinschaften, in denen zur Fortpflanzung auserkorene Frauen in Verbänden zusammenleben sollten, um für die Kinderaufzucht zu sorgen. Die übrigen von der Fortpflanzung ausgeschlossenen Frauen seien in einem „Hetärenverband“ zusammenzuschließen, um dort mit Einsatz empfängnisverhütender Mittel die sexuellen Bedürfnisse der Männer zu bedienen (von Ehrenfels 1903, S. 987).

Nach dem frühen Tod Woltmanns im Jahr 1907 radikalisierten sich die antifeministischen Tendenzen in der PAR, in der sich zahlreiche Mitglieder des 1912 gegründeten Deutschen Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation äußerten. Charakteristisch sind die Aussagen des seit 1910 als Herausgeber auftretenden Otto Schmidt-Gibichenfels. In ihnen zeigt sich eine Problemstruktur, die sich als Externalisierung bezeichnen lässt. Die Frauenemanzipation wird hier als etwas Fremdes dargestellt, als wäre sie nicht Teil der eigenen Gesellschaftsentwicklung. Das ermöglichte eine nahezu beliebige Kombination mit weiteren Feindbildern. So sah Schmidt-Gibichenfels die Frauenbewegung als Agentin einer jüdischen Weltverschwörung: „[…] die rassenmörderische Frauenrechtlerei, wovon die Alljuden überall so viel Wesens machen, gönnen sie – wohlüberlegt – nur den Wirtsvölkern, ihr eignes Volk verschonen sie damit“ (Schmidt-Gibichenfels 1918, S. 156).

Eine solche externalisierende Problemstruktur lässt sich bei zahlreichen Autoren der PAR finden. Oft verbanden sich derartige Aussagen mit einer auf die Wirtschaft zielenden weiteren Problematisierung. So auch bei dem zum Gründerkreis des Antifeministenbundes gehörenden in Weimar tätigen Gymnasialprofessor Friedrich Sigismund (vgl. Planert 1998, S. 58, 119 f.). Er unterstellte der gesamten Frauenbewegung einen „händlerischen Charakter“, der in „angelsächsischen Ländern“ vor allem von Jüdinnen und Juden verbreitet werde (Sigismund 1916, S. 269). Zudem stünden die theoretischen Ideen der Bewegung auf wirtschaftlicher Grundlage, was auch für den Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) und seinen im Ersten Weltkrieg gegründeten Nationalen Frauendienst gelte. Hinter ihrer nationalen Fassade sei die Bewegung international. Sigismund begründete seine Behauptung mit den Zielen der BDF-Vereine, die im Gegensatz zur Arbeit von Diakonissinnen nicht nur karitativ seien, sondern politische Forderungen enthielten (vgl. ebd., S. 270). Weil sie am Internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag im Jahr 1915 teilnahmen, bezeichnete er Anita Augspurg und Helene Stöcker als „weibliche Gegenstücke zu Liebknecht und Genossen“ (ebd., S. 329). Im eugenischen Sprachduktus heißt es: „Darf eine Bewegung sich national nennen, in deren Garten solche Giftblumen gedeihen können, ohne mitleidslos ausgerodet zu werden, so wird aus unseren Reihen ein lautes ‚Nein!‘ erschallen“ (ebd., S. 320). Sigismund stellte die deutsche Frauenbewegung nicht als heterogenes Phänomen dar, obwohl es zwischen den Positionen der radikalen Augspurg und der gemäßigten Mehrheit im BDF vor allem beim Thema Pazifismus erhebliche Unterschiede gab. Diese Komplexitätsreduktion ist ein weiteres Merkmal, das prägend dafür war, wie die Frauenemanzipation in einem Teil der untersuchten Diskurse wahrgenommen wurde.

Ähnliche Aussagen finden sich beim völkischen Deutschbund-Funktionär und in Bremen lehrenden Gymnasiallehrer Hermann Gustav Holle (vgl. Puschner 2005, S. 54). Er äußerte sich in der PAR am häufigsten zur Frauenemanzipation. Laut Holle gingen durch die „Nachgiebigkeit gegen die Frauenrechtlerei“ die „tüchtigsten Keimanlagen“ als Ressourcen der Volkskraft verloren (Holle 1915, S. 528). Er reproduzierte vor allem die mit Individualismus und Gleichheit verbundenen Problemstrukturen, indem er eine Rückkehr zu einer biologischen Auffassung geschlechtergetrennter Arbeit forderte und sich gegen „individualistische Gesinnung“, „weltbürgerliches Empfinden“ und demokratische Bestrebungen aussprach (Holle 1921, S. 506, 509, 511). Während des Ersten Weltkriegs sah er in der neugegründeten „Deutschen Schwesternschaft“ den Grundstein einer „deutschvölkischen Frauenbewegung“, die als selbstlose Gemeinschaft künftig ihren „Dienst an deutschem Blut und Wesen“ leisten würde und in der Jüdinnen keine Mitgliedschaft erlangen dürften (Holle 1917, S. 466).

Auch bei dem Gerichts- und Amtsarzt Jean Bernhard Bornträger zeigt sich, dass die bislang beschriebenen Problemstrukturen zum diskursiven Repertoire der PAR-Autoren gehörten. Er sah die „moderne Frauenbewegung“ von „Talmi-Frauen“ geleitet: Sie seien jüdisch, unverheiratet und kinderlos. Als „Fahnenflüchtige“ von der ihnen von der „Natur zugewiesenen Stelle im Hause“ drängten sie in die „männlichen Berufe“. Ihr „weiblicher Individualismus“ führe die „Volkssittlichkeit“ auf einen Tiefstand. Sie würden die Frauen mit ihrer „ausgedachten Lehre“ von der „Gleichheit“ dazu verleiten, sich lieber in Vereinssitzungen und im Theater zu tummeln, als für die „deutsche Familie“ zu sorgen (Borntraeger 1920, S. 257–259). Frauenärztinnen, die sich erst seit 1899 in Deutschland approbieren durften, brachte er in einer Schrift zum Geburtenrückgang mit der Popularisierung antikonzeptioneller Maßnahmen in Verbindung (Borntraeger 1913, S. 56).

Neben Problematisierungen, die die Frauenemanzipation als eine internationale Kulturbewegung betrafen, finden sich Aussagen zu weiblichen Subjektpositionen, die ein Repertoire erwünschten und unerwünschten Verhaltens enthielten. Der Typus der „deutschen Frau“ war in konservativen Kreisen weit verbreitet (vgl. Heinsohn 2010, S. 109–123). Entsprechend eingestellte Rassenhygieniker nutzten dieses Identitätsangebot, um damit einen Kampf gegen ein modernes Frauenbild zu führen. Exemplarisch wird das in den Aussagen des PAR-Autors Franz Kaiser deutlich: Die deutsche Hausfrau sei „treu“, „bieder“, „fleißig“ und „trostbereit“. Mit ihr gehe das „Rassenechte“ und Unvergängliche einher, das sich in den „Rasseneigenthümlichkeiten“ zeigen würde. Im Gegensatz dazu verkörpere die „moderne Frau“ den falschen Schein (Kaiser 1917, S. 33, 1919, S. 416). Erst eine aus dem Ruder gelaufene Kulturentwicklung habe das „maskulierte Weib“ hervorgebracht, das nun Emanzipation und „männliche Berufsarbeit“ verlange und von „Herrschsucht“ getrieben sei. Bezogen auf den Geburtenrückgang bemerkte Kaiser, ein solches „Emporsteigen“ zum Mann bedeute ein „Massensterben“ und stelle eine Gefahr für die gesamte Menschengattung dar (Kaiser 1917, S. 28). Er forderte, das „maskulierte Weib“ durch sozialen Ausschluss „auszurotten“: Es solle vom Mann „als häßlich und unweiblich abgestoßen und auf diese Weise seine Vermehrung und Fortzucht unterbunden werden“ (ebd., S. 33). Das „Zeitalter des Feminismus“ mit dem die beiden Extreme des „Egoismus“ und des „Altruismus“ gleichermaßen einhergehen würden, habe das „biologische Gleichgewicht“ zerstört. Weil der „Sinn der Welt“ und die „Moral der Natur“ im Streiten und Kämpfen bestehe, erwachse daraus eine Gefahr für den deutschen „Kriegergeist“, der sich entgegen dieser „femininen“ Moralvorstellungen nur in der „Rücksichtnahme auf das Ganze“ entfalten könne (Kaiser 1921, S. 162, 165).

In der PAR gab es keine Gegenpositionen, welche die Frauenemanzipation oder die Frauenbewegung in ein positives Licht gerückt hätten. Die wenigen in der Zeitschrift zu Wort kommenden Frauen widersprachen nicht, vielmehr reproduzierten sie die beschriebenen Problemstrukturen: Beispielsweise kritisierte die österreichische Schriftstellerin Grete von Urbanitzky die „Zivilisationspsychose“ des „Intellektualismus“, der dahin strebe, alle Grenzen zu verwischen. Die mit ihm einhergehende Frauenemanzipation würde durch „verbogene wissenschaftliche Erkenntnisse“ und einer „wütende[n] Dialektik“ unterstützt – gemeint waren die als jüdisch klassifizierte Psychoanalyse sowie der Marxismus. Resultat sei „das vermännlichte Weib“ und der „verweiblichte Mann“ als die „Idealtypen“ eines „charakterlosen Liberalismus“, einer „undeutschen Zeit“ (von Urbanitzky 1919, S. 421).

4 Neomalthusianismus und radikale Frauenbewegung als bevölkerungspolitisches Feindbild: Das Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie

Der Mediziner und Nationalökonom Alfred Ploetz gab ab 1904 die ARG heraus und gehörte ein Jahr später zum Gründerkreis der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene. Ploetz äußerte sich in seinem eugenischen Standardwerk von 1895 bereits zur Frauenemanzipation und problematisierte dabei die Wirtschaft und den Individualismus: Für ihn stand die „moderne Frau“ im Zentrum eines Konflikts zwischen „Individual- und Rassenhygiene“. Für soziale Hygiene sei sie durchaus zu gewinnen, wenn es etwa darum ginge, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Doch wie seine Definition der „Rassenhygiene“ zeigt, hatte er weitreichendere Ziele: „Soziale Hygiene hat als directes Ziel immer noch das Wohl des Einzelnen, Rassenhygiene dagegen das Wohl einer zeitlich dauernden Gesammtheit als solcher“ (Ploetz 1895, S. 3). Die Kinderzahl spielte bei diesen Betrachtungen eine wichtige Rolle. Ploetz ging davon aus, dass modern eingestellte Frauen, „freiwillig“ kaum mehr als „zwei bis drei Kinder“ zeugen würden (ebd., S. 73, 217). Als Grund sah er wirtschaftliche und persönliche Individualinteressen:

„Man scheut die Mühen und die Gefahren der Schwangerschaft und Geburt, die Unbequemlichkeit und die Kosten der Kindererziehung, den Verlust der schönen Leibesformen und vor Allem auch die Beeinträchtigung der eigenen Bewegungs- und Vergnügungs-Freiheit durch die Kinder.“ (ebd., S. 166)

Die mit dem „Ideal des modernen Weibes“ in Verbindung stehende Erwerbsarbeit beurteilte er überwiegend negativ, da diese zu „mangelhafter Körperentwickelung“ und erhöhter Kindersterblichkeit führe (ebd., S. 172).

Bei der Frage eines möglichen Zusammenhangs zwischen moderner Kultur, Frauenemanzipation und Geburtenrückgang tauchte der weibliche Körper im untersuchten Diskursfeld als Problemstruktur auf. So auch in den Aussagen des Ethnologen Richard Thurnwald. In der ersten ARG-Ausgabe thematisierte er die viel beschworenen Hemmnisse der Fruchtbarkeit in den großen Städten. Die Problemstruktur Großstadt verkörperte die moderne Kultur. Frauen seien dort für die „Zeitströmungen“, worunter Thurnwald auch die Frauenemanzipation fasste, besonders empfänglich:

„Alle Schattirungen von der an allzu reichlichem Genuß aller Kulturgüter dürstenden, überfeinerten Frau bis zu der mit roheren Genüssen zufriedenen werden hier zu finden sein und der berufstätigen Frau sind Kinder ebenfalls ein Hemmnis.“ (ebd., S. 859)

In den Aussagen des Mediziners und katholischen Obermedizinalrat Josef Graßl verknüpften sich die Problemstrukturen der Wirtschaft, des Individualismus und der Gleichheit mit Vorstellungen über die Subjektposition der modernen Frau. Sie kreisten um die Familie als den „Urteig des Volkes“ (Graßl 1911, S. 185). Damit verbunden war die Auffassung „ganz verschiedene[r] Geschlechtsaufgaben“: Der Mann gründe die Familie und den Staat, der Frau käme die Aufgabe zu, diese zu erhalten (Graßl 1914, S. 13 f.). Die moderne Kultur habe „das Weib“ aus der Familie herausgelöst und diese vergeschlechtlichte Arbeitsteilung zerstört. Auslöser hierfür sei die wirtschaftliche Entwicklung, die der Arbeitskraft von Frauen bedürfe, um „konkurrenzfähig“ zu sein. Insbesondere bei den höheren Gesellschaftsschichten sei die Erwerbsarbeit von Frauen zur „afamiliären Lebensgewohnheit“ geworden, da die „Ehelosigkeit“ eine Voraussetzung dafür sei, als Lehrerin oder in akademischen Berufen tätig zu sein (Graßl 1911, S. 185 f.). Auch Graßl sah die „moderne Frau“ als einen Verstärkungsfaktor dieser Entwicklungen, da es ihr „Mangel an ernsten Pflichten“ sei, der sich zersetzend auf das „Pflichtbewußtsein“ auswirke, wobei mit Pflicht „die ureigene Aufgabe des Weibes“ zur Fortpflanzung gemeint war (ebd., S. 193). Gerade die Frauen der „Oberschicht“ würden auf ihre Rechte pochen und über „Spiel und Sport“ ihre Pflichten vergessen (Graßl 1914, S. 112). Die daraus resultierende moderne „Zwergfamilie“ betrachtete er als eine „Erkrankung des Muttertriebes“. Sie sei ein „Effekt des Feminismus“, der zu einer verderblichen „Entartung der Frau“ führe (Graßl 1912, S. 729). Als Gegenmodell zur „modernen Frau“, die „steril“ und „unterfruchtig“ sei, setzte Graßl wie Kaiser in der PAR auf die deutsche „Hausfrau“ (Graßl 1916, S. 326).

Ebenfalls auf der Problemstruktur Wirtschaft basierten Max von Grubers Aussagen, die er mit Problematisierungen des weiblichen Körpers und des Individualismus kombinierte. Er gehörte zum Herausgeberkreis der ARG und hatte darüber hinaus zwischen 1910 und 1922 den Vorsitz in der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene inne. In seinen pessimistischen Gegenwartsdiagnosen betrachtete der konservative Antikapitalist den Kulturverfall als eine Folge der industriellen Entwicklung (vgl. Puschner 2018, S. 54, 60). Gruber äußerte sich wie der Mitherausgeber Ploetz nicht direkt zur Frauenemanzipation in der ARG. Allerdings veröffentlichte er eine ganze Reihe von Schriften, die seine Ablehnung erkennen lassen. Der zunächst in Wien und ab 1902 in München lehrende Professor für Hygiene war aufgrund seiner publizistischen Aktivitäten ein „Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Weltanschauung“ (ebd., S. 45). Als Mitglied im Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation verstand sich Gruber als ein prinzipieller Gegner der Frauenbewegung (ebd., S. 50). Vor allem Nordamerika galt ihm als ein modernes „Dorado der Frauenfreiheit“ – wobei er vermutlich die Großstädte an der Ostküste im Auge hatte (von Gruber 1914, S. 55). Gruber betrachtete eine selbstbestimmte Lebensweise von Frauen, die er während seiner Zeit in Wien kennengelernt hatte, als eine „amerikanische Mode“ oder als Wirkung von „amerikanischen Emanzipationsgedanken“. Die Frauenbewegung würde junge Mädchen mit „volksverderblichen“ Gedanken wie der „Frauenfreiheit“ anstecken (ebd., S. 75 f.). Die Bewegung bedrohe die „Volkskraft an ihrer Wurzel“ (von Gruber 1910, S. 5). Damit konstruierte Gruber einen Konflikt zwischen dem weiblichen Körper und den Anforderungen der Erwerbsarbeit, der zu einem Missglücken der Schwangerschaft und einer Schwäche bei Neugeborenen führe sowie das Stillen verunmögliche (ebd., S. 8).

Der von ihm kritisierte Individualismus beruhe auf drei Irrlehren, auf denen die gesamte moderne Kultur- und Gesellschaftsentwicklung aufbaue: dem Streben nach Genuss, dem „künstlerischen Geschmack“ als „Regent unserer Lebensführung“ sowie der „Lehre von der freien Liebe“ (von Gruber 1909, S. 16 f.). Gesundheit sei wichtiger als das von ihm gegeißelte „Ästhetentum“ (von Gruber 1914, S. 43). Die genannten Irrlehren würden die Gesundheit gefährden und schließlich direkt zur Unfruchtbarkeit führen. Für Gruber konnte sich die Persönlichkeit des Individuums erst entfalten, wenn zuvor seine „Sinnlichkeit“ „geknechtet“ worden war (von Gruber 1909, S. 18). Persönlichkeit sei nicht zum Selbstzweck der Individuen zu entwickeln, sondern „zum Nutzen der Gemeinschaft“ (von Gruber 1910, S. 24). Die Ehe galt ihm als Institution zum Erhalt der „Volkskraft“ und den Ruf nach einer neuen Ehemoral, die auf gegenseitiger Achtung und Gleichberechtigung beruhte, betrachtete er als „sentimentale[s] Schwärmen hysterischer Frauenzimmer über die Heiligkeit des Liebesrausches“ (ebd., S. 32). Entgegen individualisierter Lebensentwürfe betrachtete er es als oberste „Pflicht, Nachkommen zu erzeugen“ und den Verzicht auf Kinder als eine Sünde an der Nation: Die „Regelung des ganzen Geschlechtslebens“ habe vielmehr „im Dienste der Fortpflanzung“ zu stehen (von Gruber 1907, S. 93). Auf dieser instrumentellen, autoritären und lustfeindlichen Weltanschauung beruhten seine Urteile über Frauenbildung und Erwerbsarbeit von Frauen: Das Leben sei „kein Lustspiel“. Es müsse als ein „Kampf“ betrachtet werden, der sich nur innerhalb des eigenen Volks bewältigen lasse (von Gruber 1914, S. 41). Frauen seien zu intellektuellen Höchstleistungen unfähig und geradezu „unfruchtbar“ auf geistigem Gebiet, da sie den Dingen nur äußerlich gegenüber stünden. Begabung fände sich nur bei Frauen mit einer „anormale[n], mannähnliche[n] Beschaffenheit“. Für diese wenigen Frauen sei es in Ordnung, wenn diese sich auf „männlichen Bahnen“ bewegen würden, da von ihnen keine hohe Kinderzahl zu erwarten sei (von Gruber 1907, S. 90). Kindergärten, als eine Möglichkeit Erwerbsarbeit und Mutterschaft miteinander zu vereinbaren, betrachtete er als „Massenaufzucht“ und waren mit seinen aristokratischen Vorstellungen inkompatibel (von Gruber 1907, S. 91).

Der Mediziner Fritz Lenz, der in den 1920er-Jahren zu einem führenden Vertreter der Rassenhygiene in Deutschland aufstieg, vertrat seit 1912 antifeministische Positionen in der ARG. Er reproduzierte in seinen Beiträgen die gleichen Problemstrukturen wie sein akademischer Lehrer Gruber, nach denen die Frauenemanzipation ein Produkt verfehlter Wirtschaftspolitik sei und zu einem Konflikt zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteressen führe. Weil wirtschaftliche Verhältnisse für das „Problem der Frauenfrage“ verantwortlich seien, befürwortete Lenz die Forderung nach einer „staatliche[n] Besoldung des Mutterberufs“, um „unsere Rasse“ zu retten (Lenz 1914a, S. 682). Dass sich „die Rasse“ in einem Degenerationsprozess befinde, erläuterte er in einem 1921 gemeinsam mit Erwin Bauer und Eugen Fischer verfassten rassenhygienischen Handbuch, das zu einem Standardwerk avancierte: Er problematisierte darin den Geburtenrückgang sowie das damit einhergehende Problem der „Kontraselektion“ und forderte eine Geburtenzunahme an der „Spitze“ der Bevölkerungspyramide. Lenz’ Gesellschaftsbild war aristokratisch und sozialdarwinistisch. Er ging davon aus, dass Menschen in privilegierten Positionen der Gesellschaft auch die besseren Erbanlagen hätten. Deshalb führe jede Abnahme der Geburtenzahlen an der „Spitze“ zur „Verpöbelung der Rasse“ (Lenz 1921, S. 90). Als Ursache nannte er die neomalthusianische Lehre und die Erwerbstätigkeit der gebildeten Bürgerinnen in den Städten, die dazu führe, dass diese Frauen die Ehe nicht mehr nötig hätten (ebd., S. 96). Die moderne „Frauenfrage“ sei aus diesem Grund nur durch die „Ehe“ lösbar (ebd., S. 148).

Auf identitätspolitischer Ebene problematisierte Lenz zudem die Subjektposition der modernen Frau. In einer Rezension zum antifeministischen Tendenzroman „Wenn wir Frauen erwachen“ von Oskar Schmitz jubelte er: „Es hat wieder einmal eingeschlagen in jenem Reinigungsgewitter, dessen erste Donnerschläge die Gedanken Moebius’ und Strindbergs über das moderne Weib bedeuteten“ (Lenz 1912, S. 800). Das Buch sei getragen von der „Sehnsucht“ nach „Gesundheit“ und „Reinheit“, wirke somit gegen die „Suggestion der emanzipatorischen Schlagworte“ und trüge zum „Heil der Rasse“ bei (ebd., S. 801).

Anders als in der PAR findet sich in der ARG jedoch Widerspruch zu undifferenzierten Urteilen über die bürgerliche Frauenbewegung. Der jüdische Arzt und Anthropologe Moritz Alsberg problematisierte zwar ebenfalls den weiblichen Körper, um zu zeigen, dass geschlechtergerechte Gleichheit der Natur widerspreche und betrachtete Bildung und Erwerbstätigkeit deshalb als Nebentätigkeiten (Alsberg 1907, S. 489). Die bürgerliche Frauenbewegung lehnte er dennoch nicht prinzipiell ab. Er unterstellte Paul Möbius, dem Autor des 1900 erschienen Bestsellers „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“, eine „extreme Anschauung“. Alsberg versuchte Einfluss auf die bürgerlich-gemäßigte Frauenbewegung auszuüben, die selbst nicht das Ideal der Gleichheit, sondern das der „Gleichwertigkeit des Weiblichen und des Männlichen“ in ihren je eigenen Kulturbereichen vertrat (Brick 1983, S. 102): So sollten „alle Bemühungen der Frauenrechtlerinnen dahin gerichtet sein […], Mittel und Wege zu schaffen, das Mädchen erwerbsfähig zu machen, ohne ihr dadurch die Anwartschaft auf ihre natürliche Stellung als Gattin und Mutter zu rauben“ (Alsberg 1907, S. 491). Er hegte sogar die Hoffnung, die Frauenbewegung könnte die Schäden des „modernen Kulturlebens“ beheben und „natürliche Verhältnisse“ zwischen „beiden Geschlechtern“ wiederherstellen (ebd., S. 492). Damit waren seine Ansichten durchaus anschlussfähig an die differenztheoretischen Vorstellungen in der bürgerlich-gemäßigten Frauenbewegung.

Auch die Ärztin und Rassenhygienikerin Agnes Bluhm trat als Fürsprecherin auf, indem sie Publikationen aus dem Umfeld der gemäßigten Frauenbewegung wohlwollend rezensierte, über Versammlungen berichtete und allzu einseitige Schriften zur Frauenfrage kritisierte. Gleichwohl verband sie mit den oben aufgeführten Autoren ihre entschiedene Ablehnung des Neomalthusianismus. Dementsprechend sprach sie sich gegen die unkontrollierte Verbreitung von Empfängnisverhütung zur Geburtenbegrenzung aus (vgl. Bluhm 1908, S. 827). Bluhm strebte danach, „eugenische Ideen in der Frauenbewegung zu verbreiten“ (Bleker und Ludwig 2007, S. 12): In ihren Beiträgen differenzierte sie zwischen einer beeinflussbaren Mehrheit der Frauenbewegung und einer neomalthusianisch beeinflussten Minderheit, auf die sich die Kritik der Rassenhygieniker lenken ließ.

5 Auf der Suche nach einem eugenischen Mutterschaftsideal: Das Archiv für Frauenkunde und Eugenetik

Das Archiv für Frauenkunde und Eugenetik (AFE) erschien zwischen 1914 und 1919 in fünf Jahrgängen. Herausgeber war während des gesamten Zeitraums der Berliner Frauenarzt Max Hirsch (vgl. Weindling 1991, S. 257). Seine Nähe zur Sozialdemokratie zeigt sich in einer Mitgliedschaft im 1918 gegründeten Verein Sozialistischer Ärzte. Er plädierte für die sog. eugenische Geburtenregelung oder „eugenische Indikation“, um für vererbbar gehaltene Krankheiten zu vermeiden, zu denen in dieser Zeit Hysterie und Epilepsie ebenso zählten wie chronischer Alkoholismus (Manz 2007, S. 61). Die künftige sozialistische Gemeinschaft habe ein Recht darauf, „unerwünschten Nachwuchs zu verhindern“ (zit. n. Schwartz 1995, S. 51). Wie die Mehrheit der sozialistisch orientierten Reformeugeniker lehnte er staatliche Zwangsmaßnahmen ab. Vielmehr sollten Sozialmaßnahmen die „Bevölkerungsqualität“ erhöhen. Sein Standpunkt zur Frauenbewegung findet sich bereits im Editorial der Zeitschrift. Dort kommt seine materialistische Grundhaltung zum Ausdruck, da er die Problemstruktur Wirtschaft an den Beginn seiner Argumentation stellte: Den Ursprung der Frauenbewegung verortete Hirsch in den ökonomischen Bedingungen. Die wirtschaftliche Notwendigkeit im Existenzkampf habe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Frauenbewegung geschaffen. Deshalb betonte er, es sei sinnlos darüber zu streiten, die Bewegung als „gut“ oder „böse“ zu beurteilen (Hirsch 1914a, S. 2 f.). Den postulierten Zusammenhang zwischen Frauenbewegung und Geburtenrückgang deutete er als Missverständnis. Es sei dadurch zustande gekommen, weil die wenigen radikalen Sexualreformerinnen der sog. Neuen Ethik, die sich für Geburtenkontrolle (Neomalthusianismus), Liebesheirat, Eheberatung sowie den Schutz unehelicher Kinder einsetzten, mit der gesamten Frauenbewegung gleichgesetzt würden (vgl. Hirsch 1916a, S. 130): Konservative Rassenhygieniker wie Bornträger, die „das Rad der Zeit rückwärts drehen“ und die „geistige Aufklärung hassen“ würden, hätten in der Frauenbewegung einen „Prügeljunge[n] gefunden“, der „sich die Schuld an dem Geburtenrückgang aufbürden lassen muss“ (Hirsch 1914b, S. 94).

Hirsch wies die Problematisierung des weiblichen Körpers zurück, die darauf abzielte, den Geburtenrückgang als eine physische Ursache darzustellen: Auf statistischer Grundlage konnte er zeigen, dass geistige Betätigung, die eine akademische Ausbildung und Berufstätigkeit erfordere, die Fruchtbarkeit keineswegs beeinträchtige. Eine „fakultative Sterilität“ sei vielmehr der Grund für den Geburtenrückgang bei Akademikerinnen und habe damit psychologische Ursachen.Footnote 6

Die Frauenemanzipation betrachtete Hirsch als das „Erwachen der Frau zur wahrhaften Mutterschaft“, deren oberstes Erziehungsziel in einer „sachgemäßen Mädchenbildung“ bestünde (Hirsch 1920, S. 135). Seine Deutung ähnelt dem Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“, das bürgerlich-gemäßigte Aktivistinnen der Frauenbewegung wie Helene Lange vertraten und damit auf einen Kulturbeitrag von Frauen außerhalb der bürgerlichen Familie zielten (Brick 1983, S. 119). Grenzen der Frauenemanzipation bestanden für Hirsch, wenn es um die „Volksgesundheit“ und das „Staatsinteresse“ ging (ebd., S. 18). Obwohl er zu den Fürsprechern der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung zählte, bestimmte das aus eugenischer Sicht aufgekommene Spannungsverhältnis zwischen „individueller Vollendung“ und Vollendung der „gattungsdienstlichen Pflichten“ seine Untersuchungen zum Geburtenrückgang (Hirsch 1916b, S. 118).

Hirsch gewann für die von ihm herausgegebene Zeitschrift bereits im ersten Jahrgang bedeutsame Vertreter der deutschen Eugenik als Autoren. Schallmayer lieferte einen Artikel über „Eugenik, ihre Grundlagen und ihre Beziehungen zur kulturellen Hebung der Frau“. In seinem Beitrag sah Schallmayer in der „öffentlichen Propaganda“ der Frauenbewegung nur eine kleine „Mitursache des Geburtenrückganges“. Er betrachtete wie Hirsch die Bewegung vielmehr als ein Ergebnis der „sozialen Verhältnisse“. Er war sich zudem bewusst, dass die Frauenbewegung „nicht einheitlich“ war, sondern aus verschiedenen „Bewegungen“ bestehe. Dennoch unterstellte er der gesamten Frauenbewegung eine Nähe zum Neomalthusianismus, da „kinderreiche Mütter“ nicht mit den Programmen der Frauenbewegung kompatibel seien (Schallmayer 1914, S. 288).

Schallmayer versuchte wie Alsberg, Bluhm und Hirsch die Frauenbewegung für die Eugenik zu gewinnen: Seine Einwände wollte er daher nicht als „Angriffe“ verstanden wissen. Die Frauenbewegung sei „unaufhaltbar“, wenngleich der darin zum Ausdruck gebrachte moderne Individualismus „die Rasse“ bedrohe. Diese Gefahr müsse erkannt und mit „Sozialpädagogik“ begegnet werden, um Frauen als „Bundesgenossinnen“ zu gewinnen. Eine künftige Mädchenerziehung und ein neues Bewusstsein für die „Ehre der Mutterschaft“ sollten die Grundlage für „dauernde Höherentwickelung der menschlichen Kultur“ bilden (ebd., S. 290 f).

Alfred Grotjahn, der in den 1920er-Jahren zu einem der bekanntesten sozialdemokratischen Eugeniker in Deutschland aufstieg, gehörte zu den ständigen Mitarbeitern der Zeitschrift. Unter den sozialistisch orientierten Eugenikern kam ihm eine Sonderstellung zu, da er eine quantitative Bevölkerungspolitik befürwortete. Dementsprechend betonte er die Fortpflanzungspflicht der Frauen. Dennoch fiel seine Kritik am Neomalthusianismus differenzierter aus, als bei den Rassenhygienikern, von denen er sich mit seinem Plädoyer für den Eugenik-Begriff auch begrifflich abgrenzte (vgl. Grotjahn 1914b, S. 18). Den Geburtenrückgang betrachtete er nicht als alleinige Folge der neomalthusianischen Postulate. Ein Problem sei vielmehr die „hemmungslose“ Anwendung von Verhütungsmitteln unabhängig von „Auslesezwecken“. Die Frauenbewegung kritisierte er im Jahr 1914 dafür, dass deren Stellung zur Eugenik noch weitgehend ungeklärt sei. Gegen das kulturkritische Motiv der „Genußsucht“, denen moderne Frauen verfallen seien, führte er an, es sei vielmehr die nachvollziehbare Furcht vor den Anforderungen an Haushalt und Erziehung, die Frauen vom „Wille zum Kind“ abbringe (Grotjahn 1914a, S. 296–298).

Die Aussagen von Hirsch, Schallmayer und Grotjahn zielten auf die Konstruktion eines eugenischen Mutterschaftsideals – also einer Subjektposition, die das moderne Frauenideal mit einer traditionellen Mutterrolle versöhnen sollte. In der reformeugenischen Zeitschrift herrschte ein Konsens darüber, mit der Frauenbewegung gemeinsam nach Lösungen für moderne Probleme zu suchen. Weder wurde wie in der PAR oder dem ARG die Frauenemanzipation externalisiert, noch finden sich Aussagen, die Gleichheit oder eine drohende weibliche Herrschaft problematisierten.

6 Fazit: Die moderne Frau im Verdikt der Sozialbiologen

Bezüge zur Frauenemanzipation fanden sich in den drei untersuchten Periodika bei 52 Autoren und zehn Autorinnen.Footnote 7 In den Fachzeitschriften äußerten sich zu diesem Thema mit Schallmayer und Ploetz auch die Begründer der Eugenik bzw. Rassenhygiene in Deutschland. Die mit der Frauenemanzipation und dem Geburtenrückgang verbundenen Problemstrukturen bezogen sich auf angrenzende Themenfelder der Sexualmoral, Koedukation, Frauenerwerbsarbeit, Wehrfähigkeit, Neomalthusianismus und Urbanisierung. Bei einer Mehrheit von 40 Autoren der PAR und ARG sowie zwei Autorinnen der PAR verbanden sich die aufgefundenen Problemstrukturen mit ablehnenden oder bedingt ablehnenden Positionen zur Frauenemanzipation. Unter ihnen besaßen Gruber und Lenz aufgrund ihrer universitären Sprechpositionen besondere Deutungsmacht unter den Rassenhygienikern. Vereinzelt finden sich in der ARG differenzierte Aussagen zur Frauenbewegung – so bei Alsberg und Bluhm. In der AFE finden sich keine grundsätzlich ablehnenden Aussagen, wenngleich sich unter den Mitarbeitenden der Zeitschrift auch Personen mit nationalkonservativer Weltanschauung wie der Archäologe Gustaf Kossinna oder der Rassenhygieniker Eugen Fischer befanden. Kritik wurde dort lediglich an Positionen geäußert, die im Zusammenhang mit neomalthusianischen Ideen standen.

Die in den letzten drei Abschnitten analysierten Aussagen sind exemplarisch für die im Diskursfeld konstituierten Problemstrukturen, von denen sich acht unterscheiden lassen: Im Bereich der Wirtschaft wurden ökonomische Entwicklungen problematisiert, durch die sich die traditionelle Lebens- und Erwerbswelt ebenso wie die Geschlechterordnung verändert hatten.

Die Problematisierung von Gleichheit bezog sich auf universalistische Tendenzen innerhalb der modernen Kultur, die bei der Erwerbsarbeit, Bildung und Politik zunehmend auch Frauen einbezog. Rassenhygieniker kritisierten Gleichheitstheorien immer dann, wenn diese traditionelle Rollen und daran geknüpfte biologische Funktionen wie das Stillen von Säuglingen infrage stellten.

Frauenemanzipation und Individualismus galten im Diskursfeld als einander bedingende Kulturbewegungen: Es ging um die Ausbildung der Persönlichkeit von Frauen sowie die Befriedigung ihrer bislang ignorierten Bedürfnisse. Problematisiert wurde, dass die individualisierten Frauen nicht länger ihrer funktionalen Rolle als sog. Gattungswesen in der Gemeinschaft gerecht werden könnten.

Die Problemstruktur der Großstadt verband sich mit einem „pronatalistischen Anti-Urbanismus“ (Planert 1998, S. 204). In der Perspektive dieser Problematisierung schlug kulturelle Verfeinerung beim Stadtmenschen ins Negative um: Das städtische Milieu spielte bei der Pathogenese von Überreizung, Nervosität und Hysterie im Diskursfeld eine bedeutsame Rolle, weil damit negative Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit befürchtet wurden.

Wurde die sinkende Geburtenrate nicht nur auf psychische, sondern auch auf physische Ursachen zurückgeführt, problematisierte dies den weiblichen Körper bzw. eine Schädigung der Reproduktionsorgane.

Vor allem bei organisierten Antifeministen tauchte eine Problematisierung weiblicher Herrschaft auf, die sich auf den vermeintlichen Endzweck der Frauenbewegung bezieht: Der Rassenhygieniker Lenz sprach beispielsweise von einem „augenblicklichen Machtrausch der Frauenbewegung“ (Lenz 1914b, S. 218). Das ähnelte dem Vorwurf der Übersteigerung, in dem die Frauenemanzipation als extrem, überemanzipiert, entartet oder katastrophenartig erschien. Flut- und Wellenmetaphern waren hierfür kennzeichnend. Damit ging zumeist die Problemstruktur der Externalisierung einher: Emanzipierte Frauen standen wahlweise mit dem Ausland, der Sozialdemokratie, dem Manchesterliberalismus, dem Neomalthusianismus oder dem Judentum im Bunde. Das reduzierte die Komplexität der sozialen und politischen Phänomene: Die Frauenbewegungen wurden auf die Intentionen ihrer vermeintlichen Führerinnen reduziert und erschienen als hierarchisch und monolithisch.

Im Folgenden werden zwei Deutungsmuster beschrieben. Dabei handelt es sich um Interpretationsvorschläge, da jede Diskursanalyse selbst nur einen „Diskurs über Diskurse“ darstellt, d. h. es erfolgt eine Rekonstruktion und keine Abbildung der Deutungen (Keller 2011, S. 321). Deutungsmuster sorgten dafür, dass sich die Problemstrukturen je nach politischer Weltanschauung zu kohärenten Urteilen kombinieren ließen: Im konservativen Deutungsmuster der mainline eugenicists erschienen Frauenemanzipation und Frauenbewegung als monolithisches Feindbild. Ökonomische Veränderungen bedingten die moderne Kultur, doch sollten die Auswirkungen auf die Geschlechterordnung durch eine Restitution der bürgerlichen Familie und der traditionellen Frauenrolle stabilisiert werden – notfalls auch durch Zwangsinterventionen. Damit wollten sie verhindern, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungsbereich und der Politik einem vermeintlich widernatürlichen Gleichheitsideal folgten, das die Geschlechterordnung unterminieren und eine weibliche Herrschaft herbeiführen würde. Die individuellen Interessen von Frauen seien dem Gemeinschaftsinteresse unterordnen. Die Subjektposition der modernen Frau grenzten sie in ihrem identitätspolitischen Kampf von der deutschen Hausfrau ab. Damit externalisierten sie unerwünschte Frauenrollen als fremd und nicht zur eigenen Kultur gehörig. „Feminismus und Völkertod“ (vgl. Anm. 1) galten als zwei Seiten einer Medaille, was den Geburtenrückgang geradezu als feindliche Strategie moderner und damit dem eigenen Volk entfremdeter Frauen erscheinen ließ.

Im linksliberalen Deutungsmuster der reform eugenicists erschien die Wirtschaft als Motor einer unaufhaltsamen Entwicklung, die auch die Geschlechterordnung veränderte. Vollständige Gleichheit und Individualismus widersprachen jedoch auch bei ihnen den eugenischen Prämissen, in denen das Gemeinschaftsinteresse aus biologischen Gründen höher firmierte. Der Ausweg bestand darin, ein eugenisches Mutterschaftsideal zu konstruieren, indem es durch Erziehung möglich werden sollte, dass Frauen sich aus eigener Überzeugung mit ihrer gesellschaftlichen Hauptrolle als Mütter identifizieren und somit ihre Verantwortung für die Gemeinschaft erkennen sollten. Das schloss Bildung und Berufstätigkeit nicht aus, verlagerte diese jedoch in den Bereich von Nebentätigkeiten. Zwar enthielt auch dieses Deutungsmuster scharfe Kritik an einer vermeintlich zu weitgehenden Frauenemanzipation, andererseits erschienen Teile der Frauenbewegung für die eigenen Ziele ansprechbar. Auch in diesem Deutungsmuster löste sich das Spannungsverhältnis zwischen Individualismus und Gemeinschaft letztlich zugunsten der Gemeinschaft auf.

In der proletarischen Frauenbewegung verbreiteten Oda Olberg oder die Ärztin Hope Bridges Adams Lehmann eugenische Denkfiguren (Lulay 2021, S. 97, 348). Bürgerlich-gemäßigte Aktivistinnen ließen sich für eugenische Belange kaum ansprechen. Zwar kam auch die bürgerlich-gemäßigte Frauenbewegung an den zeitgenössischen Debatten zur Eugenik nicht vorbei, wenn es um Fragen der Sexual‑, Sozial- und Bevölkerungspolitik ging. Eine direkte Überschneidung mit spezifisch-eugenischen Forderungen gab es hier jedoch nicht (vgl. Manz 2007, S. 208). Anschlussfähig an eugenische Denkfiguren waren paradoxerweise bürgerlich-radikale Aktivistinnen, die teilweise im BfM organisiert waren und in deren Reihen es keine „weibliche Immunisierung“ gegen Eugenik und Menschenökonomie gab (Herlitzius 1995, S. 337). Das wird in der u. a. von Ruth Bré und Maria Lischnewska vertretenen Idee einer Mutterschaftsversicherung deutlich. Diese Schnittmenge zu den Radikalen bei gleichzeitig rhetorischer Abgrenzung vom Radikalismus zeigt, dass der schillernde Begriff Frauenemanzipation im Deutungsmuster der Reformeugeniker dazu diente, ein nicht näher zu definierendes Außen zu konstruieren. Das ermöglichte es, die eigene Position davon abzugrenzen und somit als legitim darzustellen. So verteidigte Hirsch die Mehrheit der Frauenbewegung gerade dadurch, indem er einen als besonders „emanzipiert“ geltenden Teil als widernatürlich darstellte: Dieser sei „ein Auswuchs der Kultur, eine Verirrung und Modelaune der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart“ (Hirsch 1920, S. 3).Footnote 8

Die vorgenommene Diskursanalyse lotet aus, was in Bezug auf Frauenbewegung und Frauenemanzipation in der frühen deutschen Eugenikbewegung sagbar war und in welchen Bedeutungszusammenhängen derlei Aussage standen. In einer aufbauenden Arbeit ließe sich prüfen, ob sich die analysierten Problemstrukturen und Deutungsmuster auch in den Eugenikbewegungen anderer Länder finden lassen, da die deutsche Bewegung international orientiert war. Für die konsolidierende Phase der Eugenik in den 1920er-Jahren, als deren Diskurse in die breitere Gesellschaft ausstrahlten, stellt sich die Frage, welche Wechselwirkungen es zwischen den beiden beschriebenen Deutungsmustern sowie der darin enthaltenen Subjektpositionen und dem stark popularisierten Bild der Neuen Frau gegeben hat.