Mit dem 800 Seiten starken Werk versuchen die beiden Herausgeber:innen, der Soziologe Peter Kriwy und die Soziologin Monika Jungbauer-Gans, verschiedene theoretische Perspektiven und Zugänge zur Gesundheitssoziologie abzubilden. Unterstützt werden sie in ihrem Vorhaben durch die Expertise von über siebzig Autor:innen, von denen die überwiegende Mehrheit einen soziologischen, medizinischen oder medizinsoziologischen Hintergrund haben oder gar in den Gesundheitswissenschaften zu Hause sind. Das Handbuch ist unterteilt in acht Hauptkapitel, in denen sich einzelne Beiträge zu den Kapitelüberschriften Gesundheit, Gesundheitssoziologie, Ungleichheit und Gesundheit, Lebensverlaufsperspektive, Gesundheitsorganisationen, Regionale Gesundheit, Gesundheitssystem sowie Gerechtigkeit und Gesundheit wiederfinden. Das Handbuch enthält teilweise hochaktuelle Forschungsergebnisse zur sozialen Ungleichheitsforschung und bietet einen sehr guten Überblick über diesen speziellen Teil der Gesundheitssoziologie.

Gleich das erste Kapitel soll die Frage klären, „was“ Gesundheit eigentlich ist. Damit begeben sich die Herausgeber:innen in eine Diskussion, die nicht einmal von den Gesundheitswissenschaften bislang hinreichend geklärt ist, denn in der Gesellschaft ist nun einmal Krankheit die erzählenswerte Sensation, die es zu heilen und vor der es sich zu schützen gilt. Der Gesundheitsbegriff bleibt selbst im sogenannten Gesundheitssystem eher inhaltsleer und gibt anscheinend eher wenig zu denken auf. Die von den Autor:innen im ersten Kapitel diskutierten Versuche, Gesundheit zu fassen, gehen daher auch eher von pathogenetischen Ansätzen des Medizinsystems aus, als dass sie auf praxeologische Ansätze (Reckwitz und Rosa 2021) eines „doing health and illness“ verweisen. Hier fehlen z. B. Hinweise auf die Arbeiten von Canguilhem (2013) oder die von Cornelius Borck, der zu dem Schluss kommt, dass „Gesundheit […] kein Gegenstand der Medizin [ist]“ (Borck 2016, S. 69). Dementsprechend wird in diesem ersten Kapitel auch sehr schnell in einer eher rationalistischen Manier nach „Messinstrumenten“ gefragt, um jene Kontingenzschließung zu beschleunigen, auf die sich jedwede Forschung zum Thema Krankheit und Gesundheit nun einmal einlassen muss. Die Frage nach den Messinstrumenten bleibt auch nach wie vor ein richtiger und wichtiger Schritt in diesem Bereich, nur kann eine soziologische Bearbeitung des Gesundheits- und Krankheitsbegriffs eben nicht ohne einen Blick auf das Subjekt auskommen, bei dem mit mehr Ambivalenz zu rechnen ist, als sich im Wissenschaftsbetrieb aushalten lässt. Ansatzweise – aber gemessen am Gesamtumfang der Beiträge in diesem Handbuch in keiner Weise ausreichend – wird die Problematik dieses „doing singularity“ (Reckwitz und Rosa 2021) wenigstens in der Arbeit von Schübel (S. 13–30) sehr gut verdeutlicht. Dass sich dann aber die „Methoden“ der Gesundheitssoziologie derart einseitig auf das Spektrum der quantitativen sozialepidemiologischen Forschung beschränken sollen, ist nur schwer einzusehen. Leider bieten das Handbuch nur sehr wenige qualitative Forschungsergebnisse an. Wie wichtig diese Forschungsmethode aber für einen soziologischen Ansatz innerhalb der Gesundheitsforschung ist, zeigt der sehr gute Beitrag von Schaeffer und Hämel zu den Kooperativen Versorgungsmodellen (S. 463–480).

Insgesamt liegt der thematische Schwerpunkt des überwiegenden Teils der Beiträge in dem vorliegenden Handbuch im Bereich der Forschung zur sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit. Hierzu liefern einzelne Autor:innen – das sei hier noch einmal betont – bedeutsame und wichtige, aktuelle Forschungsergebnisse. Aus Sicht der Gesundheitswissenschaften wirkt der Nachweis des Sachverhalts aber eher anachronistisch, denn speziell dieser Zusammenhang war bereits vor hundert Jahren „dem Sozialpolitiker, dem Volkswirt, dem Arzt geläufig“ (Mosse und Tugendreich 1913, S. 21). Man mag die empirischen Methoden der damaligen Zeit aus heutiger Sicht zurecht kritisieren, nur waren die Ergebnisse der engagierten und sehr umfangreichen Recherchen von Mosse und Tugendreich nun einmal die Gleichen wie heute mit dem einzigen Unterschied, dass Mosse und Tugendreich sich trauten, daraus eine „schwere Anklage gegen […] die Gesellschaft“ zu formulieren, die der „Gesellschaft eine grosse und ernsthafte Pflicht“ auferlegte (ebenda S. 21). Derart kritische Urteile und Forderungen an die Gesellschaft der Spätmoderne sind im vorliegenden Handbuch sehr sparsam gesät. Auffällig ist aber auch, dass Forschungsbemühungen wie sie Tiesmeyer et al. (2008) auf den Weg gebracht haben, um das Versorgungssystem selbst nach seinem Anteil an gesundheitlicher Ungleichheit zu befragen, innerhalb des Handbuchs gänzlich fehlen. Das irritiert vor allem deshalb, weil international dieser Umstand zumindest für den Bereich der Arzt-Patient:innen-Kommunikation durchaus als gesichert gilt (Willems et al. 2005; Verlinde et al. 2012).

Überhaupt wird das Thema Gesundheitskommunikation fast vollständig ausgespart. Es taucht eher verhalten bei Petzold & Bahrs (S. 89–116) auf, wird von Lenartz, Soellner& Rudinger im Bereich Health Literacy thematisiert (S. 275–292), findet eine eher funktionalistische Interpretation bei Dockweiler & Hornberg (S. 337–356) und erhält erst bei Schaeffer & Hämel (S. 463–480) und im Zusammenhang mit dem Thema Führung und Gesundheit bei Gregersen, Vincent-Höper, Schambortski & Nienhaus (S. 559–582) eine angemessene Würdigung. Dieses Fehlen des gesamten Bereichs der Gesundheitskommunikationsforschung wiegt auch deshalb schwer, weil der Gründungsgedanke der Soziologie selbst eben genau an diesem Miteinander der Menschen, ihren Beziehungen zueinander und ihrem Zeichenaustausch (Durkheim 1976) gelegen war. Bei Simmel erfahren wir dann das erste Mal, dass die menschliche Gemeinschaft aus einzelnen Individuen besteht, die in „gegenseitigen dynamischen Beziehungen stehen“ (Simmel 1989, S. 129). Bereits wenige Jahrzehnte nach der Gründungsphase der Soziologie wurde mehr als deutlich, dass es zwischen dem Sozialen, dem Miteinander der Menschen also, und ihrem Leben und Überleben selbst ein geradezu existenzieller Zusammenhang besteht. Und Dewey (1916) bringt dann als einer der ersten einen Begriff von Kommunikation ins Spiel, der für ihn unmittelbar auf den sehr ambivalenten Endloshorizont der Gesellschaft auf der einen und das Überleben des Individuums auf der anderen Seite verweist. Schaut man sich die Arbeiten von (Mead 1968, S. 184), von (Buber 1995, S. 4) und später von Watzlawick et al. (1967) an, dann lässt sich der Zusammenhang von Kommunikation auf der einen und dem Entstehen und Vergehen von Gesundheit und Krankheit auf der anderen Seite nur noch sehr schwer verleugnen. Die Pflegewissenschaft hat dieses Fehlen der Beschäftigung mit dem Thema Kommunikation bereits seit längerem erkannt und das Thema „Beziehungsgestaltung durch Kommunikation“ zu einem der Kernelemente der neuen Pflegeausbildung gemacht (Darmann-Finck 2021). Und dort, wo in der Pflege von Demenzerkrankten der eher funktionalistische Ansatz von Kommunikation als Informationsübermittlung nun so ganz und gar nicht mehr greift, hat selbst das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege zum Thema Beziehungsgestaltung einen eigenen Expertenstandard veröffentlicht (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege 2019).

Das Handbuch kommt ebenfalls ohne die wichtigen gesundheitswissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Thema Arbeit und Gesundheit (Ehresmann 2017) oder Schule und Gesundheit aus (Prengel 2019). Führt man sich vor Augen, dass nach den Untersuchungen von Annedore Prengel (2019) mehr als 20 % aller Interaktionen, die von den Lehrkräften an deutschen Schulen in Richtung der Schülerinnen und Schüler inszeniert werden, unter das Label „verbale Gewalt“ zusammengefasst werden müssen, dann wirkt das Fehlen der gesamten Gewaltproblematik – sei es nun körperliche, verbale, psychische, sexualisierte oder spirituelle Gewalt – in einem Handbuch, das sich um soziologischen Aspekte und ihrer Verknüpfung mit Themen von Gesundheit und Krankheit bemüht, eher bedrückend. Babitsch, Götz & Zeitler sind mit ihrem sehr guten Beitrag zum Thema Gender und Gesundheit (S. 215–234) in diesem Handbuch die Einzigen, die eine stärkere Berücksichtigung der Problematik in der gesundheitswissenschaftlichen Forschungslandschaft fordern.

Das Handbuch selbst ist damit leider kein „Handbuch“ im engeren Sinne. Dafür bietet es keinen ausreichend umfassenden Überblick über die gesamte Spannbreite der Theorie und Praxis, die das Thema Gesundheit bieten könnte, und es bearbeitet keine jener notwendigen soziologischen Theorien, die es wert gewesen wären, dass sie nach ihrer Bedeutung für das Entstehen und Vergehen von Krankheit und Gesundheit befragt werden. Dass ein solches Vorhaben als Handbuch eine ganz andere Größenordnung angenommen hätte und u. U. in einem einzigen Werk nicht zu leisten gewesen wäre, sei den Autor:innen zu Gute geschrieben. Dieser Sachverhalt wird auch im Beitrag von Gerlinger zu den theoretischen Perspektiven der Gesundheitssoziologie (S. 117–136) kritisiert, wenn er schreibt, dass die „Gesundheitssoziologie an einem Mangel an Theorien“ (S. 117) leidet und sich auch eher selten auf „Gesellschaftstheorien“ (Vogd 2011 zit. n. Gerlinger 2020, S. 124) bezieht. Dennoch fallen mit Bezug auf das vorliegende Handbuch ein paar Details auf, die für zukünftige Arbeiten berücksichtigt werden könnten.

Die einzelnen Autor:innen selbst gehen sehr sparsam damit um, ihre Forschung durch gegenwärtige soziologische Theorien abzusichern oder wenigsten ansatzweise zu diskutieren. Das ist umso erstaunlicher, da Andreas Reckwitz in den letzten Jahren für die Soziologie gleich eine ganze Reihe von Blaupausen für solch eine Art von Arbeit vorgelegt hatte (Reckwitz 2012, 2017, 2019). Systemtheoretische Ansätze sind ebenso wenig zu finden wie strukturfunktionalistische oder gar sozialkonstruktivistische Theoriegebäude. Einzelne zaghaft Verweise auf Niklas Luhmann beziehen sich aber mehr auf riskante Lebenswelten, als dass sie die Systemtheorie als einen Ankerpunkt für die vorgestellten Beiträge verwenden. Rückbezüge auf Foucaults Theorie der Gouvernementalität, auf seine kritischen Arbeiten zur Wirksamkeit von Diskursen in der Gesellschaft fehlen ebenso wie sein genealogischer Ansatz (vgl. Sarasin et al. 2007; Sarasin 2016). Einzelne Autor:innen gehen zwar von der grundsätzlichen sozialen Konstruiertheit der Begriffe Krankheit und Gesundheit oder auch der Lebenswelten aus, jedoch findet eine kritische Auseinandersetzung mit sozial-konstruktivistischen Theorien, mit epistemologischen oder mit wissenschaftstheoretischen Fragen der Gegenwart in diesem Handbuch nicht statt. Auch die Arbeiten von Bruno Latour (2017), dem es als einen der wenigen Soziologen der Gegenwart gelungen ist, traditionelle rationalistische Konzepte mit interaktionistischen und diskurstheoretischen Theoremen derart zu verbinden, dass sie direkt mit Themen der globalen Gesundheit vernetzt werden können, finden im Handbuch leider keinen Niederschlag. Das Zeitalter der Moderne ist eben „mehr als eine Rationalisierungsmaschine, sie ist Schauplatz einer radikalen Kulturalisierung des Sozialen, einer Ästhetisierung, einer Narrativierung, Ethisierung und Ludifizierung etc.“ (Reckwitz und Rosa 2021, S. 80). Im anglo-amerikanischen Sprachraum hat diese Kulturalisierung des Sozialen seit mehr als 15 Jahren bereit das Gesundheitswesen unter dem Label „Health Humanities“ (Crawford et al. 2020) oder „Medical Humanities“ (Atkinson et al. 2015) erreicht. Von dieser neuen kultur- und sozialwissenschaftlichen Bearbeitung der Themen „health and illness“, die wie selbstverständlich den sehr engen Kanon der Disziplinen der Gesundheitswissenschaften um die Kulturwissenschaften, die Kunst‑, Musik- und Theaterwissenschaften, die Anthropologie, die Architektur und die Archäologie zu erweitern versucht, ist der gegenwärtige gesundheitssoziologische Diskurs im deutschsprachigen Raum leider noch sehr weit entfernt.

Die gesellschaftlichen Mechanismen der Ausgrenzung, der Stigmatisierung und der sprachlichen Gewalt, mit der diese Exklusionen vorangetrieben werden, sind nur an einer einzigen Stelle thematisiert. Dabei hatte einer der weltweit führenden Forscher zur soziale bedingten gesundheitlichen Ungleichheit, Richard G. Wilkinson (2004), in einem bemerkenswerten Aufsatz mehr als deutlich darauf hingewiesen, dass auf der Seite des Individuums die Gefühle von Scham, Angst oder Hilflosigkeit innerhalb der Ungleichheitsforschung zwar hinreichend untersucht worden sind, die gesellschaftlichen, aktiv durch die Sprache hervorgebrachten Akte der Beschämung, der Demütigung und der Zurückweisung selbst aber in den letzten Jahrzehnten eher vernachlässigt wurden.

Alles in allem versucht das Handbuch insgesamt noch zu sehr an der etwas unglücklichen „Feldherren-Perspektive“ festzuhalten, ohne dass das Problem der Beobachter:innen 2. Ordnung auch nur annähernd mit zur Disposition gestellt wird. Das macht es zwar zu einem wertvollen Übersichtsband zur Problematik der sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit. Eine moderne, zukunftweisende und mutige Richtschnur für ein gesundheitsförderndes Handeln einer Gesellschaft, die sich das Nachdenken über ein gemeinschaftliches Leben und Überleben zur Aufgabe gemacht hat, findet man in dem Handbuch dagegen nur sehr vereinzelt zwischen den Zeilen.