1 Einleitung

Im Hinblick auf HIV/Aids wurden in Deutschland in den 1980er-Jahren neue Wege der Pandemiebearbeitung beschritten, die eine enge Zusammenarbeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteur:innen vorsahen. Ohne den Verband der Aidshilfen, der sich ab 1983 nach und nach formierte (von Unger und Kostimpas 2022), wäre dies nicht möglich gewesen. Aidshilfen waren neue zivilgesellschaftliche Akteur:innen, die auf lokaler Ebene sowohl Selbsthilfe von Menschen mit HIV/Aids als auch HIV-Prävention und Beratung für gesellschaftlich marginalisierte Gruppen organisierten, anfangs vor allem für homosexuelle Männer. Dass die Zusammenarbeit zwischen institutionalisierter Gesundheitspolitik und den Aidshilfen gelang, war überraschend, da auf beiden Seiten – vor dem Hintergrund der Geschichte staatlicher Verfolgung – strukturell Vorbehalte bestanden. Die zentrale These des Beitrags ist, dass es der Deutschen Aidshilfe (DAH) gelang, das Spannungsfeld mit Hilfe des Konzepts der Strukturellen Prävention erfolgreich zu navigieren. Mit diesem benannte die Organisation eine Strategie, die es ihr erlaubte, ihre oppositionelle und gesellschaftskritische Verortung (als Organisation, die Gesellschaft ‚strukturell‘ verändern will) mit der kooperativen, gesundheitspolitischen Praxis (der ‚Prävention‘) zu vereinbaren. Auch wenn dies keineswegs konfliktfrei war, konnte sie so die Erwartungen und Anforderungen differenzierter sozialer Welten erfüllen, also sowohl für die institutionalisierte Gesundheitspolitik als auch für Betroffene und soziale Bewegungen anschlussfähig sein. Die Präventionsstrategie der DAH vereinte also politisch-emanzipatorische Anliegen mit der Idee der Gesundheitsförderung und Semantiken der Prävention. Darin wurden der Schutz von Minderheitenrechten sowie die Bekämpfung von Diskriminierung und staatlicher Verfolgung zur Grundlage langfristiger Verhaltensänderungen im Sinne von ‚safer sex‘ und ‚safer use‘.Footnote 1

Im folgenden Kapitel werden das Erkenntnisinteresse, das methodische Vorgehen und damit verbundene methodologische Überlegungen dargelegt. Danach wird die Geschichte der Gesundheitsbewegung und ihrer Institutionalisierung, die zur Einordnung des Konzepts der Strukturellen Prävention von großer Bedeutung ist, skizziert. Anschließend erläutern wir die Entstehung und Entwicklung des ‚politischen Sonderfalls‘ HIV/Aids in Deutschland. Auf Basis dieser historischen Kontextualisierung kann das Konzept der Strukturellen Prävention rekonstruiert werden. Dabei werden zentrale Dokumente der DAH, die die Strukturelle Prävention fokussieren, vertiefend analysiert und historisch eingeordnet.

2 Erkenntnisinteresse und methodisches Vorgehen

Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, das Konzept der Strukturellen Prävention historisch zu situieren und seine Bedeutung und Funktionalität für eine Organisation ‚zwischen den Welten‘, also zwischen staatlicher Gesundheitspolitik und den Betroffenengruppen, im Feld der HIV/Aids-Politik zu rekonstruieren. Forschungsleitend wurden dabei folgende Fragen fokussiert: Welche Bedeutung hatte das Konzept der Strukturellen Prävention aus Sicht der beteiligten Akteur:innen zu unterschiedlichen Zeitpunkten? Welche Funktion erfüllte das Konzept für die zivilgesellschaftliche Organisation DAH?

Um diese Fragen zu beantworten wurden aus dem Datenkorpus des ZOMiDi-ProjektsFootnote 2 Dokumente des Verbandes der Deutschen Aidshilfe e. V. (DAH) im Zeitraum von 1983 bis 2015 gesichtet. Dazu gehörten Jahresberichte, Ausgaben der Verbandszeitschrift aktuell und die DAH Publikationsreihe AIDS-FORUM DAH, sowie zentrale organisationsbezogene Dokumente, etwa Satzung, Leitbilder, Beschlüsse, und Artikel des Online-Magazins hiv.magazin. Aus diesen wurden zentrale Dokumente für die Entwicklung und verbandsinterne Reflexion des Konzeptes der Strukturellen Prävention identifiziert, dem Vorgehen der Grounded Theory entsprechend offen kodiert und in Auszügen feinanalytisch interpretiert. Die Feinanalyse umfasste z. B. ein frühes Memorandum (DAH 1987), die vom DAH-Vorstand 1990/91 veröffentlichte erste Fassung des Konzepts der Strukturellen Prävention in der Zeitschrift aktuell sowie die im Jahresbericht veröffentlichte Beschlussfassung zur Strukturellen Prävention von 1995. Dazu kamen Auszüge aus zwei Publikationen der Reihe AIDS-FORUM DAH: die Sammelbände Strukturelle Prävention (1998b) und Strukturelle Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext von HIV (Drewes und Sweers 2010b).

Diese Dokumente wurden nicht nur als Träger von Inhalt untersucht. „Documents do much more than serve as informants and can, more properly, be considered as actors in their own right“ (Prior 2008, S. 823) Neben den Bedeutungen sind demnach auch die Verwendungen und Funktionen, die Dokumente in organisationalen Kontexten entfalten (ebd., S. 822), zu betrachten. Weil Dokumente „situated products“ (Prior 2007, S. 345) sind, ist es für deren Analyse zudem wichtig, auch ihre Produktionsbedingungen und ihre Auswirkungen zu berücksichtigen. Für die vorliegende Untersuchung wurden vor allem Texte herangezogen, die die Deutsche Aidshilfe zu verschiedenen Zeitpunkten der (west)deutschen Geschichte von HIV/Aids herausgab und für unterschiedliche Zielgruppen produzierte. Sie richteten sich sowohl verbandsintern an die eigenen Mitgliedsorganisationen (das sind lokale und regionale Aidshilfen) sowie an interessierte Öffentlichkeiten, ehrenamtliche und hauptamtliche Fachkräfte im Feld der HIV-Prävention, Beratung und Versorgung als auch an Menschen, die mit HIV/Aids leben.

Das methodische Vorgehen orientierte sich grundsätzlich am Forschungsprogramm der Grounded Theory Methodologie (GTM) (Charmaz 2014) und ihrer Weiterentwicklung, der Situationsanalyse nach Adele Clarke (2005) und Adele Clarke und Kolleginnen. (2018). Das bedeutet, dass Auswertungs- und Theoretisierungsprozesse mit der sukzessiven Auswahl der Dokumente für die Feinanalyse verknüpft waren und dabei Kodier- und Memo-Verfahren zur Anwendung kamen. So wurden Memos zu den zentralen Dokumenten als Fallmemos verfasst und daraus wiederum vergleichende Memos zu zentralen Spannungsverhältnissen (politisch-fachlich; Verhältnis zwischen Staat und marginalisierten Gruppen) entwickelt. Ein Teil des Datenmaterials wurde zudem in regelmäßig stattfindenden Interpretationswerkstätten kollektiv ausgewertet.

Die Situationsanalyse eignet sich besonders als methodologischer Rahmen, weil sie über die Handlungsebene hinausgeht und diskursive und organisationale Elemente der „Situation“ in die Analyse integriert (Clarke et al. 2018). Vor allem das darin zur Anwendung kommende theoretische Konzept der Sozialen Welt in Anschluss an Anselm Strauss (1978) wird hierbei fruchtbar gemacht. „Social worlds are groups of varying sizes that generate a life of their own […]. They generate shared perspectives that form the basis for both individual and collective identities and for commitment to collective action […]. Social worlds are also universes of discourse.“ (Clarke et al. 2018, S. 71, Hervorh. i. O.) Soziale Welten bezeichnen also kollektive Akteure oder Gruppen, auch Organisationen (ebd.), die eine gewisse Eigenlogik – also etwa gemeinsame Perspektiven und Commitment-Strukturen – entwickeln. Das „Social World Framework“ stellt hierbei ein „Theory/Method Package“ (Clarke und Star 2008) dar, das sowohl die Methodenwahl als auch die theoretische Analyse-Perspektive strukturiert – ganz im Sinne eines „methodische[n] Holismus“ (Diaz-Bone 2012, Abs. 10).

3 Gesundheit in Gesellschaft: Sozialmedizin und Gesundheitsbewegung

Die Thematisierung des Zusammenhangs von sozialen Bedingungen und Gesundheit, der für die Gesundheitspolitik der DAH eine zentrale Rolle spielt, hat eine lange Vorgeschichte. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Fragen zum Zusammenhang von sozialen Bedingungen und Krankheit untersucht (Gerlinger 2019, S. 3 f.). Dies geschah nicht zuletzt unter dem Eindruck der Verelendung der wachsenden Arbeiter:innenklasse im Zuge der Industrialisierung, wie etwa die frühen Studien von Friedrich Engels (1952 [1845]) oder Rudolf Virchow (1848) eindrücklich zeigen. Dabei ging es z. B. den Sozialreformern um Virchow darum, „die Selbstverschuldung armer Bevölkerungsgruppen an deren hohen Mortalitätsraten“ (Ferdinand 2010, S. 116) zu widerlegen. Insbesondere der Präventionsgedanke übernahm dabei „eine wichtige Funktion für die Gesellschafts- und Zivilisationskritik des Fin de siècle und des frühen 20. Jahrhunderts“ (Lengwiler und Madarász 2010, S. 19, Hervorh. i. O.). Mit dem Präventionsgedanken wurde auch die Polarisierung zwischen Hygiene und Bakteriologie zugunsten umweltbezogener Krankheitsmodelle aufgegeben (ebd.). Sozialmedizinische Ansätze gewannen im Fahrtwind der Arbeiter:innenbewegung an Bedeutung und konnten insbesondere in der Weimarer Republik zunehmend in die Praxis umgesetzt werden (Gostomzyk 2018). In Folge des Ersten Weltkriegs nahm allerdings auch die Bedeutung eugenischer bzw. rassenhygienischer Zugänge zur Gesundheitspolitik, die durch alle politischen Lager hinweg Einfluss entfalteten, enorm zu (Jütte et al. 2011, S. 27 ff.). Die nationalsozialistische Machtübernahme führte zu einem vorläufigen Ende der Sozialhygiene. Stattdessen wurden rassenhygienische Ansätze führend.

„Schon vor dem Krieg hatten die Nationalsozialisten damit begonnen, das am medizinischen Bedarf orientierte System der Gesundheitsversorgung durch eine Medizin der Ungleichheit zu ersetzen, die Gesundheitsressourcen nach rassistischen Wertigkeitskriterien und gesellschaftlichen Nützlichkeitskalkülen zuteilte. Nicht mehr der einzelne Kranke, sondern die Interessen des ‚Volkskörpers‘ sollten die Richtschnur ärztlichen Handelns bilden.“ (Süß 2003, S. 406)

Die nationalsozialistische Medizin der Ungleichheit führte nicht nur zu Zwangssterilisierungen (Jütte et al. 2011, S. 201 ff.) und anderen medizinischen Verbrechen, sondern gipfelte im programmatischen Massenmord an Kranken im Kontext der sogenannten Euthanasie (ebd., S. 214 ff).

In der Nachkriegszeit erlebte die Medizin vielseitige Fortschritte und damit verbunden eine hohe gesellschaftliche Aufwertung, welche zu einem veränderten Verständnis von Krankheit „primär als patho-physiologisches Phänomen“ (Ruckstuhl 2021, S. 36) führte. Krankheit wurde nun vor allem als ein durch die Medizin zu lösendes individuelles Problem verstanden (ebd.). Als Teil der Studierendenbewegung entstand Ende der 1960er- und 1970er-Jahre an den Universitäten eine medizinkritische Gegenbewegung (Deppe 1987, S. 152). Wie bereits im 19. Jahrhundert wurde u. a. die soziale Ungleichheit in der Krankenversorgung und bei der Krankheitslast thematisiert. Dazu kamen neue Anliegen: Die Gesundheitsbewegung kritisierte kommerzielle Interessen, wies auf atomare Risiken hin, arbeitete die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus auf oder forderte mehr primäre Prävention statt fabrikähnlicher Behandlung im Krankenhaus. Eine antiautoritäre Haltung zeigte sich bei der Kritik von Hierarchien im Krankenhaus oder im Ärzt:innen-Patient:innen-Verhältnis. Gegenentwürfe fand man in der alternativen Medizin, aber auch in selbstorganisierten Gesundheitszentren oder Selbsthilfegruppen, von denen man sich die Verwirklichung der Prinzipien Basisdemokratie, Autonomie und Eigeninitiative versprach (Deppe 1987).

Die Perspektiven der Gesundheitsbewegung und der Sozialmedizin fanden teils Eingang in die internationale Gesundheitspolitik. Insbesondere die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spielte eine zentrale Rolle in der programmatischen Fixierung dieser Einflüsse durch konzeptuelle Modelle von Gesundheitsförderung, die soziale Determinanten von Gesundheit in den Blick nahmen (Kickbusch 2003; Ruckstuhl 2021). Auf einer internationalen Konferenz in Ottawa im Jahr 1986 verabschiedete die WHO dann die „Ottawa-Charta“ (WHO 1986), die zum zentralen programmatischen Text für dieses Handlungsfeld wurde. Die Charta entwarf einen positiven Gesundheitsbegriff und forderte die Betrachtung von Lebensbedingungen und -kontexten, den Abbau sozialer Ungleichheit sowie die Stärkung von lebensweltlichen Ressourcen. In der bundesdeutschen Gesundheitspolitik wurden die Themen Gesundheitsförderung und Prävention bereits Anfang der 1980er – damals noch unabhängig von HIV/Aids – als wichtig markiert (Geene 2000, S. 109). Dennoch kam es erst im Zuge von HIV/Aids zur Umsetzung entsprechender Maßnahmen: „Eine […] Politik des New Public Health ist in der Bundesrepublik Deutschland zuvor nicht angewendet. Im Zuge der AIDS-Debatte finden damit die theoretischen Konzepte der Gesundheitsbewegung erstmals einen konkreten Anwendungsfall“ (ebd., S. 131). Dieser „Anwendungsfall“ wird im Folgenden kurz skizziert.

4 HIV/Aids als besonderes Handlungsfeld

4.1 Ausgangssituation: Die doppelte Bedrohung

Nachdem im Jahr 1981 vermehrt Fälle einer bis dahin unbekannten Krankheit (damals noch ohne die Bezeichnung A.I.D.S. oder später HIV/Aids) vor allem unter homosexuellen Männern in den USA beobachtet wurden, tauchten 1982 erste Fälle auch in Deutschland – und auch hier vor allem unter homosexuellen Männern – auf. 1983 schlossen sich zehn Männer und eine Frau zusammen, um angesichts der neuen Bedrohung durch Aids die Deutsche Aidshilfe e. V. zu gründen. Der Verein wollte einerseits Aufklärung und Wissensproduktion zum Thema leisten und andererseits die Menschen, die sich mit HIV infiziert hatten bzw. an Aids erkrankt waren, unterstützen (DAH 1983). Dies geschah aufgrund der Wahrnehmung einer doppelten Bedrohung: Einerseits war Aids zunächst nicht zu behandeln – erst im Jahr 1984 konnte die Ursache der neuen Krankheit, das HI-Virus, überhaupt identifiziert werden. Auch klassische seuchenrechtliche Mittel, also behördliche Interventionen zur Durchbrechung von Infektionsketten, erschienen aufgrund der HIV-spezifischen Besonderheiten (etwa der langen Latenzzeit und der besonderen Übertragungswege) ungeeignet (Baldwin 2006, S. 49; Haus-Rybicki 2021, S. 103). Insgesamt war die institutionalisierte Gesundheitspolitik angesichts der nie dagewesenen Herausforderungen Anfang der 1980er von fehlendem Wissen und unklaren Handlungsperspektiven geprägt (Tümmers 2017, S. 73 ff.). Zunächst ging es daher laut ehemaligen Vorstandsmitgliedern der DAH vor allem darum, „PolitikerInnen auf die Tatsachen hinzuweisen“, also politische Entscheidungsträger:innen über die neue Krankheit aufzuklären und der medialen Skandalisierung entgegen zu wirken (Reiss und Lange 1993, S. 57). Andererseits war die gesellschaftliche Rezeption von HIV/Aids vielfach ressentimentgeladen und bediente Homosexuellen-feindliche Narrative (Beljan 2014). Gerade angesichts des Regierungswechsels von der sozial-liberalen Koalition zum Kabinett Helmut Kohl (im Jahr 1982), der eine „geistig-moralische Wende“ ankündigte, schienen die von der Schwulenbewegung erkämpften sexuellen Freiheiten in Gefahr (Haus-Rybicki 2021, S. 26).

4.2 Der besondere Lösungsweg

Aufgrund dieser besonderen Herausforderungen konnten die staatlichen Institutionen eine effektive und bürgerrechtsorientierte Bearbeitung der Krankheit zunächst nicht gewährleisten. Deshalb übernahmen nichtmedizinische und nichtstaatliche Akteur:innen, die Aidshilfen, diese Aufgabe und beschritten damit neue gesundheitspolitische Wege (Rosenbrock 2001): Zum einen wurde nichtmedizinische Prävention zur zentralen Bekämpfungsstrategie; zum anderen wurde diese Strategie von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen umgesetzt und maßgeblich von Angehörigen marginalisierter Gruppen getragen – und dadurch auch von Ansprüchen und Zielen der mit diesen Gruppen verbundenen sozialen Bewegungen, insbesondere der Schwulenbewegung, beeinflusst. Das Besondere an der Selbsthilfeorganisation war, dass sie nicht nur die Betreuung von bereits an dem Immunschwächesyndrom Erkrankten, sondern vor allem auch Primärprävention anbot, also Aufklärung und Informationen zu Krankheit und Übertragungswegen zugänglich machte (DAH 1998a, S. 19). So konzentrierte die DAH sich etwa in den ersten Jahren auf die Produktion von Informationsmaterialien sowie auf Kampagnen, Pressearbeit und erste Fortbildungsangebote für lokale Aidshilfen (DAH 1986). Dabei galt es auch, die eigene Präventionsstrategie mit den Säulen „Aufklärung, Beratung und Betreuung“ (Paul 1987, S. 5) als Grundsätze der Aids-Bekämpfung durchzusetzen, „um einer weiteren Verbreitung von AIDS Einhalt zu gebieten“ (ebd., S. 6). Insbesondere die politische Rahmensetzung und Debatte schien die Präventionserfolge zu behindern: Ein Klima der Angst, so das ehemalige Vorstandsmitglied Gerd Paul, laufe all diesen Bemühungen zuwider; dies zeige sich u. a. im „Ruf nach Absonderung von Betroffenen“ (ebd.). 1985 wurde die Deutsche Aidshilfe offiziell zum bundesweiten Verband lokaler Aidshilfen. Seitdem wird sie durch das Bundesministerium für Gesundheit maßgeblich finanziert.

4.3 Normalisierung?

HIV/Aids hat sich – zumindest in den westeuropäischen Staaten – seit dem Bekanntwerden des Erregers und insbesondere seit der Entwicklung medizinischer Behandlungsmöglichkeiten in den 1990er-Jahren zunehmend normalisiert (Wright und Rosenbrock 2012). Zuvor kam es jedoch Ende der 1980er-Jahre zu einer Infragestellung bzw. Politisierung der bestehenden Arrangements zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen. Dabei stellten sowohl Teile der CDU/CSU als auch der AIDS-Aktivist:innen den etablierten „liberalen Aidskonsens“ (Haus-Rybicki 2021) der Prävention in Frage. Das von der CSU regierte Bayern zweifelte an der Wirksamkeit der bisherigen Strategie und forderte strenge Kontrollmaßnahmen zur Eindämmung der Krankheit (Tümmers 2017, S. 224 ff.). Insbesondere mit Verweis auf die vermeintliche Uneinsichtigkeit oder Unbelehrbarkeit von (potenziell) Infizierten sah man sich in Bayern im Recht, härtere Maßnahmen durchzusetzen. Auch in Frankfurt gab es ähnliche Versuche seitens der Stadtregierung (Haus-Rybicki 2021, S. 295). In Bayern wie in Frankfurt standen vor allem Sexarbeitende und Drogengebrauchende, als ‚unbelehrbar‘ oder ‚uneinsichtig‘ geltende HIV-Infizierte, ebenso wie Asylsuchende oder ‚Ausländer:innen‘ im Fokus der Maßnahmen. Die HIV-Aktivist:innen hingegen forderten nicht nur den Schutz ihrer Rechte und formulierten im Sinne der Solidarisierung aller bedrohten Gruppen eine „Allianz der Schmuddelkinder“ (Kostimpas und von Unger 2021). Sie gingen auch in die Offensive, indem sie z. B. explizit die katholische Kirche angriffen oder die Einbindung ihrer Perspektiven bei Aidskongressen oder in der pharmazeutischen Forschung einforderten (Würdemann 2017).

In den 1990er-Jahren zeigten sich „erste Anzeichen der Normalisierung“ (Rosenbrock et al. 2002, S. 13): Die politische Aufmerksamkeit nahm ab, die Infektionszahlen stabilisierten sich und eine Ausbreitung jenseits der Hauptbetroffenengruppen (Homosexuelle und Drogengebrauchende) fand nicht im befürchteten Ausmaß statt. Die Entwicklung der antiretroviralen Therapien (ART, später Highly Active Antiretroviral Therapy, HAART) setzte einen Prozess in Gang, in dem die Krankheit zunehmend als chronische Krankheit behandelt wurde. Es fand eine Entskandalisierung des Themas statt, Ausgrenzung und Kriminalisierung gerieten in den Hintergrund. Der ehemalige ACT-UP-Deutschland-Aktivist Ulrich Würdemann beschreibt in diesem Zusammenhang auch einen Bedeutungsverlust des politischen Aidsaktivismus (2017, S. 135 f.).

Allerdings greifen diese Darstellungen, die eine lineare Chronologie von Krise zu Normalisierung formulieren und dabei bio-medizinische Faktoren betonen, zu kurz. Wie Agata Dziuban und Todd Sekuler ausführen: „accounting for alternative temporal regimes in the landscape of HIV/AIDS activism allows for relativizing this narrative and adding complexity to our understanding“ (2021, S. 8). Statt biomedizinische Faktoren zu fokussieren, ist es deshalb wichtig, die Handlungsfähigkeit von AIDS-Aktivist:innen und Betroffenen zu beachten.

Die über Zeit stattfindende Entpolitisierung lässt sich jedoch keineswegs als direkter Effekt biomedizinischer Innovation begreifen, wie Peter-Paul Bänziger (2015) für den Fall der Schweizer Aidshilfen im Blick auf die Transformation von Aktivist:innen zu Expert:innen nachzeichnet. Stattdessen weist er nach, dass die Argumente des Entpolitisierungsdiskurses „von zentralen ProtagonistInnen begrüßt und aktiv unterstützt wurden. Sie entwickelten neue Formen durch ExpertInnenwissen und -knowhow geleiteter Präventionsarbeit“ (ebd., S. 263). Auch für die USA zeigt Steven Epstein (1995, 1996), wie sich Aids-Aktivist:innen als Laien-Expert:innen Autorität verschafften. Ihre Kritik betraf dabei nicht nur die Politik, sondern auch Forschung und Wissensproduktion, z. B. Studien zu HIV-Medikamenten („treatment activism“). Im Zuge dessen eigneten sich Aktivist:innen selbst medizinisches Fachwissen an, das auch Mediziner:innen teils beeindruckte (Epstein 1995, S. 419). Die US-amerikanische Aids-Bewegung kritisierte nicht nur die Wissenschaft, sondern bewegte sich selbst auf wissenschaftlichem Terrain (ebd. 1996, S. 8). Epstein begreift – in Anschluss an Adele Clarke – die politische Aushandlung von Aids-Forschung als „encounter – or clash – between members of many different social worlds“ (ebd. 1996, S. 18). Zu diesem „clash“ passte auch das taktische Vorgehen der „treatment activists“: Um Glaubwürdigkeit zu generieren, verbanden sie etwa wissenschaftlich-methodologische Argumente mit politisch-moralischen Argumenten „so as to monopolize different forms of credibility in different domains“ (ebd. 1995, S. 420). Sebastian Haus-Rybickie arbeitet für den westdeutschen Kontext heraus, dass sich die Aidshilfe in der Schwulen Szene zu einer „epistemische[n] Autorität“ (2021, S. 101) entwickelte. Mit der Entwicklung einer „Safer Sex“-Strategie gelang es ihnen, nicht nur medizinische wie staatliche Vertreter, sondern auch die Szenen von der Präventionsstrategie zu überzeugen (ebd., S. 101 ff.). Wie unsere Forschung ergab, spielte das Konzept der Strukturellen Prävention in diesem Aushandlungsprozess eine zentrale Rolle, weswegen im Folgenden Bedeutung und Funktion des Konzepts im Zeitverlauf rekonstruiert werden.

5 Bedeutung und Geschichte des Konzepts der Strukturellen Prävention

5.1 Konzeptualisierung aus der Defensive (1987)

Wie weiter oben beschrieben, verschärfte sich ab Mitte der 1980er-Jahre die Debatte um den ‚richtigen‘ Umgang mit HIV/Aids in der Bundesrepublik. Vor diesem Hintergrund formulierte die DAH ihr Präventionskonzept aus (Ketterer 1998, S. 42), wobei das 1987 verabschiedete Memorandum „Leben mit Aids – Bestandsaufnahme und Perspektiven der AIDS-Bekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland“ als ein Meilenstein gilt (ebd.). Darin stellte die DAH „erstmals einer breiten Öffentlichkeit die Grundlinien ihrer Präventionsarbeit zusammenfassend vor, […] als Beitrag zu einer rationalen Neukonturierung der gesundheitspolitischen Strategiediskussion um AIDS“ (DAH 1988a, S. 8). In der Tat wurde dort der Versuch unternommen, eine Anti-Aids-Strategie zu verschriftlichen, die der Praxis der DAH und den darin enthaltenen Überzeugungen und Wissensbeständen entspricht. Sie thematisierte u. a. gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen und stellte die Akzeptanz von geächteten Lebensstilen ins Zentrum.

Die Verschriftlichung einer eigenen gesundheitspolitischen Strategie war dabei weniger den praktischen Erfordernissen der eigenen Präventionsarbeit geschuldet als vielmehr der Abwehr eines politischen Angriffs auf die bestehende HIV/Aids-Politik. Die DAH widersetzte sich der von der CSU und anderen konservativen Teilen der Union geforderten seuchenpolizeilichen Strategie und beteiligte sich an Protesten, etwa an einem Aktionstag unter dem Motto „Solidarität der Uneinsichtigen – Für eine menschliche AIDS-Politik“, zu dem die Aidshilfen des Bundesgebietes gemeinsam aufgerufen hatten (DAH 1988b, S. 5). Dabei verwies die DAH nicht nur auf die fehlende Faktenbasis und eine fehlgeleitete Moralisierung des Themas durch das konservative Lager. Insbesondere im Kontext der Geschichte der Verfolgung der betroffenen Gruppen lehnte die DAH (1987) Razzien in Schwulenkneipen und staatliche Versuche zur Eindämmung von Prostitution oder Drogenkonsum ab und stellte den ‚Hardlinern‘ ihr eigenes, alternatives Präventionskonzept entgegen. Dieses zielte auf die Akzeptanz der Lebensstile der Hauptbetroffengruppen und deren langfristige Verhaltensänderung (im Sinne eines „Safer Sex“ und „Safer Use“) ab, wobei die DAH ihre Überzeugung formulierte, dass diese nicht durch Repression, sondern vor allem durch Unterstützung, Freiwilligkeit und Aufklärung erwirkt werden kann. Für die Prävention in den sogenannten Hauptbetroffenengruppen bedürfe es „Zielgruppenspezifität, Klarheit in der Präventionsaussage, angemessene[r] Sprache ohne falsche Tabus, Vermittlung an Orten, an denen möglicherweise risikoreiche Verhaltensweisen auftreten“ (ebd.). Die DAH blieb hierbei jedoch nicht stehen. Sie argumentierte, dass Prävention über Aufklärungsmaßnahmen hinausgehen und an der (marginalen) sozialen Lage der Betroffenen ansetzen müsse. Das Papier warb also für eine Erweiterung des Begriffs der Prävention: „Präventionspolitik, die wirksam sein will, muss deshalb Gesellschaftspolitik im umfassenderen Sinne werden. Sie muss die Marginalität (Randstellung) von Betroffenen-Gruppen abbauen, zumindest abschwächen“ (DAH 1987, S. 13). Dabei gelte es, die „Außenseiterstellung“ der Marginalisierten nicht aufzuheben, sondern ihre Besonderheiten und Identität zu verteidigen (ebd.).

In den darauffolgenden Jahren hielt es die DAH für notwendig, das organisationale Selbstverständnis zu kodifizieren (DAH 1988a, S. 7, 1989, S. 6). Ein konsistentes Konzept sollte helfen, inhaltlich steuernd in den Verband hinein zu wirken, aber dabei auch die eigene Position gegenüber externen Akteur:innen zu klären und das eigene Profil als Fachverband und „emanzipatorische Kraft“ zu schärfen (Ketterer 1998, S. 39). Ein wesentlicher Grund war politischer Natur: Es ging darum, den „restriktiven ordnungspolitischen Vorstellungen und Kräften etwas entgegenzustellen“ (ebd.). Dies passierte aber keinesfalls nur in Abgrenzung dazu, sondern basierte auf einem eigenen gesundheitspolitischen Ansatz, der die „Orientierung […] an Health-Belief- und sozial-kognitiven Prozeßansätzen“ genauso umfasste wie das Ziel der „Absicherung, Systematisierung und Verbesserung der Präventionserfolge durch das Aufgreifen gesundheitswissenschaftlicher Erkenntnisse“ (ebd.). Nachdem in dem Memorandum erste Schritte zur Ausformulierung der eigenen Präventionsgrundsätze unternommen wurden – noch ohne den Begriff der Strukturellen Prävention –, war es insbesondere der DAH-Vorstand, der die Arbeit fortsetzte und schließlich auch den Begriff prägte.

5.2 Aufstand der Positiven (1990)

Die Zahl der Infektionen und Todesfälle durch HIV/Aids in der Bundesrepublik Deutschland nahm Ende der 1980er-Jahre zu. Gleichzeitig organisierten sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der DAH zunehmend sichtbar Menschen mit HIV: 1988 gründete die DAH ein Referat für Menschen mit HIV (DAH 1988a, S. 10); 1989 formierte sich in Deutschland ein Ableger der politischen ACT-UP-Bewegung aus den USA (Würdemann 2017; Januschke und Klöppel 2021); und 1990 fand die erste bundesweite „Positivenversammlung“ statt (DAH 1990). 1990 war auch das Jahr, in dem erstmals offen HIV-positive homosexuelle Männer im Vorstand der DAH vertreten waren. Dies war nicht selbstverständlich, wie Bernd Aretz, ein Protagonist, rückblickend notiert:

„Als ich mich zwei Jahre vorher [1988, Anm. d. Verf.] dem DAH-Beirat als HIV-infizierter schwuler Mann vorstellte, nahm mich der Vorstandsvorsitzende […] beiseite, um mich darüber zu belehren, dass dies Privatsache sei, nicht in die Öffentlichkeit gehöre und keine besondere Qualifikation darstelle.“ (Aretz 2015)

Die Sichtbarkeit von Menschen mit HIV sollte auch in den Medien erhöht werden (ebd.). Darüber hinaus war es erklärtes Ziel des neuen Vorstands, die präventionspolitischen Positionen der DAH zu prägen, was schließlich im Entwurf der Strukturellen Prävention mündete. Dabei ging es aus Sicht eines anderen Vorstandsmitglieds, Helmut Ahrens, auch darum, sich von den gängigen gesundheitswissenschaftlichen Präventionsbegriffen abzusetzen: „Es war deutlich, daß man mit der schematischen, fremdbestimmten Definition des Präventionsbegriffs – Primär‑, Sekundär- und Tertiärprävention – in eine politische Falle läuft.“ (DAH 1991, S. 43) Stattdessen brauche es „einen anderen Schwerpunkt in der Präventionspolitik […]; nämlich den der Selbsthilfe-Netzwerke in den Gemeinwesen, die Gesundheits- und andere Lebensfragen indirekt aufgreifen.“ (ebd.) Es ging also um größere Unabhängigkeit von etablierten medizinisch geprägten Diskursen und eine Stärkung der Perspektiven von Betroffenen.

In einem Rundschreiben wendete sich das Vorstandsmitglied Hans-Peter Hauschild Ende der 1990er-Jahre an die lokalen Aidshilfen und Landesverbände: „Wir wagen es […] all unser Arbeiten Prävention zu nennen“ (Hauschild zit. nach Aretz 1998, S. 60). Hier wird die Erweiterung des Konzepts der Prävention deutlich, die eben nicht nur die klassische Aufklärungsarbeit, sondern auch politische Arbeit umfasst. Die eigene Arbeit Prävention zu nennen, stellte dabei ein Wagnis dar, da es zu dem Zeitpunkt nach wie vor ungewöhnlich war, auch individuelle und kollektive Emanzipation als Prävention zu verstehen. Trotz dieses Wagnisses sei Prävention, wie Hauschild ausführte, eine strategisch begründete Begriffswahl. Die DAH knüpfe damit an die Begriffe im Feld des Gesundheitswesens an, um diese als Aidshilfe grundsätzlich zu verändern. Hauschild schrieb:

„[W]ürden wir unsere Arbeit anders bezeichnen, wäre das Anliegen nur für Insider kommunikabel. Insbesondere will die AIDS-Hilfe im eigenen Interesse an der Neugestaltung der Gesundheitsdienste im Sinne einer umfassenden Demokratisierung des Gesundheitswesens mitwirken, wozu es auch einer gemeinsamen ‚Gesundheitssprache‘ bedarf.“ (Hauschild 1990 zit. nach Aretz 1998, S. 60)

Obwohl die Verwendung des Begriffs der Prävention eine bewusste Annäherung an die institutionalisierte Gesundheitspolitik war, bestand Einigkeit darüber, dass die Aneignung, Erweiterung und Umdeutung des Präventionsbegriffs nicht zu einer Abkehr von dem spezifischen emanzipatorischen Verständnis der Aidshilfe-Praxis führen dürfe. Vielmehr ging es darum hervorzuheben, dass nur die im Eigeninteresse der Betroffenen durchgeführte Präventionsarbeit der Aidshilfen überhaupt effektiv sein könne, denn „belehrende oder ‚gesundheits‘-erziehende Maßnahmen für die Lebensbereiche Lust, Rausch, Leid und Tod“ (ebd.) seien bisher stets gescheitert. Die Mitbestimmung bei der Aids-Prävention „für unsere Interessen [sei] überlebenswichtig“ (ebd., S. 61), und zwar für den Einzelnen, aber auch „für unsere Lebenswelten, die von einer fremdbestimmenden AIDS-‚Prävention‘ plattgewalzt werden könnten“ (ebd.). Letzteres macht deutlich, dass ein kritisches Verhältnis zur institutionalisierten Gesundheitspolitik weiterhin Bestandteil des Selbstverständnisses der DAH blieb, was wiederum auf den gesellschaftskritischen Anspruch der Aidshilfe-Arbeit verweist, der sich im Begriff der Strukturellen Prävention manifestiert. Prävention im strukturellen Sinne müsse sowohl am „Selbst“ (also auf der individuellen Ebene) als auch an den gesellschaftlichen Bedingungen ansetzen, auch weil diese (Verhalten und Verhältnisse) nicht zu trennen seien (ebd.).

Das Rundschreiben von Hans-Peter Hauschild wurde schließlich von dem ganzen Vorstand der DAH aufgenommen. Der Vorstand veröffentlichte in der Verbandszeitschrift aktuell ein „Essential-Papier“ (Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. 1990a), welches die „Arbeitsgrundlage des Vorstandes der Deutschen AIDS-Hilfe e. V.“ darstellen sollte, und schloss damit explizit an das oben beschriebene Memorandum von 1987 sowie an bisherige Beschlüsse zur Drogenpolitik an (Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. 1990b).

Innerhalb des Essential-Papiers wurde die Strukturelle Prävention von individualisierten Präventionsansätzen unterschieden. Die Autor:innen nahmen dabei eine Abgrenzung zu verhaltenstherapeutischen Ansätzen vor, welche nurmehr die „Konditionierung des Kondoms“ vorsehen würden. Sie argumentierten, dass die Strukturelle Prävention die individuelle Ebene verlassen müsse: „Die strukturelle Prävention geht vor und durch individuelle Prävention hindurch; ihr Credo ist die Emanzipation der Menschen in der AIDS-Krise“ (ebd. 1990a, S. 5). Dennoch wird auch in dem Essential-Papier deutlich, dass das Konzept der Strukturellen Prävention nicht im Gegensatz zur institutionalisierten Gesundheitspolitik formuliert wurde. Stattdessen bezog sich der Vorstand dezidiert auf die Konzepte der WHO und verknüpfte diese mit den eigenen Konzepten. „Auf der praktischen Grundlage des Diskurses der Menschen mit HIV und AIDS und dem wissenschaftlichen Bezugsrahmen des Lebensweisen-KonzeptsFootnote 3 der WHO ist das theoretische Gesamtkonzept der D.A.H. die strukturelle Prävention.“ (ebd.) Gleichzeitig verortete sich die DAH in Kontexten sozialer Protestbewegungen. Der Vorstand wollte selbst Teil, sogar „treibende Kraft“ (ebd.) dieser sein:

„Zielgestalt der AIDS-Hilfe ist es folglich, treibende Kraft sozialer Bewegung zu werden als selbstbewußter Teil der Subkulturen in der AIDS-Krise (Schwule, Drogengebraucher und Huren), als Sammlungsbewegung der vereinzelten Infizierten (Frauen, Hämophile, Kinder, heterosexuelle Männer) zusammen mit Frauen und Männern, die als Nicht-Betroffene solidarisch sind […].“ (Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. 1990a)

Da es auch von Seiten der Sozialen Bewegungen, insbesondere aus der Schwulenbewegung, immer wieder Kritik an der Strategie der Aidshilfe gab, weil man sie für bevormundend oder kontrollierend hielt, galt es auch dort, Legitimität für die präventive Arbeit der Aidshilfen herzustellen. Ebenfalls spielte dabei das Konzept der Strukturellen Prävention eine zentrale Rolle:

„Man bekam andauernd aus der Ecke der Schwulenbewegung die Pistole vor die Brust gesetzt: ‚Ihr betreibt aber soziale Kontrolle, und Kondomisierung ist von Übel!‘ Das wurde aufgehoben im Konzept der strukturellen Prävention. Dann durfte man Propaganda für das Kondom machen, natürlich auf subtile und intelligente, aufgeklärte Weise.“ (DAH 1998a, S. 24)

Das Konzept der Strukturellen Prävention diente also in zwei Richtungen als Brücke: Zum einem stellte es Anschlussfähigkeit an fachliche Präventions-Diskurse her, was die DAH in die Lage versetzen sollte, Einfluss auf die Gesundheitspolitik zu nehmen. Andererseits wollte die DAH sich mit Hilfe des Konzepts gegenüber kritischen Stimmen aus der Schwulenbewegung behaupten. Mit Hilfe der Strukturellen Prävention konnte also sowohl eine fachliche als auch eine politische Haltung demonstriert werden.

5.3 Verabschiedung des Konzepts (1995)

Obwohl das Konzept bereits 1990 erstmals vorgestellt und in den folgenden Jahren in verschiedenen Stellungnahmen als zentrales Arbeitskonzept der DAH verhandelt wurde (z. B. DAH 1992, 1993), dauerte es noch bis 1995, bis es offiziell von der Mitgliederversammlung verabschiedet wurde. Es liegt nahe, dass sich diese Zeitdauer auch daraus erklärt, dass das Konzept in der Aidshilfe-Bewegung nicht unumstritten war. Das zeigt sich etwa daran, dass die oben genannten Konzeptpapiere zur Einberufung einer Selbstverständnis-Kommission führten (Aretz 1998; Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. 1990b).

1995 verabschiedete die Mitgliederversammlung der Deutschen Aidshilfe e. V. schließlich den Beschluss: „Die Grundlage der Arbeit der DAH ist die ‚strukturelle Prävention‘“ (DAH 1996). In diesem Dokument wird die DAH zwar auch als Fachverband beschrieben, der die sozialarbeiterische Praxis der Aidshilfen vor Ort durch verschiedene Aktivitäten wie Standardentwicklung oder Qualifizierung unterstützt. Gleichzeitig geht das Dokument aber über diesen professionellen Anspruch des wissensbasierten Arbeitens hinaus und hält fest:

„Gesundheit und gesundheitsförderndes Verhalten sind nicht nur Folge von individuellen Entscheidungen, sondern hängen maßgeblich von politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ab. Eine Prävention, die sich allein auf die Krankheit konzentriert und die Rahmenbedingungen außer acht läßt, ist zum Scheitern verurteilt. Verhaltens- und Verhältnisprävention können nicht auseinandergerissen werden. Die Konzentration auf den Menschen und seine Lebenswirklichkeiten ist somit unerläßlich.“ (DAH 1996, o. S.)

Hier werden – sozialmedizinischen Einsichten folgend – gesellschaftliche Bedingungen und Gesundheit bzw. gesundheitsförderliches Verhalten in Beziehung gesetzt. Die DAH verbindet ihren Begriff der Prävention mit einer gesellschaftspolitischen Positionierung. Weil Gesundheit sozial bedingt ist und Prävention diese „Rahmenbedingungen“ mitbedenken muss, gilt es, die krankmachenden gesellschaftlichen Bedingungen zu kritisieren und deren Verbesserung zu fordern. Dazu gehöre der Eintritt für „Menschenwürde“, der Kampf gegen Verfolgung durch Staat und Justiz, die Abwehr von „Diskriminierung, Ächtung und Ausgrenzung“ sowie von „Radikalisierung und Entsolidarisierung dieser Gesellschaft“. Im Zentrum stehe die „Stärkung des Selbstbewußtseins des einzelnen und der Subkulturen“. Aidshilfe solle „politisch und gesellschaftlich kritisch und unbequem“ sein und im Sinne der Selbsthilfe „eine solidarische Gemeinschaft“, Selbstorganisation sowie aktuelle Netzwerke fördern (ebd.).

Vergleicht man die verabschiedete Version mit dem Entwurf des Vorstands 1990, fällt auf, dass der Entwurf sprachlich wie inhaltlich geglättet wurde. Der Beschluss ist nicht nur deutlich verständlicher und klarer formuliert, es finden sich weitere Unterschiede, die auf eine relative Akzentverschiebung von der politischen zur fachlichen Ebene hinweisen. Zunächst fällt auf, dass der Text weniger dringlich erscheint. Die „Aidskrise“, die 1990 noch als Bezugspunkt genannt wird, ist 1995 schon nicht mehr relevant. Explizite Bezüge zu Lust und Sexualität, aber auch Szene-Begriffe wie „Fixer“ oder „Stricher“ sind nicht mehr zu finden. Ein politischer Anspruch (nämlich „politisch und gesellschaftlich kritisch und unbequem“ zu sein [DAH 1996]) wird weiterhin formuliert, aber der explizite Verweis auf soziale Bewegungen findet sich in der Fassung von 1995 nicht mehr. Zudem werden die Widersprüche und Unterschiede zwischen verschiedenen Standpunkten weniger betont: Der Beschluss von 1995 hebt die Anschlussfähigkeit unterschiedlicher Perspektiven hervor, etwa die von Verhaltens- und die Verhältnisprävention und von Fachlichkeit und Betroffenenperspektiven. Im Entwurf von 1990 zeigt sich eine größere Skepsis gegenüber verhaltenspräventiven Ansätzen und die Forderung nach einem Primat der Betroffenenperspektive gegenüber einer fachlichen Perspektive wird formuliert. So heißt es: „Jedes Arbeitssegment hat sich den Spiegel der Selbstartikulation des innersten Kreises d. h. der Menschen, die an der Auseinandersetzung beteiligt sind, vor Augen zu halten und Schwerpunkte ggf. zu korrigieren.“ (Vorstand der Deutschen AIDS-Hilfe e. V. 1990a, S. 4) Trotz dieser eindeutigen Richtung wäre es jedoch verfehlt, hier mehr als eine relative Akzentverschiebung festzustellen, da insgesamt eine hohe Kontinuität des Konzepts vorliegt.

Die Frage nach der Bedeutung dieser Nuancen ist dennoch relevant. Während es durchaus möglich erscheint, dass die Glättung lediglich ein inhaltlich wenig bedeutungsvoller Effekt eines kollektiven Schreibprozesses ist, könnte sie sich auch als eine politisch relevante Veränderung deuten lassen. So könnten diese Umformulierungen entweder Ausdruck innerverbandlicher Widerstände gegen eine akzentuiert politische Initiative aus dem Umfeld der Positiven-Bewegung sein – etwa von Seiten eher fachlich orientierter Strömungen im Verband. Sie könnte aber auch Ausdruck der oben zitierten Veränderungen der Aidsarbeit im Zeitverlauf sein, die sich aus der fortschreitenden Professionalisierung und Etablierung der Organisation oder der ‚Normalisierung‘ von Aids im Kontext der medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten ergeben.

6 Konzeptuelle Weiterentwicklung (1998, 2010)

Gerade vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Erklärungsansätze für die festgestellte Glättung ist es relevant, die konzeptuelle Debatte um die Strukturelle Prävention im weiteren Verlauf zu untersuchen. Dafür eignet sich die Betrachtung zweier Sammelbände, die die DAH 1998 und 2010 veröffentlichte und in denen die Organisation das Konzept der Strukturellen Prävention reflektiert und weiterzuentwickeln versucht. Diese Publikationen sollen hier Hinweis darauf geben, wie sich das Konzept verändert hat und wie sich diese Veränderungen zu organisationsinternen Konflikten und langfristigen Entwicklungen im Bereich der Aidshilfe-Arbeit in Beziehung setzen lassen.

6.1 Strukturelle Prävention – ein Mythos? (1998)

Im Sammelband Strukturelle Prävention. Ansichten zum Konzept der Deutschen AIDS-Hilfe von 1998 wird die Geschichte des Konzepts dokumentiert, wobei auch den sich widersprechenden Ansichten Raum gegeben wird. Diese Konflikte sichtbar zu machen, ist dabei explizit Ziel des Bandes:

„Zugleich hat die Vermutung vieles für sich, daß jeder Kodex auf Konflikte und Widersprüche reagiert, die in seinem Text latent bleiben. Das Konzept überlebt daher nur, wenn es an seinen eigenen Widersprüchen wächst und dabei die Praxis der Aidshilfe mit seinen Widersprüchen nicht aus dem Auge verliert. […] Ich hoffe also, daß mit diesem Band unsere Kraft, Widersprüche auszuhalten und produktiv voranzutreiben, gestärkt wird.“ (Etgeton 1998, S. 6)

Dabei nimmt besonders der Abdruck einer Round-Table-Diskussion aus dem Dezember 1997, die der Einleitung beigestellt und damit sehr prominent hervorgehoben ist, eine zentrale Bedeutung ein. Deshalb wird dieser Teil auch hier detailliert rekonstruiert. In dieser Round-Table-Diskussion setzten sich ehemalige und aktuelle Aidshilfe-Mitarbeiter:innen und Vorstände sowie Wissenschaftler:innen aus dem Aidshilfe-Umfeld Ende der 1990er-Jahre mit dem Konzept der Strukturellen Prävention auseinander. Das oben mehrfach als zentral ausgewiesene Verhältnis von politischen und fachlichen Ansprüchen war dabei – trotz der im Konzept angelegten Vereinbarkeit – stark umstritten. Während einige Teilnehmer:innen eine hohe Vereinbarkeit verteidigten, argumentierten andere, dass es unvereinbare Zielvorstellungen von Fachlichkeit und Emanzipation gebe:

„AIDS-Hilfe startete als politische Bewegung, aber heute ist sie ein institutionelles Hilfesystem. Daran sind jeweils unterschiedliche soziale Strukturen gebunden. Die Forderung ist aber offensichtlich, beides unter einen Hut zu bringen. […] Der Anspruch lässt sich nicht verwirklichen. Man kann entweder das eine oder das andere, sonst fehlt die jeweilige Basis.“ (DAH 1998a, S. 34)

In der Diskussion wurde zudem eine weitere Dimension der Strukturellen Prävention, die Solidarisierung der unterschiedlichen von HIV/Aids bedrohten Gruppen (‚Allianz der Schmuddelkinder‘) und ihre Diversität, thematisiert. Dies wurde etwa in Bezug auf ‚innerschwule‘ Heterogenität ausgeführt, wobei festgestellt wurde, dass die in sexualitäts- und identitätspolitischer Hinsicht bedeutsame oppositionelle Positionierung Ausschlüsse produziere:

„[E]s gibt soziale und kulturelle Benachteiligungen, wo AIDS-Hilfe – oder verwandte Organisationen – die Aufgabe haben, zu helfen. Ein Teil der Hilfe ist, zu signalisieren, daß man ansprechbar ist. Aber eine bestimmte Form der kulturellen Selbstrepräsentation der AIDS-Hilfe und ihrer Helfer führt dazu, daß diese Männer wegbleiben. Da sehe ich Probleme im Konzept.“ (DAH 1998a, S. 31)

Dabei wurde nicht nur argumentiert, dass ein emanzipatorischer Anspruch mit den Lebenswirklichkeiten verschiedener Gruppen auseinanderfalle, sondern auch darauf verwiesen, dass zwischen den Interessen verschiedener Gruppen Konflikte bestehen:

„‚Wir sind für alle Menschen mit HIV und AIDS zuständig, in Wahrheit aber ein ganz großer Schmuddelklub, und darauf sind wir auch stolz!‘ ist ein Mythos der AIDS-Hilfe-Bewegung. Von Anfang an sind dabei die infizierten Frauen herausgefallen.“ (ebd., S. 16)

Dieses Selbstbild als Mythos zu benennen, ist ein Mechanismus, der dazu diente, die in der Organisation dominante Geschichte der Strukturellen Prävention – die auch oben nachgezeichnet wird – kritisch zu reflektieren:

„In der Bundesgeschäftsstelle wurden viele Mythen produziert […] und nach außen transportiert. […] (U)nd bestimmte Lebenswirklichkeiten wurden tabuisiert. Zum Beispiel das ‚kleine Glück‘, die Beziehung.“ (ebd., S. 18)

Dieser über den Begriff des Mythos ausgetragene Konflikt um Ursprung und Geschichte des Konzepts verweist darauf, dass es in der Diskussion über die Strukturelle Prävention auch um eine grundlegende Aushandlung der organisationalen Identität geht. Dabei fällt auf, dass die Intensität des Konflikts erheblich ist. Das zeigt sich nicht nur an der kontroversen Diskussion und den wiederholten Verweisen auf damals bestehende Konflikte mit zwei lokalen Aidshilfen, sondern auch in Bezug auf die Darstellung der Geschichte des Konzepts: „In den regionalen Aidshilfen hingegen stritten sich Hauptamtler und Positive darüber. Insofern gab es da gewaltige Brüche und auch gewaltige Kränkungen“ (ebd., S. 24).

Die in der Round-Table-Diskussion zum Vorschein kommenden Kritiken an dem Konzept verweisen also darauf, dass der oben genannten Glättung organisationsinterne Konflikte zu Grunde gelegen haben könnten. Das Ergebnis lässt sich so als Kompromiss zwischen verschiedenen Strömungen deuten. In der Round-Table-Diskussion finden sich aber auch Hinweise darauf, dass die Tendenz zur Glättung Ausdruck der sich verändernden Konstellation war:

„Überdies hat sich der politische Rahmen verändert. Anfangs ging es im Wesentlichen um ordnungspolitische Auseinandersetzungen – Stichworte Maßnahmenkatalog, Gauweiler, Süssmuth-Linie. […] In der weiteren Entwicklung ging und geht es eher um gesundheits- und sozialpolitische, auch Verteilungsfragen. […] Dieser veränderte Rahmen macht es für uns schwerer, skandalisierend auf ausgegrenzte Gruppen aufmerksam zu machen und Profil zu bezeugen.“ (DAH 1998a, S. 21)

Dabei wurde nicht nur auf die Entdramatisierung der zugespitzten Situation im Kontext der Auseinandersetzung um die ‚bayrische Linie‘ verwiesen, sondern auch auf die zunehmende gesellschaftliche Integration der Aidshilfen:

„Einerseits leiden die AIDS-Hilfen an den Erfolgen ihrer Emanzipationsstrategien. Das heißt, sie leiden unter der De-Skandalisierung, der Ent-Dramatisierung des Phänomens Aids. […] Uns fällt nämlich zum Teil auf die Füße, daß wir als AIDS-Hilfe dafür gesorgt haben, stärker ins Zentrum zu gelangen. Wir haben ja gar nicht mehr diesen schönen Schmuddel- und Peripheriecharakter, der uns einmal so lieb war.“ (ebd., S. 27)

Die Geschichte der gesellschaftlichen Bearbeitung von HIV/Aids wurde in der Diskussion um das Konzept reflektiert. Was Strukturelle Prävention für die Beteiligten inhaltlich bedeutete, hatte sich nicht grundsätzlich geändert, wenngleich die praktische Umsetzbarkeit und strategische Bedeutung durchaus umstritten waren und sich auch mit der Zeit aus Sicht einiger Akteur:innen gewandelt hatten. Diese Verschiebungen liegen daran, dass sich auch der Status von HIV/Aids als Krankheit und damit die politischen Konfliktthemen verändert haben. Dass sich die Funktion, die die Strukturelle Prävention für den Verband einnimmt, wandelte, zeigt auch ein Blick auf das Jahr 2010.

6.2 Weitere Professionalisierung oder Krise der Strukturellen Prävention? (2010)

Etwas mehr als eine Dekade später veröffentlichte die Organisation erneut einen Sammelband, der sich dem Thema Strukturelle Prävention widmet (Drewes und Sweers 2010b). Wenn man diese Publikation mit den Stellungnahmen der späten 1980er- und 1990er-Jahre vergleicht, sieht man klare Kontinutitäen des Konzepts. So betonen die Autor:innen beispielsweise die Wichtigkeit von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für Gesundheit. Dennoch hat der Band einen anderen Charakter als etwa der Sammelband aus dem Jahre 1998, was sich u. a. in der Hauptstoßlinie zeigt, die auf fachliche Anschlussfähigkeit zielt. Beweggrund der Herausgeber Jochen Drewes und Holger Sweers scheint hier vor allem die mangelnde Anerkennung der Konzeptarbeit der DAH in den etablierten Gesundheitswissenschaften zu sein. So stellen Drewes und Kollegen etwa fest: „Das Konzept der Strukturellen Prävention – im Verständnis der DAH – ist in der Fachliteratur kaum bekannt, und aufseiten der DAH wird nur selten auf entsprechende gesundheitswissenschaftliche Erkenntnisse Bezug genommen.“ (Drewes et al. 2010, S. 25) Der Band setzt die eigenen Konzepte also mit anderen fachlichen Konzepten in Verbindung. Er verweist auf den angelsächsischen Diskurs und das Konzept der „structural interventions“, welches sich als gewinnbringender Anknüpfungspunkt erweise (ebd.). Dieser Argumentation entsprechend beinhaltet der Band an prominenter Stelle einen Beitrag zu strukturellen Interventionen (Blankenship et al. 2010). Aber auch andere Konzepte, wie das der Vulnerabilität (Sander 2010), der „Makrodeterminanten sexueller Gesundheit“ (Lottes 2010) oder des Empowerments (Kraschl et al. 2010), werden ausgeführt und mit Struktureller Prävention in Verbindung gesetzt. Dabei ist auffällig, dass es sich zwar um Konzepte handelt, die die Bedeutung des Sozialen in Gesundheitsfragen betonen, aber gleichzeitig an wissenschaftliche Diskurse anschließen, die sich von den politischen Positionierungen und Stellungnahmen der 1990er-Jahre unterscheiden.

Kritische Beiträge verweisen etwa auf den neoliberalen Charakter des Konzepts der Gesundheitsförderung (Schmidt 2010) oder das Ende der Strukturellen Prävention angesichts der Biomedikalisierung von HIV – und damit auf das Ende von sozialwissenschaftlich fundierter, mithin gesellschaftsbezogener Prävention. Auch wird die Krise der Strukturellen Prävention als Verlust eines ‚sense of community‘, also genau dieser politisierten Solidarisierung unterschiedlicher Betroffener untereinander, gedeutet (Langer 2010). Diese Kritik scheint jedoch eher randständig und wird (innerhalb des Bandes) nicht breit diskutiert. Insgesamt findet eine Ausdifferenzierung und Erweiterung der Autor:innenschaft um zuvorderst wissenschaftliche Beiträge statt. Konflikte innerhalb des Verbandes (etwa um die Stellung einzelner Gruppen im Verband) oder Konflikte mit politischen Gegner:innen werden dagegen nicht benannt. Letztere werden anekdotenhaft als Teil der Konzeptgeschichte erzählt (bspw. Drewes und Sweers 2010a; Drewes et al. 2010; Ewers 2010). So wird regelmäßig die Entstehung der Strukturellen Prävention auf die kämpferischen Auseinandersetzungen Ende der 1980er zurückgeführt, deren „emanzipatorischer Drive“ die Präventionsarbeit bis heute motiviere (Drewes und Sweers 2010a, S. 7). Hier wird also ein Narrativ der gelungenen Brücke von politischen Kämpfen zu professioneller Präventionsarbeit entworfen. Die noch in den 1990er-Jahren wahrnehmbaren Komplexitäten und Widersprüche sind nicht mehr präsent, während die Herkunftsgeschichte mit den politischen Auseinandersetzungen Ende der 1980er-Jahren verbunden wird. Unserer Deutung nach hat auch diese Erzählung eine Funktion: Sie hält die eigene Identität einer für Emanzipation streitenden Organisation aufrecht, welche hier nun vor allem im Kontext der Gesundheitswissenschaften in Stellung gebracht werden soll.

7 Fazit

Die Deutsche Aidshilfe entwarf in den 1980er- und 1990er-Jahren Präventionsstrategien, die sowohl epidemiologisch wirksam als auch emanzipatorisch bedeutsam sein sollten. Mit dieser doppelten Zielsetzung begab sie sich in die besondere Rolle einer Grenzgängerin zwischen politischem Aktivismus und Eindämmung einer Infektion in Zusammenarbeit mit staatlichen Akteur:innen. In diesem Kontext erlangte das Konzept der Strukturellen Prävention, mit dem die Deutsche Aidshilfe ihr Vorgehen theoretisierte, große Bedeutung. Es verband gesundheitswissenschaftliche Konzepte mit Anliegen der Neuen Sozialen Bewegung, um institutionalisierte Gesundheitsdiskurse von innen heraus zu verändern. Insbesondere gegenüber dem HIV-Aktivismus und der Schwulenbewegung musste die Deutsche Aidshilfe ihre Arbeit legitimieren, gleichzeitig knüpfte sie an institutionalisierte Gesundheitsdiskurse an. Die Deutsche Aidshilfe eignete sich den bis dahin rein medizinisch geprägten Begriff der Prävention an und erweiterte ihn um eine gesellschaftskritische, emanzipatorische und sozialwissenschaftliche Perspektive. Die Stärkung von Angehörigen marginalisierter Gruppen und ihrer Subkulturen sowie die Entkriminalisierung von Drogengebrauchenden oder Menschen mit HIV, der Abbau von sozialer und rechtlicher Diskriminierung gehörten somit ebenso zum präventiven Arbeiten wie die Vermittlung von lebensweltnahen, (auch Risikoverhalten) akzeptierenden Präventionsbotschaften. Insbesondere die Perspektiven von Menschen mit HIV/Aids zu stärken, stellte ein zentrales Motiv dar. Dabei stand die DAH in der Tradition der Sozialmedizin und der Gesundheitsbewegung, welche die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit thematisierten, und setzte damit ein Gegengewicht zu medikalisierten Gesundheitsverständnissen. Hilfreich war dabei ohne Frage, dass sich im internationalen Kontext umfassendere Vorstellungen von Gesundheit, etwa im Konzept der Gesundheitsförderung und im Rahmen der Ottawa-Charta der WHO, durchzusetzen begannen.

Die Transformation des Gesundheitsdiskurses, ein strategisches Ziel der Autor:innen des Konzeptes der Strukturellen Prävention, erscheint im Kontext von HIV/Aids großenteils gelungen zu sein. Nicht nur konnten seuchenpolizeiliche Methoden erfolgreich abgewehrt werden, auch alternative Präventionsansätze sowie die nichtstaatliche Durchführung präventiver Arbeiten wurden umgesetzt. Wie erfolgreich dies politisch war, zeigt sich auch an der kontinuierlichen staatlichen Finanzierung des Dachverbandes der Aidshilfen seit 1985. Darüber hinaus können die relativ niedrigen Infektionszahlen in Deutschland als Beleg dafür angeführt werden, dass dieses international hervorstechende Modell auch epidemiologisch wirksam war, wie sich an den im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern relativ niedrigen Prävalenzen zeigt (Wright und Rosenbrock 2012, S. 203; RKI 2022). Das Konzept der Strukturellen Prävention konnte also zum Teil eine Brücke zwischen sozialen Welten schlagen: den Hauptbetroffenengruppen, den sozialen Bewegungen und der institutionalisierten Gesundheitspolitik. Ob dies ausreichend gelungen sei oder nicht, wurde innerhalb der Organisation aber auch kritisch diskutiert. Nicht alle sahen die emanzipatorischen und die fachlichen Ansprüche gleichermaßen umgesetzt oder umsetzbar. Zu unterschiedlich seien die Logiken und Zugzwänge einer institutionalisierten Hilfeinstitution und die Ansprüche einer politischen Selbsthilfeorganisation. Auch die Frage, inwiefern die Interessen unterschiedlicher Gruppen mit dem Konzept der Strukturellen Prävention erfüllt werden konnten, war umstritten. In der historischen Betrachtung des Konzepts lässt sich schließlich eine Akzentverschiebung hin zu einem stärker fachlich orientierten, die politischen Konflikte weniger betonenden Konzept beobachten. Deshalb muss die Frage offenbleiben, inwiefern die Brücke nicht doch eher ein Spagat war, der sich in der Praxis weniger bewährte als auf dem Papier. Wenngleich das Programm der Strukturellen Prävention der Organisation half, auf unterschiedlichen Gewässern zu navigieren und unterschiedliche Interessen zu verbinden, scheinen die Widersprüche nicht aufgehoben.