1 Einleitung

Doch was nennt man, muss man wieder fragen, eine prostituée? Wenn der polizeiliche Erlaubnisschein die Grenze bildet, so – haben wir in Berlin nur 274 öffentliche Dirnen!

Johann Ludwig Casper, Herausgeber der Wochenschrift für die gesamte Heilkunde, hielt 1837 seinen Finger auf eine offene Wunde. Die Zahl der zur Ausübung der „gewerblichen Unzucht“ polizeilich registrierten Frauen schien angesichts der in den Straßen Berlins als allgegenwärtig wahrgenommenen Prostitution verschwindend klein. In seiner Rezension der 1836 erschienenen und umgehend ins Deutsche übersetzten Schrift von Alexandre Jean-Baptiste Parent-Duchâtelet zur Prostitution in Paris deutete Casper das an, was alle wussten: Die eingeschriebenen und sanitätspolizeilich überwachten Frauen stellten in Berlin nur einen Bruchteil des ‚tatsächlichen‘ Ausmaßes aller „käuflichen Frauen“ dar. Als ungleich zahlreicher vermutete Casper die in den dunklen Winkeln der Stadt verborgenen und sich jeglicher Kontrolle entziehenden geheimen Prostituierten (Casper 1837, S. 90).

Parent-Duchâtelet, Ethnograph des Pariser Kanalisationssystems und Pionier der Hygienebewegung in Frankreich, untersuchte in seiner Milieustudie eingehend die polizeilich kontrollierten Prostituierten. Dabei stützte er sich auf Beobachtungen unmittelbar aus den Tiefen des Lasters, der direkten Befragung der „käuflichen Frauen“ und privilegierte statistische Evidenzen. Was als Wissen „aus erster Hand“ dem Licht der Öffentlichkeit geboten wurde, war jedoch nur ein kleiner Ausschnitt der berüchtigten Pariser „öffentlichen Sittenlosigkeit“. Als prominenter Befürworter der staatlichen Reglementierung der Prostitution übersah Parent-Duchâtelet die „im Geheimen betriebenen Ausschweifungen“ keineswegs, erachtete sie aber aufgrund der strengen Kontrollen der Pariser Polizei als ein zukünftig schwindendes Phänomen.Footnote 1

Entgegen der Position des Autors der vielrezipierten französischen Studie sah man in Berlin die Situation jedoch deutlich pessimistischer. Der Ansatz einer empirischen Erfassung wurde in Berlin rasch aufgegriffen und auf die geheimen Prostituierten erweitert. In enger methodischer Anlehnung an Parent-Duchâtelet und zugleich schroffer Ablehnung jeglicher staatlichen Toleranz gegenüber dem „Gewerbe mit der Unzucht“ strebte der Polizeirat Carl Merker (1775–1842) Licht in die dunklen Winkel der Stadt zu bringen. Sein Fokus auf die „überhandnehmende Winkelhurerei“ offenbart eine markante Verschiebung in der Wahrnehmung urbaner Bedrohung. Waren ihm die sich der polizeilichen Überwachung notorisch entziehenden Prostituierten in seinem „Handbuch für Polizey-Beamte im ausübenden Dienste“ lediglich ein paar allgemeine Hinweise zu ihrer Ergreifung wert (Merker 1818, S. 100), so avancierten sie zwei Jahrzehnte später in seiner Brandschrift zu den „Hauptquellen der Verbrechen Berlins“ zu einem der maßgeblichen urbanen Laster und Ursachen des Anstiegs krimineller Machenschaften (Merker 1839, S. 47).

Der Polizeirat positionierte sich als intimer Kenner der Berliner Ermittlungsarbeit und legte eine Analyse der nicht eingeschriebenen „Buhldirnen“ vor. Diese schied er grob in zwei Kategorien, die vornehmen Freiern dienenden und die, ungleich zahlreicheren, aus ärmsten Verhältnissen stammenden Frauen, die meist unter dem Deckmantel eines anderen Berufes ihrem geheimen Gewerbe nachgingen. Ihre besondere Gefährlichkeit sah er in ihrer Ununterscheidbarkeit zu „ehrbaren Frauen“, wie in ihrer genuinen Nähe zum kriminellen Milieu. Diese Topoi, die die klandestine Ausübung der Prostitution fortan zu einem Stein des Anstoßes der bürgerlichen Welt machen sollten, wusste Merker zu verknüpfen mit einem Katalog weitreichender Forderungen zur Aufdeckung dieser Frauen. Er brandmarkte die „unendlichen Hindernisse“ in ihrer Verfolgung und monierte, dass nur ein Bruchteil der ‚tatsächlich‘ vorhandenen geheimen Prostituierten inhaftiert werden könne, ein Umstand, der Staat und Gesetz regelrecht verhöhne (ebd., S. 28–47).

„Buhldirnen“ und „Gassenhuren“ wurden nur selten denunziert, Geständnisse waren kaum zu erlangen und ihr Ergreifen in flagranti erachtete Merker als unrealistisch.Footnote 2 Die sogenannte „Winkelhurerei“ war jedoch nicht nur ein Dorn im Auge polizeilicher Ermittlungsarbeit. Die geheime und somit sanitätspolizeilich nicht überwachbare Prostitution wurde überdies eng assoziiert mit der Ausbreitung der gefürchteten Syphilis. Hegte man mit der strengen Aufsicht über die registrierten Prostituierten die Hoffnung die Ansteckungen in Schach halten zu können, so figurierte im Gegensatz dazu die sich jeglichen Kontrollen entziehende Prostitution als der primäre Herd der syphilitischen „Durchseuchung“ der Bevölkerung.Footnote 3

Der deutlich geschärfte Blick auf die bedrohlichen Berliner Verhältnisse (Hüchtker 2000) verlieh einem alten Problem eine neue Tiefendimension. Die in mehrfacher Hinsicht als gefährlich imaginierten „Winkelhuren“ waren anwesend und abwesend zugleich. Als Objekt wachsender kommunaler Sorge entzogen sie sich dem polizeilichen und sanitätspolizeilichen Zugriff und somit auch der quantitativen Erfassung. Hier angesprochen ist – modern gesprochen – das Phänomen der Dunkelziffer. Mit ihr bezeichnet ist ein der Statistik verborgenes, aber als untrüglich vorhanden angenommenes Geschehen.Footnote 4 Wissen und Nichtwissen sind, wie zu zeigen sein wird, in der Rede vom unbekannten Ausmaß der Bedrohungen gleichermaßen präsent.

Berlin wurde vielfach als eine Hochburg der klandestinen Prostitution beklagt, begünstigt durch die zahlreichen Schlupfwinkel und Anonymität in der Metropole (Wollheim 1844). Die als schier unermesslich wahrgenommenen weiblichen Gefahrenherde (Sabisch 2007) rückten im frühen 19. Jahrhundert verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Anhand von Quellen zur Lage in der rasch anwachsenden Stadt Berlin untersucht der Beitrag zum einen die polizeilichen, medizinischen und administrativen Zugriffe auf die Ausübung der geheimen Prostitution wie auch der gefürchteten Ansteckungen mit der Syphilis. Die Praktiken der Ermittlung im „Milieu der Unzucht“ sind zum anderen nicht zu trennen von der Wirkmächtigkeit des Phänomens der fehlenden Daten. Die Verfahren des Einhegens unsicherer Befunde richteten sich auf die „Horte der Unsittlichkeit und Heimlichkeit“ und der ihnen zugeschriebenen Bedrohungen für die Gesundheit der allgemeinen Bevölkerung.

Ausgangspunkt meiner Untersuchung ist die seitens der historischen Forschung weitgehend unbeachtete, zeitgenössisch jedoch vielfach artikulierte und unwidersprochene Annahme, dass die Zahl der klandestinen Prostituierten ungleich höher sei als die der behördlich registrierten Frauen. Wie aber funktionierte ein Zugriff auf geheimnisumwitterte und gefahrenbesetzte Bereiche, und welche Rolle spielte der Umstand es mit einem Geschehen zu tun zu haben, das sich nur partiell erschließen lässt? Der vorliegende Beitrag kann an eine Fülle bereits vorliegender Studien zur Geschichte der Prostitution und der Geschlechtskrankheiten anknüpfen. Deren Hauptaugenmerk jedoch liegt auf der reglementierten und somit für die Behörden sichtbaren, erfassbaren und kontrollierbaren Ausübung der Prostitution und ihrer sittlichen und gesundheitlichen Bedrohung der allgemeinen Bevölkerung.Footnote 5 Wenn auch der zeitgenössisch intensiv geführte Diskurs zur heimlichen Prostitution keineswegs übersehen wurde (v. a. Hüchtker 1999, S. 182–193; Wingfield 2017, S. 137–163), so richte ich den Fokus auf das Postulat der Unschärfe selbst und stelle die Verwaltung eines bestenfalls partiell in Erfahrung zu bringenden Wissens in den Mittelpunkt meiner Untersuchung.

Der erste Abschnitt widmet sich dem Aufkommen der kommunalen Sorge um die geheime Prostitution im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regelung einer reglementierten Prostitution und der zur Wende zum 19. Jahrhundert deutlich intensivierten medizinalpolizeilichen Aufsicht (I.). Analog zu der Annahme nur einen Bruchteil der dem „Gewerbe der Unzucht“ nachgehenden Frauen erfassen zu können, ging man hinsichtlich der Ansteckungen mit der Syphilis ebenso von einem hohen Anteil verheimlichter, unbehandelter und folglich stetig steigender Zahl der Fälle aus. Die bereits im frühen 19. Jahrhundert verfügte zwangsweise Einweisung der erkrankten Prostituierten ermöglichte es zwei Jahrzehnte später an der Charité und in enger Zusammenarbeit mit der Polizei ein komplexes System der Nachverfolgung der Infektionsketten aufzubauen (II.). Das Nichtwissen beziehungsweise höchst unsichere Wissen um die tatsächlichen Geschehnisse beförderte jedoch nicht nur Kontrollen repressiver Natur, sondern auch ein Umdenken in der Vorgehensweise der Abwehr der multiplen Gefahren. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts und unter dem steigenden sozialen Druck wurden als Antwort auf die proklamierte drohende „Durchseuchung“ der Berliner Bevölkerung erste gesundheitspolitische und präventiv motivierte Maßnahmen entwickelt (III.). Entgegen dem Postulat medizinisch-therapeutischer Intervention schieden sich jedoch die Geister an der Frage der rechtlichen Ausgestaltung der Prostitution. Dreh- und Angelpunkt der spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einander schroff gegenüberstehenden Positionen war die Zurückdrängung der unkontrollierten Ausübung der Prostitution (IV.). Abschließend wird Ausblick genommen auf die sich ab dem frühen 20. Jahrhundert durchsetzende ‚rationale‘ Regierung von Gesundheit und der persistierenden Problematik der nur bedingt fassbaren syphilitischen Ansteckungen in der Bevölkerung (V.). Das Bewusstsein stets nur einen Teil oder gar Bruchteil der urbanen Gefahrenherde erkennen zu können hat, so meine These, einen wesentlichen und seitens der historischen Forschung bislang unbeachteten Anteil an der Entstehung von dem, was heute als präventiv orientierte Gesundheitspolitik firmiert. Die sich dem Auge des Gesetzes und folglich auch der statistischen Erfassung entziehenden Geschehnisse lassen sich keineswegs eindeutig in den Bereich eines absoluten Nichtwissens verbannen. Vielmehr erfordern sie auf neue Weise den Blick auf die Technologien und Rationalitäten des Regierens von Gesundheit zu richten.Footnote 6

2 Vom Dunkel der Gassen und dem Licht der Kontrolle

Wie mit dem Zitat von Casper bereits angedeutet, war „das Andere“ der behördlich kontrollierten Prostitution höchst unbestimmt. In Anlehnung an die vielrezipierte französische Studie meinte Casper lediglich sicherzugehen, dass damit nicht die débauche publique gemeint und auch „unmöglich jede Verführte“ als Prostituierte zu bezeichnen sei (Casper 1837, S. 89). Die Bezeichnung einer „Prostituierten“ ist unüberhörbar vom zeitgenössischen Frauenbild geprägt.Footnote 7 Im ausgehenden 18. Jahrhundert lässt sich allerdings im Hinblick auf die Form ihrer Ausübung eine markante Differenz ausmachen, die den sowohl polizeilichen als auch medizinischen Diskurs um die „käufliche Lust“ fortan wesentlich bestimmen sollte.

Die gesetzliche Einhegung einer geheimen Prostitution erfolgte im Zuge präzisierter Bestimmungen für die reglementierte Prostitution. Das Berliner Bordellreglement von 1792 und das Allgemeine Landrecht von 1794 erachteten die sogenannte gewerbliche Unzucht als ein „notwendiges Übel“, dass in großen Städten zwar zu dulden, aber sanitätspolizeilich streng zu kontrollieren sei. Explizites Ziel der an der Wende zum 19. Jahrhundert erlassenen Berliner Bordell-Reglements war es, die Ansteckungen mit der Syphilis „nicht nur in ihrem überhandnehmenden Fortgange zu hemmen, sondern so viel immer möglich ganz auszurotten“. Um das Verschweigen und Nichtbehandeln venerischer Infektionen hintanzuhalten, richtete man die „Hurenheilungskassa“ ein. Die darüber erzielten Einnahmen dienten der Kosten der stationären Behandlung der „eingeschriebenen Dirnen“. Zudem ermöglichte dieses System erstmals eine statistische Erfassung der in Berlin zur Ausübung der Prostitution registrierten Frauen. Von ihnen waren die „im Finstern auf den Straßen umherwankenden Gassenhuren“ nunmehr rigoros zu scheiden und zu verfolgen.Footnote 8 An die Stelle der bisherigen Praxis, heimliche Prostituierte bei ihrer Überführung in die Listen einzuschreiben und sie so den regelmäßigen Untersuchungen zuzuführen (Haustein 1926b, S. 565), waren sie nun verstärkt aufzugreifen, im Falle einer Infektion in die Charité zu transferieren und nach ihrer verpflichtenden Behandlung für sechs bis zwölf Monate in ein Zuchthaus einzuweisen (Bordell-Reglement 1792).

Die „Winkelhurerei“ war somit erst in Differenz zur registrierten Prostitution und der strengen Kontrolle der „öffentlichen Häuser“ zu einem eigenständigen Gegenstand kommunaler Sorge geworden (vgl. Harsin 1985). Die Kenntnisnahme vom Treiben in den dunklen Gassen (vgl. allg. Schlör 1991) bedurfte zumindest in Teilen auf der Bereitschaft der Bevölkerung verdächtige Frauen zur Anzeige zu bringen. Das Berliner Bordellreglement setzte hier gezielt auf ein aktives Mitwirken der Bürger und gewährte Denunzianten finanzielle Anreize.Footnote 9 Zum einen galt es die Vigilanz und Anzeigebereitschaft der Stadtbewohner zu befördern. Zum anderen wurde die Schwelle des behördlichen Zugriffs deutlich gesenkt. Die Zuständigkeit bei Verdachtsfällen auf geheime Prostitution wechselte 1798 von den Berliner Stadtgerichten zu der dem wenig kontrollierbaren Treiben auf den Straßen ungleich näheren Polizeidirektion.Footnote 10

Vorrangig jedoch galt es die „Winkelhurerei“ als veritablen Straftatbestand zu verfestigten. Die Praxis der Strafverfolgung offenbarte die Notwendigkeit, die gesetzlichen Vorgaben an die Lebensrealität zu adaptieren und ein Stück weit zurückzunehmen. Gemäß einer 1799 erlassenen Novelle des Berliner Bordellreglements war die volle Höhe der Sanktionen nur dann zulässig, wenn die ertappten Frauen von den gesetzlichen Bestimmungen auch tatsächlich Kenntnis gehabt hatten. Andernfalls hatte sich die Polizei darauf zu beschränken, die Verdächtigten in Bezug auf die gesetzlichen Bestimmungen zu belehren, die Angaben hierzu in einer Registratur aufzunehmen und eine außerordentliche Strafe auszusprechen.Footnote 11 Die partielle Rücknahme der wenige Jahre zuvor in Kraft getretenen Bestimmung zeigt, dass um 1800 der Tatbestand der geheimen Prostitution in seiner Unrechtmäßigkeit noch nicht im Bewusstsein der Bevölkerung verankert war. Die Verfestigung der gesetzlichen Bestimmungen stellten jedoch nur einen Pfeiler in der Bekämpfung der Gefahrenherde dar. Die kommunalen Anstrengungen richteten sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, darauf, der Überhandnahme der syphilitischen Ansteckungen in Berlin zuvorzukommen.

3 Zum Nachverfolgen der Infektionsketten

Die Ermittlung der mit Syphilis Infizierten rückte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Berlin wie auch den ländlichen Regionen Preußens in das Blickfeld der medizinalpolizeilichen Verwaltung. Die Annahme, stets nur einen Bruchteil der tatsächlichen Zahl der Erkrankten zu erfassen, beförderte die Verfahren des Auskundschaftens der nur schwer in Erfahrung zu bringenden Informationen. Am flachen Land ließen die mangelnde Verbindung der einzelnen Behörden, der fehlende Zugriff der Exekutive auf den Adelsgütern, wie die nur geringe Dichte der ärztlichen Versorgung die Ermittlungen der venerisch Erkrankten meist ins Leere laufen. Mitte der 1820er-Jahre pochte man zur Eindämmung der Syphilis verstärkt darauf, die gesuchten Informationen ans Licht zu bringen: Kreisphysiker sollten, sobald sie von einer Infektion Kenntnis erlangten, den Spuren der Ansteckung folgen, Militärärzte wären zur Anzeige bei den Polizeibehörden zu verpflichten, und Geistliche seien gezielt in den Gang der Ermittlung und Weitergabe intimer Informationen einzubinden (Richter 1913, S. 213). Im preußischen „Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten“ bezweifelte man jedoch die Richtigkeit der in Erfahrung gebrachten Zahlen, „da es trotz aller Verfügungen wohl nie dahin kommen wird, dass alle Ärzte und Wundärzte jeden von ihnen behandelten venerischen Kranken zur Anzeige bringen, der vielen Fälle nicht zu gedenken, wo leichtere primäre venerische Übel von den Kranken selbst behandelt oder abgewartet und durch Naturhilfe, Diät usw. geheilt werden“.Footnote 12

Entgegen der Situation in den Provinzen sah man sich in den Städten überdies mit den durch die Prostitution häufigeren Ansteckungen konfrontiert. Um die befürchtete „Durchseuchung“ mit der Syphilis hintanzuhalten und die eng damit assoziierte „Winkelhurerei“ unter Kontrolle zu bekommen, setzte man in Berlin auf ein Zusammenwirken von medizinischer und polizeilicher Ermittlungstätigkeit. Der Schulterschluss der Instanzen zielte sowohl auf die forcierte Erfassung der im Geheimen agierenden Prostituierten als auch der syphilitisch Infizierten im Allgemeinen. Die stationäre Behandlung unbemittelter geschlechtskranker Personen erfolgte an der Charité. Aus der früheren Abteilung für „innerlich Kranke, Krätzige und Geisteskranke“ heraus wurde 1822 eine eigenständige und deutlich erweiterte Station für Syphilis geschaffen. Deren Leitung wurde Carl Alexander F. Kluge (1782–1844) übertragen, der die Forschung zur Syphilis als der im 19. Jahrhundert meistgefürchteten aller Geschlechtskrankheiten wesentlich vorantrieb. Eben hier etablierte der spätere kommissarische Direktor der Charité ein ausgeklügeltes System der Nachverfolgung der Infektionsketten.

Klinische Forschung und sanitätspolizeiliche Ermittlungsarbeit wurden von Kluge auf das Engste miteinander verschaltet. Die Verhütung der weiteren Verbreitung der Syphilis zählte explizit zu den Zielsetzungen seiner ärztlichen Tätigkeit (Haubold 1998). In seiner Abteilung wurden sowohl medizinische Daten als auch Informationen zu den Wegen der Ansteckungen akribisch ermittelt und dokumentiert. Ein zentraler Teil seiner Dokumentation waren die ab 1822 geführten „medicinal-polizeylichen Nachweisungen“. Per Formular wurden von jedem einzelnen Patienten detaillierte Informationen zur „Empfängnis des Giftes“ und zur weiteren „Übertragung des Giftes“ erhoben. Diese zwei Rubriken des Formulars waren jeweils unterteilt und beinhalteten Folgefragen „von wem, an welchem Ort, zu welcher Zeit und welche Art und Weise“ die Ansteckung stattgefunden habe. In einer dritten Rubrik waren Angaben zur Art der Behandlung vor der stationären Aufnahme an der Charité festzuhalten. Die letzte Spalte auf dem von Kluge eigens entwickelten Vordruck ließ Raum für etwaige nachträgliche Bemerkungen.Footnote 13

Die Befragung der Patienten erfolgte in zwei Schritten: zuerst ermittelten die Ärzte direkt am Krankenbett. Um die nur schwer in Erfahrung zu bringenden Auskünfte weiter zu forcieren, wurden die Hospitalisierten, wie es hieß, von Kluge selbst ausführlich vernommen. Alle diese Angaben wurden als Abschrift zwei Mal wöchentlich an das Berliner Polizeipräsidium weitergereicht. Auf diese Weise waren die Behörden nicht nur über jeden Krankheitsfall informiert. Die an der Charité in Gang gesetzte Maschinerie sollte es vielmehr erlauben, die Quellen und Wege der Ansteckungen präzise nachzuverfolgen. Wurden Personen aus höheren Ständen namhaft gemacht, so ließ die Exekutive die Sache auf sich beruhen. Gerechtfertigt wurde die ungleiche Behandlung mit dem Argument, dass man sichergehen könne, dass die Angehörigen der „achtbaren Stände“ eigenverantwortlich für ihre Behandlung sorgten.Footnote 14 Alle anderen Personen wurden von der Polizei einzeln ausgekundschaftet, eingezogen, untersucht und beim geringsten Verdacht auf Syphilis stationär aufgenommen. Gleich einem Schneeballsystem hatten auch sie wiederum die ihren Verbindungen preiszugeben und so den Informationsfluss weiter in Gang zu halten (von Siedmogrodzki 1829, S. 293–295). Auf diese Weise wurde von der Charité ausgehend und in enger Zusammenarbeit mit der Polizei eine Form der Überwachung etabliert, die über den einzelnen Körper hinausreichte und auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf die unteren Schichten des Volkes im Speziellen zielte.

Das von Kluge initiierte System der Nachverfolgung von Infektionsketten reichte über die Grenzen Berlins hinaus (Behrend 1844, S. 234 f.). Ermittelt wurde nicht nur gegen die benannten Personen, sondern auch gegen Orte des Verdachts: Die Schlafstellen der denunzierten Frauen wurden überprüft und die von ihnen frequentierten Etablissements entweder geschlossen oder unter strenge Aufsicht gestellt. Die erfragten Angaben zu den Therapien vor den jeweiligen stationären Aufnahmen dienten dazu, unbefugte Heilkundige auszukundschaften und sie aus dem Kreis der Versorgungsstrukturen systematisch zu verdrängen.

In medizinischer Hinsicht hatte dieses ausgeklügelte System den Effekt, dass Syphilisinfizierte weit häufiger und in einem früheren Stadium des Krankheitsverlaufs zur Behandlung kamen. Die stetig steigende Zahl der Patienten benötigte Kluge für seinen im Wintersemester 1825/26 initiierten klinischen Unterricht an der Charité. Das zunehmend engere Netz stellte überdies eine Kontrolle der für die sanitätspolizeilichen Untersuchungen verantwortlichen Bezirks-Chirurgen dar. Überwiesen sie Infizierte in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, so drohten ihnen finanzielle Einbußen. Über das unmittelbare Geschehen an seiner Abteilung hinaus initiierte der Leiter der Syphilisabteilung und spätere Direktor der Charité eine Ausdehnung der bislang allwöchentlichen sanitätspolizeilichen Kontrollen der eingeschriebenen Frauen auf eine zweimalige Untersuchung. Sein Zugriff reichte zudem bis hinein in die Gefängnisse. Er veranlasste, dass sämtliche wegen Schlägerei, Verdacht des Umhertreibens oder der Winkelhurerei inhaftierte Personen von Polizei-Chirurgen untersucht und bereits beim geringsten Verdacht auf Syphilis in die Charité transferiert wurden (von Siedmogrodzki 1829, S. 293 f.). Kluges akribische Befragung und Dokumentation verfestigte seinen Erfolg der effizienten Nachverfolgung und Früherkennung. Würde sein in Eigenregie an der Charité und in persönlicher Kooperation mit den kommunalen Behörden aufgebautes System in allen Städten sowohl der preußischen Monarchie als auch in allen anderen Ländern nachgeahmt werden, so war man sich des über die unmittelbare medizinische Versorgung hinausragenden Zugriffs sicher, so ließe sich das „venerische Übel“ auf ein Minimum beschränken.Footnote 15

Das von Kluge ersonnene auf Denunziation und Aufspüren potenziell Infizierter aufgebaute System wurde 1835 für ganz Preußen gesetzlich verankert: Ärzte insbesondere der Syphilis-Abteilungen wurden verpflichtet, die Quelle der Ansteckung zu ermitteln und die Angaben an die Polizei weiterzureichen.Footnote 16 Die sanitätspolizeilichen Bestimmungen richteten sich explizit auf „liederliche und unvermögende Personen, deren Leichtsinn befürchten lasse, dass sie die Infektion weitertragen und von denen zu erwarten sei, dass sie keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen“.Footnote 17 Letztlich lag es im Ermessen des Arztes, ob von der betroffenen Person eine polizeiliche Anzeige gemacht wurde. Die Praxis der Ermittlung erfolgte jedoch nicht nur schicht-, sondern auch geschlechtsspezifisch und richtete sich insbesondere gegen die „Winkelprostitution“. Im Gegensatz zu den im Geheimen agierenden Frauen wären, so der Schüler von Kluge und spätere Oberarzt bei der Berliner Sittenpolizei Friedrich Jacob Behrend (1803–1889), deren Freier „natürlich nicht der Polizei zu nennen“. So seien die Männer nicht nur einsichtiger ob der Notwendigkeit einer Behandlung, so die Schilderung seiner Ermittlungsarbeit, sondern wären auch dem Arzt gegenüber aufrichtiger und geben, da sie für ihre Ansteckung Rache wünschten, bereitwillig Auskunft über die Frauen, die sie infiziert hätten (Behrend 1844, S. 219).

Das Moment der Denunziation an die Behörden galt es jedoch zu bereinigen. Aufgabe der Ärzte wäre es lediglich die Quelle der Infektion zu ermitteln, jegliches weitere Vorgehen sei dann Angelegenheit der Exekutive. Fest stand für Behrend, der es in seiner langjährigen Praxis niemals unterlassen hätte nach der Quelle der Ansteckung zu fragen, dass es „nur unter dem Beistande der Aerzte der Polizei gelingen kann, der so verderblichen geheimen Lohnhurerei ein Ziel zu setzen oder sie wenigstens zu beschränken“ (ebd.). Die vielfach bekräftigte Annahme einer ubiquitären, sich dem Auge des Gesetzes entziehenden und äußerst gefahrvollen geheimen Prostitution legitimierte die Weitergabe der im medizinischen Kontext gewonnenen persönlichen Daten an die Polizei.

4 Wie der Verdacht zur Prävention gerät: Zur Emergenz einer Gesundheitspolitik

Die angestrebte, möglichst lückenlose Erfassung der „Winkelhuren“ in Berlin und der mit Syphilis infizierten Personen war jedoch weder von den strafverfolgenden Behörden noch über das investigative „Schneeballsystem“ der Charité hinreichend zu gewährleisten. Etwa zur Jahrhundertmitte erfuhren die Techniken des Vorstoßens in die als unkontrollierbar wahrgenommenen Bereiche eine grundlegende Neuausrichtung. Die limitierte medizinalpolizeiliche Ermittlungsarbeit, ein trotz aller Anstrengungen nur bedingt in Erfahrung zu bringendes Ausmaß der ‚tatsächlichen‘ Verbreitung der Ansteckungen, beförderte alternative Methoden des Erschließens und Zugreifens auf das als undurchdringbar immanierte Dickicht städtischen Treibens. Eben der Blick auf die in quantitativer Hinsicht kaum auslotbaren Gefahren war es der, initiiert von der Berliner Medizinalreformbewegung, strukturelle Veränderungen wesentlich mit hervorbrachte: Zum einen wurden Prostitution und Syphilis zunehmend als eigenständige Themen verhandelt. Zum anderen und eng mit dieser Differenzierung verbunden, kam es zu einer bemerkenswerten Verschiebung, nämlich weg von Repression und Verfolgung der betroffenen Frauen hin zu einer präventiv ausgerichteten Gesundheitspolitik, die alle Schichten der Gesellschaft in ihre Verantwortung miteinbezog.

Wesentliche Impulse zu einem reformierten Umgang mit den unabwägbaren Bedrohungen setzte Salomon Neumann (1819–1908), Gründungsmitglied und leitender Arzt des 1849 ins Leben gerufenen „Gesundheitspflegevereins der Berliner Arbeiterverbrüderung“ (Regneri 2011; Gostomzyk 2019). Neumann, Armenarzt und Medizinalstatistiker der frühen Stunde, prangerte die Verarmung breiter Teile der Gesellschaft als ursächlich für die Entstehung von Krankheiten an. Als einer der zentralen Protagonisten der Medizinalreformbewegung der 1840er-Jahre wandte er sich mit großem Nachdruck gegen das liberale Modell gesundheitlicher Eigenverantwortung und propagierte die öffentliche Gesundheitspflege als eine genuin staatliche Aufgabe (Neumann 1847; Leanza 2017, S. 137–157). Kern seiner die grassierenden sozialen Probleme beim Namen nennenden Forderungen war es, dass Arbeiter und Handwerker statt der entwürdigenden Armenfürsorge Anspruch auf medizinische Versorgung haben sollten. Aus Unbildung und Armut resultierende gesundheitliche Gefahren, so die Maxime der jungen „Sozialen Medizin“, wären zu bekämpfen. Mit seiner Studie „Die Syphilisfrage“ positionierte er die mit einer hohen Sterblichkeit verbundenen Ansteckung zu deren vorrangigen Thema (Neumann 1852).

Diese Verschiebung hin zu gesundheitspolitisch motivierten Interventionen implizierte erstens eine Abkehr vom alleinigen Fokus auf die Prostituierten als Ursache allen Übels hin zur Erfassung und Behandlung aller mit Syphilis infizierten Personen. Die aus der Arbeiterschicht stammenden Mitglieder des Vereins wurden kostenfrei behandelt, ein Umstand, der dieser Einrichtung einen großen Zulauf bescherte.Footnote 18 Neumann bezog somit zweitens die Männer sowohl in die Behandlung als auch Verantwortlichkeit mit ein. Zwar erachtete er wie viele seiner Zeitgenossen die Prostitution als die primäre Quelle der Syphilis, deren „Keimstätte und Fortpflanzungsherd“. Den „socialen Erreger“ der grassierenden Infektionen jedoch sah Neumann in der weitverbreiteten und armutsbedingten Ehelosigkeit der jungen Männer beziehungsweise in den schwierigen Erwerbsverhältnissen der Frauen, die sie in die Prostitution trieben (Neumann 1852, S. 36). Sein Anprangern der gesellschaftlichen Missstände implizierte drittens eine Verschiebung weg von einer individuellen Schuld hin zu einer staatlichen Verantwortung. Insbesondere wurde er nicht müde zu betonen, dass viertens die Syphilis keineswegs ein ausschließliches Problem des Proletariats sei, sondern in allen Schichten der Gesellschaft grassiere.

Ein zentrales Anliegen von Neumann war es, die Verbreitung der Syphilis statistisch zu erfassen. Die Zahl der an der Charité behandelten Personen erlaubten keinen zuverlässigen Rückschluss auf die der Erkrankten in der Gesamtbevölkerung. Ein kurz zuvor gestarteter Versuch, die Zahl der Infizierten in Berlin über die behandelnden Ärzte zu ermitteln, galt als kläglich gescheitert. Neumanns Datengrundlage basierte auf der Zahl der im Verein behandelten Männer. Von dieser zog er Rückschlüsse auf die gesamte männliche Zivilbevölkerung und veranschlagte insgesamt 10.400 mit Syphilis infizierte Berliner. Zu diesen rechnete er weitere acht Prozent an Fällen hinzu, die sich einer Therapie entzogen (ebd., S. 28). Worauf Neumann seine Berechnung stützte, begründete er erst gar nicht weiter. Eine auf Erfahrung und Praxis basierende Sprechermacht ließen damals – und auch gegenwärtig – Hochrechnungen und Experten-Schätzungen zum Ausmaß nicht erfasster Fälle zu glaubhaften Resultaten geraten.

Doch nicht der Grad der Gewissheit oder Ungewissheit der ermittelten Zahlen ist von Relevanz, als vielmehr die Wirkmächtigkeit der Rede beteiligter zeitgenössischer Experten über die kaum abschätzbaren Bedrohungen selbst. Neumanns explizites Anliegen war es die diesbezügliche „vielfach ins Unendliche strebende Vorstellung“ zu begrenzen und der Forschung Anhaltspunkte zu geben (ebd., S. 29). Die kursierenden Expertenmeinungen zur Anzahl der mit Syphilis infizierten Frauen, beziehungsweise von Neumann mit ihnen weitgehend gleichsetzt, der Prostituierten, kritisierte er als maßlos übertrieben (ebd., S. 33 f.). Statt der bisherigen Abschätzungen brauche es, so der Medizinalstatistiker, eine systematische Erfassung der Daten. Operationalisiert wurde dies über Fragebögen, gerichtet an alle im Verein behandelten Personen. In 29 Punkten werden Neumanns Forschungsinteressen und gesundheitspolitische Ambitionen deutlich erkennbar: persönliche Fragen zur Quelle der Ansteckung reihten sich an eine Vielzahl detaillierter medizinischer Angaben zu den Erkrankungen.Footnote 19

Statt repressiver Verfolgung setzte man im Berliner Gesundheitspflegeverein auf niederschwellige Behandlungsangebote und deren freiwillige Inanspruchnahme. Der daraus resultierende höhere Zulauf von Patienten erlaubte es wiederum ungleich mehr Ansteckungsherde ausfindig zu machen. Die investigativen Techniken des Ausforschens und Aufspürens der Ansteckungen mit der Syphilis wurden auch seitens der jungen „Sozialen Medizin“ beibehalten. Die statistische Erfassung der Infizierten die, so Salomon Neumann, „trotz aller Anstrengungen weit hinter der Wirklichkeit zurückblieben“ (ebd., S. 31) ließen ihn eine von der öffentlichen Hand geleitete „antisyphilitische Heilpflege“ fordern. Seinen Reformen sollten in ihrer tatsächlichen Umsetzung enge Grenzen gesetzt sein. Die statistischen Ergebnisse wusste Neumann jedoch zu paaren mit dem warnenden Hinweis nur einen Bruchteil der ‚tatsächlich‘ vorhandenen Fälle erfasst zu haben. Das unbekannte Ausmaß sowohl der heimlichen Prostitution als auch der Syphilis, die als defizitär ausgestellte Datenlage, untermauerten seine Appelle für eine grundlegende Neuausrichtung in der Herangehensweise an die drängenden sozialen Probleme. Die dunklen Winkel der Stadt trotzten der auch noch so strengen polizeilichen Überwachung. Sie jedoch boten Raum für die ersten zaghaften Ansätze einer präventiv orientierten Gesundheitspolitik.

5 Leerstellen und ihre Wirklichkeiten

Das unkontrollierbare Treiben in der wachsenden Metropole und die ungebrochen mit dem „Gewerbe der Unzucht“ assoziierten syphilitischen Ansteckungen erhielten im Lauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine breite publizistische Aufmerksamkeit. Die sich der Kontrolle der Polizei entziehende klandestine Prostitution spanne sich in Berlin, so eine warnende Pressestimme, wie ein „Netz der Demoralisation über die ganze Stadt“ (zit. in Loewe 1852, S. 43). Die aus sittlichen, sicherheits- und sanitätspolizeilichen Gründen vieldiskutierte und als omnipräsent wahrgenommene „Winkelhurerei“ geriet zum Spielball der heftigen Kontroversen zur Rechtmäßigkeit der Prostitution. Dem traditionellen System der Reglementierung diametral gegenüber stand die unter anderen seitens der Sittlichkeitsbewegung bereits seit den 1830er-Jahren erhobenen Forderung zur gänzlichen Abschaffung der staatlichen Duldung der Prostitution. Die Uneinigkeit in der Frage des Umgangs mit der „käuflichen Lust“ führte zu einem kontinuierlichen Zurückdrängen der Bordelle und zu wiederholten Änderungen beziehungsweise Verschärfungen der gesetzlichen Vorgaben. Zur Jahrhundertmitte kam es jedoch zu einem raschen Wechsel in der grundsätzlichen Strategie: Anfang des Jahres 1846 wurden sämtliche Berliner Bordelle geschlossen, 1851 wieder eröffnet und 1856 wurde die Duldung der Bordelle in Berlin definitiv aufgehoben.Footnote 20 Die wiederholten Kehrtwendungen in der kommunalen Verwaltung riefen eine Flut an Petitionen, Denkschriften und widerstreitenden Gutachten hervor. Die teilweise sehr heterogenen Reformvorschläge wiesen eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit auf: Sie alle beanspruchten die Deutungshoheit im Umgang mit der geheimen Prostitution und der Ansteckungen mit der Syphilis. Mit ihnen entfaltete der Diskurs um das ‚wahre‘ Ausmaß der Bedrohungen ein wirkmächtiges Eigenleben im Schatten der Statistik.

Allen voran befeuerten Vertreter aus der Praxis der sanitätspolizeilichen Überwachung die Sichtweise einer kaum in den Griff zu bekommenden „Winkelhurerei“. Sie propagierten die Konzessionierung der Bordelle als das einzige probate Mittel um die sittliche Ordnung zu wahren und die grassierende Syphilis hintanzuhalten.Footnote 21 Als abschreckendes Beispiel einer völlig unregulierten Prostitution galt London. Hier waren Bordelle verboten und man vermutete statt ihrer „90.000 weibliche Individuen, die die Hurerei als ihr Gewerbe betreiben, und zwar mit solcher Bestialität, Scheusslichkeit und verbrecherischer Lasterhaftigkeit, wie es sonst nirgends der Fall ist“.Footnote 22 Die Instanz des Sprechens über das kaum durchdringbare Dunkel der Stadt baute auf divergierenden Zahlenangaben. Wenn auch Einzelne darauf aufmerksam machten, dass die unbeaufsichtigte Prostitution die Infektionen „auf eine gar nicht zu berechnende Weise vervielfältige“ (Simon 1846, S. 288), so wussten die meisten derjenigen, die für eine sanitätspolizeilich überwachte und rigide kontrollierte Ausübung der Prostitution eintraten, ihre Position mit sehr konkreten „dunklen Zahlen“ zu untermauern.Footnote 23

Anlässlich der geplanten Aufhebung der Bordelle wurde in einem seitens der Polizei erstellten Gutachten veranschlagt, dass an die Stelle der 300 inskribierten Frauen zukünftig 4000 Winkelhuren treten werden (zit. in Behrend 1850, S. 176). Friedrich Jacob Behrend bemängelte die bisherigen seitens der Mediziner erhobenen Daten und orientierte sich in seiner vom Kultusministerium beauftragten Denkschrift zur Frage der Kontrolle der Prostitution und den Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Syphilis an den der Polizei vorliegenden Zahlen. Hier war im Zuge der 1840 erfolgten Verlegung der Bordelle an den Berliner Stadtrand ein deutlicher Anstieg verzeichnet worden, sowohl der wegen „Winkelhurerei“ aufgegriffenen Frauen als auch derjenigen, die ihrer verdächtigt und entsprechend observiert worden waren. Analog dazu beobachtete man nach der 1846 erfolgten Aufhebung der Bordelle ebenfalls einen sprunghaften Anstieg der Sistierungen beziehungsweise der suspekten Fälle. Kraft seines Amtes meinte Behrend der Öffentlichkeit versichern zu können, dass die der Polizei vorliegenden Daten jedoch nur den fünften oder sechsten Teil derjenigen Frauen ausmachten, die, meist unter dem Deckmantel eines anderen Berufes, in Wahrheit der gewerblichen Unzucht nachgingen (ebd., S. 177 f.). Die bedrückende Lebensrealität in der Berliner Metropole drängte viele Frauen in die Straßen- und Gelegenheitsprostitution (Röhrmann 1846; Hecht 1927, S. 79–87). Insbesondere Dienstmädchen, Kellnerinnen, Näherinnen und Stickerinnen standen unter Verdacht, sei es zu ihrer Subsistenz oder als Nebenerwerb, sich auf diese Weise ihre Existenz zu sichern (Behrend 1844, S. 219–231). Ohne Bedenken ist für Berlin, so Behrend in seiner Bezifferung des Unmessbaren, von insgesamt 8000 im Geheimen agierenden Frauen auszugehen, eine Zahl, die überdies stetig steigend sei. Er verortete seine numerischen Angaben in einem Mittelmaß zu anderen Kalkulationen, die von 5000 beziehungsweise sogar 10–12.000 heimliche Prostituierten in Berlin ausgingen.Footnote 24 Wie weit die Expertenschätzungen auch auseinanderklafften, so untrüglich schien ihre maßgebliche Schuld an der Verbreitung der Syphilis. Folglich gelte es, so der nur wenig später zum Oberarzt der neu begründeten Berliner Sittenpolizei nominierte Mediziner, „die geheime Prostitution nicht in die Schlupfwinkel hineinzutreiben, sondern sie vielmehr aus den Schlupfwinkeln hervorzuziehen“ (Behrend 1850, S. 143, H. i. O.).

Die Existenz des in seiner Ausdehnung unbekannten und zugleich als immens hoch angenommenen heimlichen Treibens war das zentrale Argument für die Beibehaltung der Bordelle und der strengen Überwachung des öffentlichen Raums. Vertreter der Praxis des Aufspürens, Verfolgens und Behandelns der gefürchteten Ansteckungen galt die rigide Kontrolle der im Geheimen agierenden Prostituierten als das Mittel der Wahl im Umgang mit der drückenden Problematik. Ihr Versprechen auf Sicherheit und ein Propagieren unbestimmter Gefahren stützten sich hier wechselseitig. Das aktive Verdunkeln der Lage, die schier unendlich große Zahl der klandestinen Prostituierten, ließ sie ein scharfes Eingreifen der Behörden als unumgänglich implementieren. In Stellung gebracht und medial verfestigt wurde die „jedem Praktiker bekannte und simple Gesetzmäßigkeit, dass die Zahl der Bordelle in einem umgekehrten Verhältnis zu der Straßen- und Winkelhurerei steht“ (Behrend 1850, S. 119 f.; Hügel 1865, S. 179). Diese Umkehrrechnung ließ die Befürworter einer strikten Verfolgungspolitik gegen die „praxis- und realitätsfernen Sittenwächter“ polemisieren, die sich „bloß aus der Studierstube heraus an die Steuern des sozialen Räderwerks stellten“ (ebd., S. 143 bzw. S. 79).

Gegner der staatlichen Duldung der Prostitution kritisierten mit großer Vehemenz das System der Reglementierung und forderten stattdessen die Schließung sämtlicher Bordelle. Ihre Vertreter wussten ebenfalls die drückenden kommunalen Probleme ins Feld zu führen. Allerdings galt ihnen „die überall bestätigte Tatsache, dass eine unverhältnismäßig größere Zahl von venerischen Dirnen außerhalb der Bordelle gefunden wird“ als das schlagende Argument zur endgültigen Schließung der anrüchigen Einrichtungen. Sie prangerten deren Nutzlosigkeit sowohl im Kampf gegen die „Winkelhurerei“ als auch der Ansteckungen mit der Syphilis an. Die Annahme, dass die „Ausrottung dieser Übel niemals ganz gelingen werde“ verlange umso eher die rigorose Anwendung aller gesetzlich gebotenen Mittel zur „Verfolgung des Lasters“ (von Rönne und Simon 1840, S. 161; vgl. auch Dennstedt und von Wolffsburg 1856, S. 52). Beteiligung oder gar Profit aus der „gewerblichen Unzucht“ zu ziehen, geißelten sie als unwürdig und unzulässig für einen modernen Staat. Auch wäre es der Medizinalpolizei nicht zuzumuten als „Pate der Unsittlichkeit“ zu fungieren.Footnote 25 Die dringliche Warnung, dass die sanitätspolizeilichen Untersuchungen der registrierten Frauen im Kampf gegen die Verbreitung der Infektionen insbesondere in ihrem frühen Stadium ohnehin ungenügend seien, wurde untermalt mit der Stilisierung der Bordelle als Höhlen der Verbrecher (Posner 1851, S. 9 f.). Eine prominente Stimme der Opponenten der lasterhaften Einrichtungen war der 1854 zum Leiter der Berliner Kriminalpolizei berufene Wilhelm Stieber. Seine äußerst restriktive Politik der Verfolgung jeglichen Verdachts wusste er mit dem ihm unzweifelhaften Umstand zu rechtfertigen, dass „ohnehin von acht Winkeldirnen nur eine verhaftet werde“.Footnote 26

In der Frage der rechtlichen Ausgestaltung der käuflichen Lust sollten die zwei Lager bis hinein in das frühe 20. Jahrhundert einander ungebrochen gegenüberstehen. In der polizeilichen Praxis herrschte ein für die betroffenen Frauen drückender rechtlicher Graubereich. Die mit dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 geschaffene inoffizielle Duldung der Bordelle ließen die registrierten Frauen in ein der rechtsstaatlichen Kontrolle entzogenes und der polizeilichen Willkür schutzlos ausgesetztes System zurück. Heimlichen Prostituierten drohten Haftstrafen und eine anschließende Einweisung ins Arbeitshaus.Footnote 27 Die ungebrochen anhaltenden Warnungsrufe keinerlei statistische Gewissheit zu haben, spiegelten die bürgerliche Sorge vor den vornehmlich den unteren Schichten der Bevölkerung zugeschriebenen Gefahren für die allgemeine Sittlichkeit und Gesundheit. Die Mediziner wurden 1846 verpflichtet, die Zahl der von ihnen behandelten syphilitisch Infizierten vierteljährlich der Sanitätspolizei zu melden. Deren Statistiken, so die Kritik, vermochten wegen der langen Dauer der Erkrankung, der zahlreichen Arztwechsel wie der zunehmend mobileren Bevölkerung das ‚reale‘ Ausmaß des Infektionsgeschehens jedoch keineswegs hinreichend abzubilden (Behrend 1847, S. 52 f.). Die 1850 eingerichtete Sittenpolizei suchte verstärkt die Welt des klandestinen Treibens auszuleuchten und führte zu diesem Zweck zwei Arten von Listen. Die erste dieser verzeichnete die bereits überführten heimlichen Prostituierten. In der zweiten Liste fand der Verdacht einen folgenreichen Niederschlag in den Akten: „Frauenspersonen, die […] von den Lieutenants der einzelnen Polizei-Bezirke als suspekt angegeben sind“ wurden hier namentlich verzeichnet und von der Sittenpolizei observiert.Footnote 28

Ab 1871, so die Vorgabe des Berliner Polizeipräsidiums, wurden von allen Prostituierten und unter Prostitutionsverdacht stehenden Frauen persönliche Zählkarten erstellt. Mit dem neuen Aufschreibesystem ließen sich quantitative und qualitative Daten auf einem Blatt vereinen, auf einfache Weise korrelieren und statistisch auswerten. In 25 Punkten wurden persönliche und medizinalpolizeiliche Daten erfasst, die äußeren Merkmale der Frauen festgehalten und erhoben, ob sie bereits in Konflikt mit der Polizei oder dem Strafgesetzbuch geraten waren. Hermann Schwabe, Direktor des Statistischen Bureaus und Mitglied des Vereins für Socialpolitik, versprach in seiner anhand dieser Daten erarbeiteten Studie Einblicke in das „Wesen“ der Prostituierten (Schwabe 1874). Empirisch-statistische Informationen, untermalt von Tabellen und anschaulichen Darstellungen sollten Zugang bieten zu den Eigenschaften, Familien-, wirtschaftlichen und Wohnverhältnissen, und dem Lebenswandel der käuflichen Frauen. Schwabe betonte die sozialen Ursachen, die sie in die Prostitution hineintrieben und forderte wirksame Abhilfe. Statt rigider Kontrolle und Strafen sollte den Frauen wirtschaftliche Hilfe gewährt werden, um den unheilvollen Zirkel von Unmoralität und Laster den Rücken kehren zu können. Die sogenannte „systematische Statistik“, der Einsatz der Zählkarten, operationalisierte die weitreichenden Daten von sämtlichen mit der Sittenpolizei in Berührung gekommenen Frauen. Mit ihr suggeriert wurde die Machbarkeit einer – wenn auch erst zukünftig vollständigen – Kartographie der dunkelsten Winkel der Stadt.

6 Ausblick und Resümee: Persistierende Wissensdefizite und ein gesundheitspolitischer Strategiewechsel

An der Wende zum 20. Jahrhundert initiierte das preußische „Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“ eine landesweite Enquête zur Ermittlung der Geschlechtskranken. Alle approbierten Mediziner hatten Zählkarten zu den von ihnen behandelten Patienten auszufüllen. Albert Guttstadt, Medizinalreferent am Berliner Statistischen Bureau, hoffte auf valide Zahlen von den „am Marke unseres Volkes zehrenden Krankheiten“. Große Hindernisse in der Erhebung sah er allerdings im Verheimlichen der Leiden und auch dass sich „ein gewiss sehr großer Anteil von Kurpfuschern, Quacksalbern, Hebammen und Studenten der Medizin behandeln lässt, nach eigenen Erfahrungen und alten Rezepten kuriert, oder überhaupt nichts gegen ihr Leiden tut“ (Guttstadt 1901, S. 1).

Die erzielten Daten spielten in Guttstadts Studie keineswegs die zentrale Rolle. Als alarmierend galt ihm vielmehr der Umstand, dass die Enquête lediglich „Minimalzahlen“ ans Licht statistischer Gewissheit befördert hatte. In seiner Argumentation mitgeführt wird ein unbekannter Anteil von Fällen, die in ihrem Vorhandensein jedoch nicht angezweifelt werden.Footnote 29 Für diesen Umstand wurde die alleinige medizinische Deutungshoheit angestrebt. Die ermittelten Daten und die weit darüber hinausreichenden Vermutungen zu einem ‚realen‘ Ausmaß der syphilitischen Durchseuchung stützten einander wechselseitig. Sie beide untermalten gleichermaßen den warnenden Ruf vor den das Individuum, seine Nachkommen und die Allgemeinheit bedrohenden venerischen Infektionen. An sein Ergebnis nur einen Teil der ‚Wirklichkeit‘ abgebildet zu haben, knüpfte Guttstadt einen langen Katalog an Forderungen, wie ein verbesserter klinischer Unterricht für die Studierenden der Medizin, Fortbildungen für praktische Ärzte, Polizeiärzte und Hebammen, die Aufklärung der Bevölkerung und die strengere Überwachung der Prostitution. Als zentral erachtete er die Übernahme der Behandlungskosten durch die Versicherungen. Denn finanzielle Gründe sollten nicht länger hinderlich sein, um eine Therapie bei einem approbierten Arzt aufzunehmen.Footnote 30

Der führende preußische Medizinalstatistiker veröffentlichte seine Studie am Vorabend der 1902 gegründeten „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“. Diese zielte, wie von Lutz Sauerteig umfassend dargelegt, auf eine Abkehr von der zur Jahrhundertwende zunehmend auf breiter Ebene als unwirksam gebrandmarkten sittenpolizeilichen Kontrolle der Prostitution hin zu einer medizinischen Betreuung der gesamten Bevölkerung im Namen einer naturwissenschaftlich-rational begründeten wohlfahrtsstaatlichen Gesundheitspolitik.Footnote 31 Die Frage der Überwachung der Prostitution zählte zu den dringlichsten und zugleich am heftigsten umstrittenen Themen der neu gegründeten Gesellschaft. Konsens bestand lediglich darin, dass eine durchgreifende Kontrolle der heimlichen Prostitution nahezu unmöglich sei. Der gesundheitspolitische Wechsel des Zugriffs auf das wie undurchdringbare Dickicht städtischer Verhältnisse nahm in Berlin seine ersten Anfänge: Ab 1907 überwies die Sittenpolizei Prostituierte zur unentgeltlichen Untersuchung und Behandlung. Auf diese Weise sollten die vielen heimlichen Prostituierten eine medizinische Betreuung erhalten, die keine sittenpolizeiliche Kontrolle nach sich zog und den Weg zurück in eine „bürgerliche“ Existenz offenhielt. Die Berliner Sonderregelung wurde noch im selben Jahr auf ganz Preußen ausgedehnt und markiert den Beginn einer umfangreichen Verlagerung von ehemals polizeilichen hin zu medizinischen Agenden. Das „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ (GBG), wurde nach langem Ringen zwischen den zahlreichen Interessensverbänden und vielfältigen Abänderungen 1927 im Reichstag verabschiedet. An die Stelle des seit dem frühen 19. Jahrhundert dominierenden Systems der Reglementierung trat nun die (Sozial‑)Fürsorge für „Gefallene“ und „Gefährdete“. Die Gesundheitsämter erfassten in speziellen Registern die Prostituierten, um weiterhin das Aufspüren der Infektionsquellen möglich zu machen. Die Zielgruppe wurde zudem beträchtlich erweitert: Das GBG richtete sich auf alle Infizierte ohne Unterschied ihres Geschlechts oder ihrer sozialen Herkunft. Implementiert wurde ein Überwachungssystem, das auf ein breit gefächertes Spektrum von Maßnahmen setzte, die von einer Pflicht zur Behandlung und Aufsicht über deren Aufrechterhaltung bis hin zu einer behördlich durchsetzbaren Zwangstherapie reichten. Die Umsetzung in der Praxis oblag den von den Landesversicherungsanstalten begründeten Beratungsstellen. Sie boten kostenlose Untersuchungen an und wurden zu einem wichtigen Baustein des in der Weimarer Zeit expandierenden Wohlfahrtstaates mit all seinen Ambivalenzen von Fürsorge und Überwachung (Sauerteig 1999).

Die Problematik, dass geschlechtskranke Personen ihr Leiden verheimlichten und sich jeglicher Kontrolle entzogen, offenbarte sich insbesondere in der alltäglichen fürsorgerischen Arbeit. Gemäß der das GBG tragenden Prinzipien setzte man auf Prävention, Aufklärung und die Einsicht in die Notwendigkeit einer Therapie. Die Mühsal, das gesundheitspolitische Programm in die Praxis umzusetzen, spiegelte sich im Ruf nach effizienteren Methoden des Aufspürens und Erfassens. Hoffnung versprach man sich von einem zweifachen Ansatz: Zum einen galt es den Informationsfluss zwischen den beteiligten Instanzen zu verschalten und in Gang zu halten. So sollten die Pflegeämter die Verbindung zwischen der Sittenpolizei und den Frauen herstellen und die Krankenkassen die aus der ärztlichen Behandlung Entlassenen bei der Fürsorge zu melden, um sie regelmäßig für die Nachuntersuchungen einzubestellen. Zum anderen wurden Vertrauen und Diskretion zu den neuen Maximen erhoben. Was ein noch so rigider polizeilicher oder ärztlicher Zugriff nicht zu leisten vermochte, hatte die ungleich weiter in private Verhältnisse vordringende fürsorgerische Arbeit zu entlocken. Die für die Erfassung maßgebliche Fähigkeit sich „Einblick in die häuslichen Verhältnisse und seelische Verfassung“ der Betroffenen zu erlangen, wurden Frauen zugeschrieben. Fürsorgerinnen wären aufgrund „ihres natürlichen Taktgefühls“ und Einfühlungsvermögens weit eher in der Lage, die heikle und für ein Gelingen des gesundheitspolitischen Vorhabens essenzielle Tätigkeit zu leisten. Ihnen oblag die „moralische Prophylaxe“ für die von der Ansteckung bedrohten Personengruppen und das Ermitteln so persönlicher und intimer Belange wie der Frage nach der Quelle der Ansteckung. Die sogenannte „nachgehende Fürsorge“ hatte wiederum die diffizile Aufgabe, das dauerhafte Einhalten der Behandlungen zu überwachen (Hecht 1927, S. 121–138; vgl. auch Haustein 1926b, S. 672–678).

Wie im vorliegenden Beitrag gezeigt werden konnte, emergierte der Tatbestand einer heimlichen Prostitution im ausgehenden 18. Jahrhundert. In der Figur der „Winkelhure“ kulminierten regelrecht die an den Frauen festgemachten urbanen Gefahren. Die im Lauf des 19. und bis hinein in das frühe 20. Jahrhundert ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der in den dunklen Winkel der Stadt sich notorisch verbergenden Prostituierten und die wachsenden Ambitionen zur Eindämmung der Syphilis waren wesentlich angetrieben von den numerisch zwar unbestimmbaren aber als unzweifelhaft vorhanden angesehen Gefahren. Doch nicht der Wahrheitsgehalt der hierzu vorgelegten Zahlenangaben oder ihre differierenden Ergebnisse sind von historischer Relevanz, als vielmehr das Verfestigen eines Topos, die unumstößliche Gewissheit von der Existenz der zahlreichen nicht erfassten Fälle. Das offensive Ausstellen der kaum auslotbaren Bedrohungen war alles andere als ein randständiges Phänomen. Vielmehr war das ‚Wissen vom Nichtwissen‘ im Lauf des 19. Jahrhundert zum inhärenten Bestandteil des informierten Sprechens über die gewerbliche Unzucht und der mit ihnen verbundenen Gefahren avanciert und diente dazu die Nützlichkeit und Dringlichkeit der jeweiligen Reformvorschläge zu untermauern.

Der ostentative Fingerzeig auf einen hohen Anteil nicht registrierter Fälle – also das, was wir heute unter dem Schlagwort der „Dunkelziffer“ verstehen – wurde, wie die wechselnden Strategien sich dem Auge des Gesetzes entziehenden klandestinen Prostitution und der Ermittlung der Infektionsquellen erweisen, auf sehr unterschiedliche Weise eingesetzt. Die Imagination von unkontrollierbaren Bedrohungen und die Effizienz des Zugriffs trieben einander wechselseitig voran und befeuerten die Praktiken des Ermittelns und Auskundschaftens. Das limitierte Wissen vom undurchdringbaren Dickicht der Stadt und das Fehlen genauer Zahlen von der als ubiquitär vermuteten geheimen Prostitution legitimierte deren repressive polizeiliche Verfolgung. Dieselben Leerstellen, die nur rudimentären medizinalstatistischen Daten und der nur schwer herzustellende Zugang zu den syphilitisch Infizierten, spielten auch in der Etablierung der präventiv motivierten gesundheitspolitischen Maßnahmen sowohl in ihren ersten Anfängen zur Mitte des 19. Jahrhunderts als auch ab der Wende zum 20. Jahrhundert eine maßgebliche Rolle. Den jeweiligen Versuchen des Einhegens der urbanen Gefahren gemeinsam war es von einem Informations- und Datendefizit gesteuert zu sein. Die primär repressiven bzw. präventiven Ansätze eines Hintanhaltens der Infektionen sind lediglich in ihrer Stoßrichtung idealtypisch voneinander zu scheiden. Insbesondere das Interventionsrecht des Wohlfahrtsstaates zugunsten der allgemeinen Bevölkerung erwies sich als eine stete Gratwanderung: Im Vordringen hin zu privaten oder gar intimen Angelegenheiten lagen kontrollierende und präventive Maßnahmen wie ununterscheidbar nebeneinander. Die Rede von einer zumeist „hohen Dunkelziffer“ markiert ein Versprechen, geheimnisumwitterte und meist gefahrenbesetzte Vorkommnisse zumindest in groben Zügen erfassen zu können und Lösungsangebote parat zu haben. Die Triebfeder des raschen Kippens in die eine oder andre Richtung der Gefahrenabwehr liegt auch heute noch in einem wirkmächtigen Dunkel.