Die Epoche der Modernisierung der europäischen Psychiatrie zwischen 1870 und 1930 hat in den letzten zehn Jahren im Mittelpunkt zahlreicher historischer Untersuchungen gestanden. In seinem lang erwarteten Buch Psychiatrische Ordnung in Gefahr legt Heinz-Peter Schmiedebach nun einen kulturhistorisch akzentuierten Überblick vor. Als ehemaliger Direktor des Medizinhistorischen Instituts der Universität Hamburg und Inhaber der Stiftungsprofessur für Medical Humanities an der Charité Berlin zwischen 2015 und 2017 ist der inzwischen emeritierte Verfasser als ausgesprochen produktiver Autor und Forschungsorganisator bekannt. In welchem Kontext bewegt sich seine neue Publikation?

Der Boom von Studien zur Modernisierung der Psychiatrie im deutschen Kaiserreich entsprang sowohl Projekten zur Militärpsychiatrie im einhundert Jahre zurückliegenden 1. Weltkrieg (z. B. zuletzt Gahlen et al. 2020) als auch dem Interesse an den institutionellen und konzeptionellen Transformationen der Psychiatrie im beginnenden 20. Jahrhundert. Richtungsweisend war ab 2008 das DFG-Projekt Kulturen des Wahnsinns (1870–1930), als dessen stellvertretender Sprecher Schmiedebach fungierte. Als Mitherausgeber der entsprechenden Buchreihe präsentierte er 2012 zusammen mit Volker Hess erste Ergebnisse in dem Sammelband Am Rande des Wahnsinns (Hess und Schmiedebach 2012) und gab 2016 den Tagungsband Entgrenzungen des Wahnsinns heraus (Schmiedebach 2016). Cornelius Borck und Armin Schäfer schufen 2015 mit dem Titel des ebenfalls aus jenem Verbundprojekt entstandenen Bands Das psychiatrische Aufschreibesystem ein Schlagwort zur Professionsgeschichte um 1900 (Borck und Schäfer 2015). Hans-Werner Schmuhl und Volker Roelcke publizierten 2013 aus internationaler Perspektive den komparativen Band Heroische Therapien (Schmuhl und Roelcke 2013) und David Freis thematisierte 2019 in Psycho-Politics Between the World Wars die Weimarer Republik (Freis 2019).

Schmiedebach selbst hat also die Forschungslandschaft zur Modernisierung der Psychiatrie nach 1900 in der letzten Dekade maßgeblich mitgeprägt. Entsprechend hoch könnten die Erwartungen an sein neues Buch sein. Wie geht er nun vor? Psychiatrische Ordnung in Gefahr kommt als erster Band der neuen Reihe „Medical Humanities“ im Schwabe Verlag, umfasst samt Personenregister 406 Seiten und ist in sieben inhaltliche Kapitel gegliedert. Der Untertitel „Irrenanstalten“ um 1900 im Blick von Öffentlichkeit und Literatur stellt den Fokus scharf auf einerseits typische strukturelle Veränderungen in den Anstaltswelten und anderseits die (medialen) Resonanzen in Öffentlichkeit und Kunst. Die einleitenden methodologischen Bemerkungen führen über die Diskussion klassischer historiographischer Standpunkte (u. a. Goffman, Foucault, Castel, Rheinberger) zur Bestimmung der Anstalt als ein „epistemisches Objekt“ (S. 12) mit vielfältigen Binnenstrukturen und Beziehungen zu Gesellschaft, Politik und Kultur. Mit einem erweiterten Kulturbegriff wird die „Irrenanstalt“ als festgefügte Entität in Frage gestellt und demgegenüber ihre „Polytopie“ mit mehrschichtigen Ordnungsstrukturen betont (funktionell, interaktionell, kommunikativ, wertend). Die terminologische Reflexion stellt – wie in der neuesten Psychiatriegeschichtsschreibung üblich – den Begriff des „Wahnsinns“ in den Mittelpunkt und lehnt retrospektive Diagnostik ab, zumal soziale Aushandlungsprozesse und nicht Diagnosen oder individuelle Eigenschaften den Gegenstand der Untersuchung bilden sollen. Allerdings bleibt die Funktion von Anstalten als Beobachtungsräume für Forschung und psychopathologische Theoriebildung weitgehend ausgeklammert. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Schmiedebach die Insassen dann doch sehr häufig als „Kranke“ identifiziert, ohne die medikalisierende Zuschreibung systematisch einzuschränken.

Unter diesen Voraussetzungen setzt das zweite Kapitel im frühen 19. Jahrhundert an und folgt traditionellen Motiven der Professionsgeschichte ab Philippe Pinel (Gründerfigur, um 1800) bis John Conolly („Non-restraint“-Behandlung, um 1850). Dem folgen Analysen einiger Anstaltstypen im 19. Jahrhundert: das rigorose Disziplinarregime eines Ernst Horn (1774–1848) an der Berliner Charité, die patriarchal durchorganisierte Privatanstalt von Heinrich Laehr (1820–1905) in Berlin, das sozialmedizinische Konzept des „Stadtasyls“ von Wilhelm Griesinger (1817–1868) und schließlich die Expansion von Hamburg-Langenhorn zur Großanstalt nach 1900. Schmiedebach gelingt es, sowohl Familienpflege als auch landwirtschaftliche Kolonien mit einzubeziehen und belegt damit in Auseinandersetzung mit Foucault („Heterotopie“) die „funktional differenzierte Polytopie“ (S. 64) der Anstaltswelten samt den zentralen Ordnungsfunktionen von Arbeit und Arbeitsfähigkeit. Dieser Befund wird im dritten Kapitel für den Institutionstyp des militärpsychiatrischen Lazaretts im 1. Weltkrieg fruchtbar gemacht, indem Schmiedebach im Zuge einer akribischen Analyse der Anstalt München-Eglfing und von Sonderlazaretten des 1. Bayerischen Armeekorps die These entwickelt, dass differenzierte Arbeitszuweisungen in den Lazaretten die Soldaten mit einer Art „industrieller Arbeitssozialisation im modernen mechanisierten Krieg“ (S. 145) vertraut gemacht hätten.

Im vierten und fünften Kapitel geht die Darstellung zur Position der Anstalten im öffentlichen Raum über, der nach 1900 bereits von moderner Massenkommunikation geprägt ist und damit auch die Artikulation einer von ehemaligen Patienten und Patientinnen initiierten Gegenöffentlichkeit ermöglichte. Beide Kapitel bilden auf über 120 Seiten ein Herzstück des Bandes. Das öffentliche „Misstrauen“ gegenüber dem Anstaltswesen im Kaiserreich, die politischen Auseinandersetzungen im Reichstag über die Defizite des damaligen Irrenrechts, die Publikation zahlreicher Protestbroschüren und Bücher aus der Hand ehemaliger Patientinnen und Patienten, ihre Selbstorganisation im Bund für Irrenrechts-Reform und Irrenfürsorge ab 1909, ihre defensive Diffamierung durch Psychiater als „antipsychiatrisch“ und das Scheitern einer legalistischen Reform des Unterbringungsrechts 1924 sind zwar durch Einzeluntersuchungen gut bekannt, wurden aber bisher noch nicht so umfangreich und systematisch bearbeitet. Der Autor übersieht zwar sowohl die internationale Verbreitung der Psychiatriekritik in Mittel- und Nordeuropa zwischen 1870 und 1920 als auch deren Qualität als frühe soziale Bewegung im Kaiserreich, dennoch sind die mit Einzelstudien vertieften Analysen der öffentlichen Konflikte über medicolegale Machtstrukturen und die „Selbstermächtigungsstrategien“ (S. 227) der Aktivisten und Aktivistinnen besonders lesenswert.

Im sechsten Kapitel untersucht Schmiedebach Widerspiegelungen der „Irrenanstalt“ in der Literatur. Nicht das Verhältnis zwischen Kunst und Wahnsinn stehe im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie „Erscheinungen des Wahnsinns zwischen Publikum, Psychiatern, Behörden und schließlich auch Künstlern zum Thema gemacht wurden“ (S. 292). Dafür greift er zunächst die Psychopathologisierung expressionistischer Kunst auf, dann Oskar Panizzas (1853–1921) Gedicht Das Rothe Haus von 1886, das die Ambivalenz der Anstalt als restriktiven Freiraum auslote, sowie zwei Theaterstücke um 1910 und schließlich Heinrich Manns (1871–1950) sozial- und psychiatriekritischen Roman Die Armen von 1917 sowie Franziska zu Reventlows (1871–1918) psychoanalytisch beeinflusste Erzählung Der Geldkomplex von 1916 über das Milieu der Münchner Bohème. Die Textanalysen zeigen das Potenzial der Topoi „Irrenanstalt“ und „Wahnsinn“ als ästhetisch-sozialkritische Projektionsflächen.

In den Schlussfolgerungen des siebten Kapitels rundet der Autor den Band ab und bekräftigt, dass die „rekonstruierten unterschiedlichen Formen, Konstruktionen und Sinnzuweisungen der Irrenanstalt um 1900 keine geschlossene Geschichte dieser Organisationen“ ergeben, sondern ein facettenreiches, heterogenes und „vielseitiges Tableau“ (S. 365). Man hätte sich das zwar schon vorher denken können – aber Schmiedebach demonstriert und erhellt dieses Argument sehr überzeugend. Leider fehlen zwei wichtige Bereiche, zum einen die Dimension der Forschung und Psychopathologie, zum anderen „offene Fürsorge“ und Prävention („mental hygiene“) in der Weimarer Republik. Schließlich wirkt die zentrale Kategorie „Polytopie“ eher locker theoretisch verankert. Sie bleibt einerseits an Foucault orientiert, aber ohne dessen Konsequenz. Anderseits erlaubt sie zwar über den Stellenwert der Arbeit im Anstaltswesen auch sozialhistorische Fragestellungen, doch ohne systematischen Bezug auf Ebenen wie „Klasse“, „Gender“, „Körper“ oder „history of below“. Damit fällt ein weiterer Befund auf: Schmiedebach stützt sich umfassend auf Archiv- und Originalquellen, verwendet aber großenteils ältere Sekundärliteratur, ein Viertel davon wurde in den letzten zehn Jahren publiziert, nur ein Zehntel kommt aus den letzten fünf Jahren.

Psychiatrische Ordnung in Gefahr präsentiert jahrzehntelange Forschung zur Modernisierung der deutschen Psychiatrie um 1900 in einem einheitlichen Rahmen. Heinz-Peter Schmiedebach revidiert überkommene monolithische Vorstellungen über die „Irrenanstalten“ in dieser Epoche und öffnet ein differenziertes und anschauliches Panorama der Verknüpfungen zwischen Anstaltsmilieu, Ordnungsprinzipien, Insassen, Aktivisten und Aktivistinnen, Gesundheitspolitik, Öffentlichkeit und Kunstschaffenden.