1 Einleitung

Wer an einer Hochschule arbeitet, kennt sie: Die Professor*innen, die ihre letzte Vorlesung halten, das Büro räumen und sich in den Ruhestand verabschieden. Dabei bedeutet das Ende der Dienstzeit nicht zwangsläufig einen endgültigen Abschied aus der Wissenschaft. Denn nicht alle widmen sich bislang vernachlässigten Freizeitaktivitäten oder suchen Ruhe im neuen Lebensabschnitt, nachdem sie mehr oder minder geräuschlos ihren Arbeitsplatz geräumt haben. Manche erhalten Arbeitsgewohnheiten aufrecht und bleiben weiterhin in Lehre oder Forschung aktiv. Schließlich gibt es auch jene, die umtriebiger als zuvor erscheinen und die neu gewonnene Zeit – ohne Pflichten in der Selbstverwaltung – für Manuskripte, Gutachten oder Anträge nutzen. Wer bislang keine Berührung mit dieser Statuspassage hatte, kennt zumindest Geschichten über sie. Denn über Ruheständler*innen im Allgemeinen und ausgewählte Exemplare dieser Art des homo academicus zirkuliert allerlei Klatsch. Dieser ist typischerweise zugleich informativ wie auch mit moralischen Untertönen versehen.Footnote 1 Was jedoch auffällt: Jenseits der Klatschgeschichten ist das Wissen über das Ende wissenschaftlicher Karrieren seltsam begrenzt (Reuter und Berli 2018). Dies betrifft auch die Wissenschafts- und Hochschulforschung, die kontinuierlich Untersuchungen zu (fast) allen Aspekten von Wissenschaftskarrieren hervorbringt. Dabei gibt es eine ganze Reihe von Fragen, an denen Forschende in diesem Bereich interessiert sein sollten. Dazu gehören beispielsweise folgende: Wie lassen sich die unterschiedlichen Formen des Ausscheidens von Professor*innen an Universitäten beschreiben, welche Bedingungen und Vorstellungen liegen ihnen zugrunde und wie gehen die betroffenen Ruheständler*innen mit dem altersbedingten Ausscheiden um? Ausgewählten Aspekten dieser Fragen wollen wir uns im Folgenden nähern.

Die präsentierten Überlegungen basieren auf einem empirischen Forschungsprojekt, das sich mit dieser bislang wenig beachteten Phase wissenschaftlicher Karrieren beschäftigt.Footnote 2 Mit der Exploration des Übergangs in den Ruhestand verfolgt das Projekt zunächst einmal das Ziel, eine empirisch bedeutsame Lücke in der Erforschung wissenschaftlicher Karrieren zu schließen, die aufgrund der Konzentration auf den sogenannten wissenschaftlichen Nachwuchs sowie einen engen Karrierebegriff diese späte Karrierephase vernachlässigt. In unserem Projekt hingegen nehmen wir diesen Übergang als Statuspassage mit eigenen Handlungsproblemen in den Blick. Zudem bietet es durch seinen Fokus auf Professor*innen eine Ergänzung zur allgemeinen Ruhestandsforschung von Führungskräften an, die ihr Augenmerk bislang v. a. auf Berufsgruppen aus der Wirtschaft und Politik gelegt hat. Denn für alle diese Gruppen stellt der Austritt aus dem Erwerbsleben und Eintritt in den Ruhestand eine Umbruchphase dar, da wichtige Aspekte der beruflichen Tätigkeit wie Strukturierung des Alltags, Einbindung in soziale Netzwerke, Möglichkeit zur persönlichen Selbstentfaltung und Statuszuweisung in der Gesellschaft teilweise entfallen. In der Forschung wird daher der Ruhestand als kritisches Lebensereignis (Matthews und Brown 1987) sowie als Übergang (Kohli 2000) gefasst.Footnote 3

Im Rahmen des Projekts haben wir unterschiedliche Zugänge und Datenformate erprobt. Beispielsweise haben wir Dokumente recherchiert und gesammelt, die den Übergang in den Ruhestand thematisieren. Dazu gehören Formulare und Handreichungen von Hochschulverwaltungen für angehende Ruheständler*innen, Informationen zu spezifischen Förderprogrammen und Seminarangeboten, wie auch zur Rechtsstellung von Ruheständler*innen, sowie Beschreibungen von Strukturen für ehemalige Hochschullehrer*innen (bspw. Ehemaligentreffen). Hinzu kam eine Erhebung von über 90 ruhestandsbezogenen Artikeln in vier universitätseigenen Zeitungen. Flankiert wurde dieser Zugang über Dokumente durch sieben qualitative Interviews mit Vertreter*innen von Sekretariaten, Personalabteilungen, Dekanaten und Förderorganisationen hinsichtlich ihrer Aufgaben und Erfahrungen mit Professor*innen im Ruhestand. Um die Perspektive der ausscheidenden Mitglieder der Universitäten in den Blick zu nehmen, haben wir zudem an unterschiedlichen Hochschulstandorten 25 problemzentrierte Interviews mit Professor*innen im Ruhestand zu ihren Erfahrungen geführt (Witzel 2000). Bei der Rekrutierung der Interviewees haben wir primär drei Kriterien beachtet: Fachzugehörigkeit (vorzugsweise Geistes- und Sozialwissenschaften), zeitliche Distanz zur Verabschiedung sowie Geschlecht.Footnote 4 Diese Interviews fanden aufgrund der pandemischen Bedingungen vorwiegend telefonisch oder in Form von Videokonferenzen statt. Diesen unterschiedlichen und reichhaltigen Materialien nähern wir uns mit einem codierenden Ansatz, der an der Grounded Theory (Mey und Berli 2019; Strauss 1987) orientiert ist, und durch Mapping-Strategien (Clarke 2005) ergänzt wird, um neben spezifischen Situationen den analytischen Fokus auf Artefakte, Praktiken und Diskurse auszuweiten.

Der folgende Einblick in diese Forschung setzt drei inhaltliche Schwerpunkte. Im Anschluss an diese Einleitung werden wir zunächst auf die Konstruktion der Sozialfigur Professor*in im Ruhestand eingehen, wie sie sich in Universitätszeitungen beobachten lässt. Daran schließt ein Perspektivwechsel im darauffolgenden Kapitel an. Hier wird der Übergang in den Ruhestand als Verwaltungsakt beschrieben. Im vierten Kapitel werden schließlich drei soziologische Konzepte eingeführt, mit denen sich typische Phänomene im Kontext der untersuchten Statuspassage in den Blick nehmen lassen. Der Artikel endet mit einem Plädoyer für eine verstärkte Zuwendung der Wissenschafts- und Hochschulforschung zu den skizzierten Themen.

2 Der Übergang in den Ruhestand in Universitätszeitungen

Es gibt etablierte Genres, in denen in mehr oder minder kompakter Form über das Leben und Wirken von Wissenschaftler*innen berichtet wird. Zu denken wäre hierbei an akademische Nachrufe (Hamann 2016) oder auch Festschriften (Hannappel und Fries 2020). Eine bislang in dieser Hinsicht wenig untersuchte Quelle stellen Universitätszeitungen dar, anhand derer sich viel über die Selbstdarstellung zeitgenössischer Universitäten lernen lässt. Sie bieten zudem eine Möglichkeit, das Thema wissenschaftlicher Ruhestand und seine mediale Darstellung in den Blick zu nehmen. Die folgenden Beobachtungen beziehen sich auf vier Hochschulzeitungen, die wir hinsichtlich ihrer Berichterstattung über professoralen Ruhestand untersucht haben.

Auf den ersten Blick erscheinen die Texte, die in Universitätszeitungen erscheinen, hoch verdichtet. So findet sich häufig nur eine kurze Notiz in über die Ausgeschiedenen – gleich neben den Neuberufenen – fokussiert auf die wichtigsten biographischen und beruflichen Eckdaten. Diese kurzen Meldungen bieten keine ausführliche Würdigung, wie sie in akademischen Nachrufen und Festschriften zu finden sind. Es sind zumeist recht kurze Artikel zum Abschied, hin und wieder gerahmt durch Bilder von Festakten, auf denen ausnahmslos glückliche Ruheständler*innen die Hände von Funktionsträger*innen schütteln und Blumensträuße oder Abschiedsurkunden entgegennehmen. Die Leser*innen erfahren vor allem etwas darüber, wie Universitäten idealisierend auf den Übergang in den Ruhestand blicken. Die typischen Themen des Klatsches – der als Privatbesitz betrachtete Tiefgaragenschlüssel oder Bibliotheksbestand – tauchen darin nicht auf. Aber es findet auch kein Diskurs darüber statt, warum es möglicherweise für ehemalige Führungskräfte schwer sein kann, den Schlüssel oder das Buch abzugeben. Überlegungen dazu, welche symbolische wie soziale Bedeutung die Weiternutzung der universitären Infrastruktur besitzt, fehlen. Kritische Stimmen, die es unter den ausscheidenden Forscher*innen durchaus gibt, werden gänzlich ausgespart. Wo innerhalb der Universität tagtäglich die kritische Reflexion beschworen wird, findet sie in der Darstellung der Ausscheidenden nicht statt. Wie lassen sich diese Darstellungen charakterisieren?

Zunächst einmal fällt auf, dass in den Universitätszeitungen, die wir untersucht haben, sich unter den abgebildeten Ruheständler*innen mehr Männer als Frauen befinden. Dies ist nicht verwunderlich, schließlich geht gegenwärtig die Generation in den Ruhestand, in der der Frauenanteil wesentlich geringer als heute und die Gleichstellungspolitik an Universitäten zudem wenig institutionalisiert war. Entsprechend naheliegend erscheint es, dass die portraitierten Professorinnen in die Rolle der Pionier*innen im Kampf gegen die Benachteiligung von Frauen in der Wissenschaft hineingeraten. In den Artikeln ist von ihnen als „erste Frau in Deutschland, die einen Lehrstuhl für ein bestimmtes Fachgebiet bekleidet“ die Rede, sie werden mit der Zuschreibung „erste Frauenbeauftragte“ sowie „Forscherin, die zu sogenannten Frauenthemen forscht“ versehen oder direkt als „Wegbereiterin der Frauen- und Geschlechterforschung“ vorgestellt. Häufiger als dies bei ihren männlichen Altersgenossen der Fall ist, finden sich zudem Bemerkungen zu ihrer „Fürsorge gegenüber dem wissenschaftlichen Nachwuchs“ oder Hinweise auf außeruniversitäre Hobbys und besondere Charaktereigenschaften. Zudem treten die Porträtierten nicht nur als Wissenschaftlerinnen, sondern teilweise auch als Ehefrauen oder Mütter in Erscheinung. Die entsprechenden Artikel zu ausscheidenden Professoren verzichten hingegen typischerweise auf eine Sichtbarmachung als Mann. Sie zeichnen die Portraitierten ausschließlich als wissenschaftliche Persönlichkeit, die typischerweise in der Forschung „Großes geleistet hat“ und „beruflich überaus erfolgreich“ war.

Darüber hinaus offenbaren die Artikel, wie die Konstruktion wissenschaftlicher Persönlichkeiten mit der Konstruktion wissenschaftlicher Leistung verschränkt ist. So werden die Berichte in den Hochschuljournalen von der großen Erzählung der wissenschaftlichen Karriere als lineare Abfolge beruflicher Stationen inklusive der damit verbundenen machtvollen Ämter und Positionen sowie wissenschaftlicher Leistungen getragen – ein Karrierekonzept, das angesichts seiner normativen Implikationen und der empirisch vorfindbaren Vielfalt an Karriereverläufen problematisierbar ist.Footnote 5 Sie findet sich in nahezu jedem Artikel – unabhängig vom Geschlecht der portraitierten Person. Gleichwohl ist es auffallend, dass die Professoren ohne Hinweise auf ihre soziale Einbettung, private Lebensform und Leidenschaften außerhalb ihrer beruflichen Tätigkeit dem Mythos vom Wissenschaftler als genialem Einzelgänger mehr zu entsprechen scheinen. Und noch eines fällt bei der Betrachtung der Artikel auf: Viele enden sinngemäß mit der Aussage, dass die Ausscheidenden der Universität und Fachwelt weiterhin verbunden bleiben wollen. Wie und in welcher Form wird dabei typischerweise nicht genauer ausgeführt.

3 Der Übergang in den Ruhestand als Verwaltungsakt

Wechselt man die Perspektive und betrachtet die wissenschaftliche Tätigkeit von Professor*innen aus Perspektive der Verwaltung, stellt sich der Übergang in den Ruhestand anders dar. Zunächst drängt sich der Eindruck auf, dass Praktiken des professionellen Offboardings an Hochschulen fehlen (vgl. Reuter und Berli 2021). An Universitäten und in ihrem Umfeld gibt es nur sehr wenige und zugleich wenig spezifische Beratungs- und Seminarangebote rund um das Ende wissenschaftlicher Karrieren.Footnote 6 Thematisch liegt der Fokus mehrheitlich auf beamten- wie versorgungsrechtlichen Aspekten: Rentenanrechnung, Ausgleichszahlungen, vermögenswirksame Leistungen, Nebentätigkeiten oder Weitergewährung der Beihilfe lauten die Stichworte. Dies ist wenig überraschend, denn Ruhestand ist aus Sicht der Universitäten zuvorderst ein Verwaltungsakt, den es zu organisieren gilt. Rechtliche Vorgaben, wie das Landesbeamtengesetz, dienen als Leitplanken im Umgang mit Ruheständler*innen – mit föderalem Anstrich: Während in Niedersachsen die Regelaltersgrenze erst mit der Vollendung des 68. Lebensjahres erreicht wird, dürfen in Rheinland-Pfalz Professor*innen bereits mit 65 Jahren offiziell in den Ruhestand gehen.Footnote 7 Eine Verlängerung der Dienstzeit um ein bis drei Jahre ist auf Antrag möglich. Dieser Antrag bedarf jedoch der Unterstützung der Kolleg*innen und typischerweise auch der Fakultät, um erfolgreich zu sein. Dies mag auch dazu führen, dass manch eine*r den Antrag nicht stellt, wie auch umgekehrt Verlängerungsgesuche lediglich für ein Jahr genehmigt oder auch abgelehnt werden. Dahinter stehen nicht zwangsläufig private Animositäten oder Konkurrenzen, die es natürlich geben kann. Vielmehr spielen Aspekte wie Standortlogik, Fächergröße, Nachfolgeregelung oder Lehrbedarfe bei der Bewilligung eine Rolle.Footnote 8 Für die ausscheidenden Professor*innen stehen dabei unterschiedliche Dinge auf dem Spiel: Mitgliedschafts- und Zugangsrechte, aber auch das wissenschaftliche Selbst.Footnote 9

4 Den Übergang in den Ruhestand verstehen: Konzeptionelle Angebote

Es wäre naheliegend, die angedeutete Vielfalt an Perspektiven auf den Übergang von Professor*innen in den Ruhestand der Standortgebundenheit und Perspektivität des Wissens oder allein den Usancen und Idiosynkrasien der einzelnen Universitäten, Fächer und Betroffenen zuzurechnen. Diesen Weg wollen wir hier nicht beschreiten. Vielmehr wollen wir im Folgenden einige Konzepte einführen, die für ein besseres Verständnis des Übergangs und seiner vielgestaltigen Thematisierung hilfreich sind. Dies erscheint notwendig, da dieser in der Wissenschafts- und Hochschulforschung bislang nicht systematisch in den Blick genommen wurde. Hier dominieren nach wie vor Fragen nach dem Eintritt und Verbleib in wissenschaftliche Karrieren. Aufgrund des zahlenmäßig sehr umfassenden akademischen Mittelbaus in überwiegend prekären, weil befristeten Beschäftigungsverhältnissen, ist diese Schwerpunktsetzung nachvollziehbar.Footnote 10 Dennoch lässt sich argumentieren, dass das altersbedingte Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, zumal für langjährige Organisationsmitglieder, neben versorgungsrechtlichen Fragen auch Fragen nach Identität und Zugehörigkeit, aber auch nach Optionen der Verlängerung wie Weiterbeschäftigung ebenso wie nach Repräsentation und Anerkennung von (Lebens)Leistungen aufwirft. Schließlich gehen mit den Professor*innen ehemalige Führungskräfte in den Ruhestand, die nicht nur in Lehre und Forschung beschäftigt waren, sondern die Universität als Organisation auch mitgestaltet haben; viele von ihnen haben ihren Beruf jahrzehntelang als Berufung gelebt und weder ihre Tätigkeit noch ihre Kolleg*innen bloß als Arbeit wahrgenommen (Weber 1988 [1919]). Mit welchen Konzepten kann die Soziologie zu einem besseren Verständnis des Endes wissenschaftlicher Karrieren beitragen?

Erstens hilft ein mehrdimensionales Karrierekonzept, um die Komplexitäten und Unwägbarkeiten wissenschaftlicher Karrieren besser zu verstehen. So unterscheiden beispielsweise Grit Laudel und Jochen Gläser drei interdependente Karrieren, die Wissenschaftler*innen durchlaufen: Eine kognitive Karriere als Abfolge von Forschungsthemen und -projekten, eine Organisationskarriere als Abfolge von Positionen innerhalb von Universitäten und anderen Organisationen sowie eine Karriere innerhalb der jeweiligen Fachcommunity (Gläser und Laudel 2015). Eine solche Konzeptualisierung erlaubt, die unterschiedlichen Positionen und Zugehörigkeiten von Wissenschaftler*innen und damit auch mögliche Spannungsmomente in den Blick zu nehmen. Übertragen auf den professoralen Ruhestand bedeutet dies, dass das altersbedingte Ausscheiden zunächst die Organisationskarriere betrifft. Die involvierten Stellen innerhalb von Landesverwaltung und Universität behandeln den Übergang in den Ruhestand ihrer Funktionen und Perspektiven entsprechend als Verwaltungsakt. Davon (zunächst) nicht betroffen sind die kognitive Karriere wie auch die Einbindung in die Scientific Community – diese müssen nicht gleichzeitig enden. Zumal die meisten wollen, dass sie nie enden. In unseren Interviews mit Professor*innen im Ruhestand fielen mehr als einmal Sätze wie „ich kann nicht aufhören zu denken“. Hinsichtlich der Verfolgung ihrer intellektuellen Interessen signalisieren denn auch viele der ausscheidenden Professor*innen Kontinuität. Gleiches gilt – unter bestimmten Bedingungen – auch für die Einbindung in die Fachgemeinschaft. Unsere Interviewpartner*innen sind oftmals weiterhin über Gutachten, Vorträge und andere Aktivitäten eingebunden. Ob die wissenschaftliche Tätigkeit mit dem Eintritt in den Ruhestand endet oder weiter fortgeführt werden kann, entscheidet jedoch nicht allein der Wille und Gesundheitszustand der Forschenden. Der Möglichkeitsraum für weitere Forschung und Lehre hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, wie beispielsweise dem Zugang zu notwendiger Infrastruktur. Der bereits mehrfach zitierte Schlüssel steht sinnbildlich für die vielen, damit verbundenen Fragen des Zugangs und der (Weiter)Nutzung von Räumlichkeiten, Einrichtungen, technischem Equipment oder Personaldienstleistungen. Was von Einzelnen als notwendig angesehen wird, hängt stark von der jeweiligen, fachkulturell geprägten Arbeitsweise ab. Sind ein Zugang zu einer Bibliothek und zeitlich klar definierte Archivreisen ausreichend oder bin ich angewiesen auf ein Labor und die Vorarbeiten von mehreren Personen?

Zweitens gibt es für Professor*innen an deutschen Universitäten bekanntlich eine gesetzlich geregelte Altersgrenze. Wann also der Übergang in den Ruhestand ansteht, ist für die Beteiligten leicht auszurechnen, zumal hochschulische Personalabteilungen darüber Buch führen. Wie der Eintritt ist jedoch auch das altersbedingte Ausscheiden nicht nur ein Verwaltungsakt. Er ist auch mit einem Rollenwechsel verbunden bzw. soziologisch formuliert, er ist eine Statuspassage. Mit Statuspassagen wird ein sozial strukturierter Prozess bezeichnet, in dem es zu Statusveränderungen kommt (Glaser und Strauss 1971). Üblicherweise sind solche Übergänge bis zu einem gewissen Grad geregelt und der damit verbundene Statuswechsel rituell gestaltet. Innerhalb von Wissenschaftskarrieren gibt es eine Reihe unterschiedlicher Statuspassagen wie beispielsweise die Promotion. Solche Statuspassagen innerhalb von Wissenschaftskarrieren können unterschiedliche formale Eigenschaften aufweisen. Sie können unter bestimmten Bedingungen reversibel sein (Doktortitel können aberkannt werden) oder übersprungen werden (Berufungen auf Professuren sind auch ohne vorherige Habilitation möglich). Anders als andere Statuspassagen – beispielsweise eine Heirat – ist der Übergang in den Ruhestand weder abzuwenden noch rückgängig zu machen. Er lässt sich jedoch verzögern. Entweder über eine Verlängerung der Dienstzeit um bis zu drei Jahre oder in Form einer Seniorprofessur. Auch unsere Interviewpartner*innen haben zum Großteil von ihrer beruflichen Verlängerungsoption Gebrauch gemacht; nicht nur aber auch weil die wissenschaftliche Tätigkeit für sie eine Berufung ist.Footnote 11 Während die einen am Opus Magnum schreiben, engagieren sich andere als Gutachter*innen, besuchen Tagungen oder planen weiterhin Archivaufenthalte. Aber auch wenn solche Optionen existieren, ist der Übergang bereits eingeläutet. Denn auch seitens der Organisation wird die Statuspassage mitgestaltet: Es werden Vorkehrungen in Form von Nachfolgeregelungen getroffen, indem Ämter frühzeitig neu besetzt, Stellenausschreibungen auf den Weg gebracht oder Räumlichkeiten umgenutzt werden. Nicht immer sind die Entscheidungen der Organisation zeitlich synchronisiert mit den Entscheidungen der Ausscheidenden, weshalb der Übergang in den Ruhestand zahlreiche Interessenkonflikte birgt.

Damit steht drittens auch die Notwendigkeit im Raum, mit den unterschiedlichen Anforderungen, die der Statuswechsel mit sich bringt, umzugehen. Mit Erving Goffman ließen sich diese Strategien des Abgleichs der Erwartungen und der Anpassung an die veränderten Bedingungen im Ruhestand auch als Prozess des „Cooling Out“ interpretieren (Goffman 1952). Dieser Prozess bezeichnet zunächst Strategien der Anpassung und Bearbeitung von enttäuschten Erwartungen, die als eine Bedrohung des Selbst wahrgenommen werden können. Denn auch dies gehört zur Statuspassage Ruhestand. Der sich verändernde Möglichkeitshorizont wird zur zumindest vorübergehenden Infragestellung des über Jahrzehnte aufgebauten wissenschaftlichen Selbst. Der alte Status geht verloren, der neue muss erst ausgehandelt werden. Die seitens der Universität zur Verfügung gestellten „Ersatzleistungen“, wie beispielsweise Emeritizimmer, Alumnitreffen oder Ehrenmitgliedschaften, besitzen dabei eine Vermittlungsfunktion zwischen den Erwartungen und den tatsächlichen Begrenzungen seitens der Organisation. Mit einem erweiterten Verständnis dieses sozialen Prozesses kommen andere Formen des Erwartungsmanagements in den Blick.Footnote 12 Denn der Übergang in den Ruhestand bedeutet nicht zwangsläufig eine gleichzeitige Verengung des Möglichkeitshorizontes. Vielmehr können sich beim Übergang auch Spielräume eröffnen: Neben neuen Aufgaben in Beratung und Repräsentation ist ebenso denkbar, dass es angesichts der Freisetzungen aus Selbstverwaltung und Lehre zu einem temporären „Warming Up“ kommt, im Sinne einer Erweiterung des Möglichkeitshorizonts. Denn die Freisetzung aus Lehre und Selbstverwaltung ermöglicht für manche stärkeres Engagement – beispielsweise als Gutachterin – als zuvor.

5 Am Ende

Die Rede vom Ruhestand als Ende der wissenschaftlichen Karriere ist analytisch ungenau, insofern als damit ein abrupter Ausstieg zum Zeitpunkt der Dienstaltersgrenze gemeint ist. Sie übersieht, dass Ruhestand ein Prozess ist, der sowohl Ungleichzeitigkeiten im Hinblick auf die unterschiedlichen Dimensionen einer Wissenschaftskarriere wie Ungleichheiten im Zusammenwirken von Organisation und Person bereithält. Entsprechend verlangt die Statuspassage Ruhestand dem Einzelnen ein diffiziles Erwartungsmanagement ab, gerade weil es nicht nur um die Schlüsselübergabe, sondern um einen Statuswechsel in einem mit Idealen und Identifikationen hoch aufgeladenen Feld geht. Dies betrifft am Ende nicht nur Professor*innen, sondern all jene, die Wissenschaft als Berufung leben. Dies sind bekanntlich viele. Auch deshalb wird es Zeit, dass sich neben Universitäten und Forschungseinrichtungen auch die Hochschul- und Wissenschaftsforschung des Ruhestandsthemas annimmt.