1 Einleitung

Die hier beschrieben Untersuchung folgt dem Vorschlag der Arbeitsforschung, Berufe über jene Kompetenzen zu definieren, die zu ihrer Ausübung notwendig sind (vgl. Acemoglu und Autor 2011). Dies ermöglicht es, aus der Analyse von Berufskompetenzen-Verteilungen einer Region ein gewisses Bild der Beschäftigungsverhältnisse in dieser Region, einschließlich ihrer Entwicklungspotentiale, ihrer Spezifika und etwaiger Defizite zu zeichnen (Krömmelbein and Schmid 2000). Während ungleich verteilte Berufskompetenzen einerseits bestehende Strukturen sozialer Ungleichheit verfestigen können, andererseits aber der Erwerb neuer Berufskompetenzen auch die Möglichkeit bietet, diese Strukturen auf individueller Ebene zu durchbrechen (Autor 2014), hebt die ökonomische Humankapitaltheorie das Potenzial spezifischer Kompetenzen nicht nur für individuelle Einkommensverbesserungen hervor, sondern auch für die ökonomische Entwicklung einer Region (Hanushek und Woessmann 2008). Durch Investitionen in Weiterbildung und Umschulung kann eine Region wichtige Maßnahmen setzen, sollte aber gewahr sein, dass, weil bestimmte Kompetenzen bzw. Kompetenzbündel höher entlohnt werden als andere (Grundke et al. 2018; Deming 2017), nicht zielgerichtete Investitionen bestehende sozioökonomische Ungleichheiten verschärfen können anstatt sie auszugleichen.

In der ökonomischen Literatur werden die seit den 1980er-Jahren steigenden Lohnungleichheiten mit der Hypothese des sogenannten Skill-biased technological change bzw. auch mit der Hypothese des Routine-biased technological change erklärt (z. B. Acemoglu 2002; Goos et al. 2014). Es wird hierbei davon ausgegangen, dass manche Tätigkeiten durch neue Technologien ganz oder teilweise ersetzt werden können und somit Arbeitnehmer:innen in unterschiedlichem Ausmaß von technologischen Veränderungen betroffen sind (siehe auch Autor et al. 2003; Goos et al. 2014; Acemoglu und Autor 2011). Für Österreich finden sich hierzu empirische Befunde, die eine vermehrte Nachfrage nach höher-qualifizierten/entlohnten Berufen (Hofer et al. 2017; Zilian et al. 2021), sowie eine Verschiebung der Beschäftigungsverhältnisse mit einem Rückgang von Berufen mit manuellen Tätigkeiten und einer Zunahme von Berufen mit nicht-manuellem Tätigkeitsschwerpunkt zeigen (Bock-Schappelwein und Friesenbichler 2019). Wandelnde Anforderungen im Beruf können somit zu einer Herausforderung für Arbeitnehmer:innen werden, der durch gezielt geschaffene Möglichkeiten zur Anreicherung des Kompetenzportfolios begegnet werden kann. Um diese Möglichkeiten effizient zu gestalten, bedarf es freilich eines genauen Bildes der Kompetenzenverteilung einer Region.

Die vorliegende Untersuchung zieht eine netzwerkbasierte Methode zur Analyse solcher Berufskompetenz-Landschaften und ihrer Potenziale heran und wendet sie auf das Beispiel der Steiermark an.

Dazu erstellen wir zunächst aus Berufen und Kompetenzen, die wir aus der allgemeinen Klassifikation für europäische Berufe, Fähigkeiten und Qualifikation (ESCO) ableiten, ein so genanntes bipartites Netzwerk, also ein Netzwerk dessen Verbindungen sich über zwei Arten von Knoten definieren, einerseits Berufe, die dieselben Kompetenzen erfordern und andererseits Kompetenzen, die für dieselben Berufe erforderlich sind (siehe Abb. 2). Mit netzwerkbasierten Analysemethoden werden sodann Kompetenzcluster identifiziert, also Gruppen von Kompetenzen, die häufig gemeinsam für die Ausübung eines Berufes benötigt werden. Wir folgen hierbei Alabdulkareem et al. (2018) zur Identifikation von komplementären Kompetenzen, d. h. von Kompetenzen, die häufig gemeinsam in Berufen vorkommen (siehe Abschn. 3.2.) und damit auch als Brücken zwischen diesen Berufen fungieren können, also als Bindeglieder, entlang derer sich für die Praxis zum Beispiel Umschulungsmöglichkeiten andeuten. Zu dieser Identifikation wird die Netzwerktheoretische Maßzahl Betweenness Centrality (Borgatti 2005; Newman 2010) herangezogen, mit der sich die spezifische Relevanz eines Bindegliedes quantifizieren lässt.

Die vorliegende Schrift gliedert sich wie folgt: Abschn. 2 beschreibt die ESCO-Klassifizierung, die für diese Untersuchung verwendet wurde. Abschn. 3 erläutert das methodische Vorgehen im Detail, erklärt den mathematischen Apparat und diskutiert die Reichweite der angewandten Methode, und Abschn. 4 präsentiert die Ergebnisse, die die Untersuchung in Bezug auf die steirische Berufslandschaft erbracht hat. Abschn. 5 fasst die Untersuchung abschließend zusammen und diskutiert die Ergebnisse. Die Appendices A und B listen weitere Details zu den generierten Daten und Ergebnissen auf.

2 ESCO-Klassifizierung von Berufen

Für unsere Untersuchung arbeiten wir mit zwei unterschiedlichen Datengrundlagen: (i) mit der Klassifikation für europäische Berufe, Fähigkeiten und Qualifikation (ESCO) und (ii) mit der Mikrozensuserhebung der Statistik Austria für die Jahre 2017 bis 2019. Die ESCO-Klassifizierung wurde 2017 von der Europäischen Kommission in Kooperation mit dem Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) und relevanten Stakeholdern entwickelt. Sie wird laufend erweitert und verbessert. In der vorliegenden Untersuchung arbeiten wir mit der Version ESCO V 1.0.5. Sie bietet eine detaillierte Beschreibung von 2942 Berufen sowie der für die Ausübung eines Berufes benötigten Fähigkeiten bzw. KompetenzenFootnote 1 und Kenntnisse. Hierbei wird unterschieden, ob eine Kompetenz bzw. Kenntnis für die Ausübung eines Berufes essentiell (grundlegende Kompetenzen bzw. Kenntnisse) oder optional (fakultative Kompetenzen bzw. Kenntnisse) ist. Beispielsweise werden dem Beruf „Soziolog:in“ elf grundlegende Kompetenzen (z. B. „Daten sammeln“), drei grundlegende Kenntnisse (z. B. „Soziologie“), 14 fakultative Kompetenzen (z. B. „Beratung zum Organisationsklima leisten“) und 13 fakultative Kenntnisse (z. B. „Anthropologie“) zugewiesen (siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Beispiel eines Berufes dargestellt auf der Homepage der ESCO – Klassifizierung. (Quelle: ESCO – Berufe – Europäische Kommission (europa.eu))

Jede Kompetenz kann einem der folgenden Kompetenzbereiche zugeordnet werdenFootnote 2:

Arbeiten mit Computern; Arbeiten mit Maschinen und Spezialausrüstungen; Bau; Einstellung; Handhabung/Transport und Bewegung; Informationskompetenzen; Kommunikation, Zusammenarbeit und Kreativität; Managementfähigkeiten; Unterstützung und Pflege; Werte, Sonstiges

Die in der ESCO-Klassifizierung erfassten Berufe können als hierarchisch niedrigste bzw. detaillierteste Ebene der internationalen Standardklassifikation von Berufen (ISCO-08 Klassifizierung) betrachtet werden. Jeder ESCO-Beruf kann somit einer der 436 Berufsgattungen (ISCO 4 Steller), 130 Berufsuntergruppen (ISCO 3 Steller), 43 Berufsgruppen (ISCO 2 Steller) und 10 Berufshauptgruppen (ISCO 1 Steller) zugeordnet werden. Durch diese hierarchische Beziehung lassen sich im Mikrozensus erhobene Kennzahlen in die Untersuchung einbeziehen. Die Mikrozensuserhebung der Statistik Austria erfasst jährlich u. a. die Anzahl der Beschäftigten nach ISCO 3 bzw. 2 Steller je Bundesland, wodurch die Untersuchung räumlich und zeitlich eingegrenzt werden kann.

3 Methodisches Vorgehen

3.1 Datengrundlage

Die Datengrundlage für diese Untersuchung bildet die im vorigen Abschnitt beschriebene ESCO Klassifizierung und die Mikrozensuserhebung der Statistik Austria. Die Mikrozensuserhebung wird österreichweit jährlich als Stichprobe von 22.500 privaten Haushalten (Wohnungen) je Quartal erhobenFootnote 3 und umfasst die Arbeitskräfte- und Wohnungserhebung. In der Arbeitskräfteerhebung werden unter anderem Daten zum Erwerbsstatus nach Beruf, die als zweite Datengrundlage in die Untersuchung miteinfließen, erfasst. Hierbei werden Erwerbstätige nach dem Konzept der ILO erfasst: Personen gelten als erwerbstätig, wenn sie in der Referenzwoche mindesten eine Stunde als Unselbstständige, Selbstständige oder mithelfende Familienangehörige gearbeitet haben. Tab. 1 zeigt die Verteilung von Erwerbstätigen in der Steiermark 2017 bis 2019 nach ISCO 2 Steller. In der Mikrozensuserhebung wurden in den Jahren 2017 bis 2019 durchschnittlich 576 Tausend Beschäftigte erfasst, wobei die größte Beschäftigungsgruppe die Verkaufskräfte und die kleinste Beschäftigungsgruppe die Hilfskräfte in der Nahrungsmittelzubereitung darstellen.

Tab. 1 Beschäftigte in der Steiermark 2017 bis 2019 nach ISCO 2 Steller. Quelle: Statistik Austria

Für den Test der Anwendbarkeit der vorgestellten Analysemethode nutzen wir die Mittelwerte des Untersuchungszeitraums, damit mögliche Effekte der Schwankungen von Beschäftigungszahlen minimiert werden. Dadurch wird das Untersuchungsgebiet nicht als einmalige Momentaufnahme oder im zeitlichen Vergleich betrachtet, sondern es wird ein Bild einer „beständigen“ Kompetenzlandschaft gezeichnet, da sich nicht nur Arbeitsmarktschwankungen, sondern auch Änderungen der Regulierung von Berufen in den Beschäftigtenzahlen widerspiegeln. So könnten beispielsweise die beträchtlichen Unterschiede im Bereich der Gesundheitsberufe (ISCO 22 und ISCO 32) zwischen 2017 und den Folgejahren auf eine Änderung des 2016 in Kraft getretenen Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes (GuKG-Novelle 2016)Footnote 4 zurückführbar sein.

3.2 Analysemethode

Für die Analyse erstellen wir zuerst ein bipartites Netzwerk bestehend aus Berufen und Kompetenzen, die wir aus der Klassifikation für europäische Berufe, Fähigkeiten und Qualifikation (ESCO) ableiten (e(j,s))Footnote 5. Ein bipartites Netzwerk ist eine spezielle Form von Netzwerktyp, in dem Verbindungen nur zwischen zwei Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen und nicht innerhalb einer Gruppe bestehen, in unserem Fall zwischen Berufen (j) und grundlegenden Kompetenzen (s) (siehe Abb. 2). Diese beiden Gruppen, die sogenannten Knotensets (J,S) des biparititen Netzwerks (e(j,s)), beinhalten also entweder ausschließlich Berufe (j ϵ J) oder ausschließlich Kompetenzen (s ϵ S). Das bipartite Netzwerk e(j,s) kann auch durch die Inzidenzmatrix e mit den Elementen Ejs dargestellt werden, wobei gilt

$$E_{js}=\begin{cases} 1 & \textit{wenn die F{\"a}higkeit s f{\"u}r den Beruf j erforderlich ist} \\ 0 & \textit{andernfalls.}\end{cases}$$
Abb. 2
figure 2

Beispiel eines bipartiten Netzwerks bestehend aus Berufen (Großbuchstaben) und Kompetenzen (Kleinbuchstaben). Der Beruf ABC benötigt die Kompetenzen a, b und c und ist deshalb mit diesen Knoten des Netzwerks verbunden

Anschließend berechnen wir die Komplementarität von Kompetenz-Paaren s und \(s'\) mit Hilfe von θ (Eq. 1). θ vergleicht, wie häufig ein Kompetenz-Paar in unterschiedlichen Berufen gemeinsam erforderlich ist mit der maximal möglichen Anzahl von Berufen, in denen eine Kompetenz erforderlich ist (siehe Abb. 3). Je höher der Wert von θ, desto öfter werden Kompetenzen verhältnismäßig gemeinsam erfordert bzw. desto komplementärer sind die Kompetenzen.

$$\uptheta \left(\mathrm{s}{,}\mathrm{s}\mathrm{'}\right)=\frac{\sum _{\mathrm{j}\in \mathrm{J}}\mathrm{e}\left(\mathrm{j}{,}\mathrm{s}\right)\cdot \mathrm{e}\left(\mathrm{j}{,}\mathrm{s}\mathrm{'}\right)}{\max \left(\sum _{\mathrm{j}\in \mathrm{J}}\mathrm{e}\left(\mathrm{j}{,}\mathrm{s}\right){,}\sum _{\mathrm{j}\in \mathrm{J}}\mathrm{e}\left(\mathrm{j}{,}\mathrm{s}\mathrm{'}\right)\right)}$$
(1)
Abb. 3
figure 3

Berechnung der Komplementarität θ des Kompetenzpaars a,b im Beispielnetzwerk aus Abb. 2. Entscheidend ist die Anzahl der Berufe, in denen beide Kompetenzen benötigt werden (strichlierte Umrandung) relativ zur maximal möglichen Anzahl. (Der Beruf DE wird nicht in die Berechnung einbezogen, da er keine der beiden Kompetenzen enthält.)

Wir nutzen diese komplementären Kompetenzen nun, um Kompetenzcluster zu identifizieren. Zuerst erstellen wir dazu ein gewichtetes Netzwerk aus komplementären Kompetenzen, wobei θ angibt wie häufig Kompetenzen miteinander verbunden sind. Als nächstes verwenden wir einen Computer-Algorithmus (Louvain Community detection Algorithmus (Blondel et al. 2008) implementiert im Python-Paket NetworkX (Hagberg et al. 2008)), der das Netzwerk auf Basis von Modularität, in Gruppen von Kompetenzen – sogenannte „Kompetenzcluster“ teilt. Der Algorithmus teilt hierbei das Netzwerk auf Basis der Verbindungen der Kompetenzen (gegeben durch θ) in Gruppen, bei denen die Verbindungen innerhalb der Gruppen häufig und die Verbindungen zwischen den einzelnen Gruppen selten sind. Kompetenzcluster beschreiben somit Gruppen von Kompetenzen, die durch Komplementarität eng verknüpft sind. Mit dieser Methode erhalten wir insgesamt 40 Kompetenzcluster.Footnote 6 Die so identifizierten Cluster variieren stark in ihrer Größe (der Anzahl von Kompetenzen) mit wenigen sehr großen Kompetenzclustern und vielen kleinen (siehe Abb. 4). Um die Ergebnisse greifbar zu machen, visualisieren wir die so gefunden Kompetenzcluster indem wir Word-Clouds mit allen in einem Kompetenzcluster enthaltenen Kompetenzen bzw. Wörtern, die in den Kompetenzen vorkommen, erstellen. Hierbei gilt: je größer ein Wort dargestellt ist, desto häufiger kommt es in den Kompetenzen in dem jeweiligen Cluster vor (siehe Appendix B, Abb. B.5a–j).

Abb. 4
figure 4

Verteilung der Anzahl der Kompetenzen je Kompetenzcluster

Um die Kompetenzlandschaft der Steiermark zu analysieren, berechnen wir nun die relative Bedeutung der Kompetenzen und die sich daraus ergebenden Cluster. Wir verwenden hierfür die Anzahl der Beschäftigten in der Steiermark nach ISCO 2 Steller für die Jahre 2017–2019. Zuerst berechnen wir für diese Zeitspanne den Mittelwert (\(\overline{m}\)) für jeden ISCO 2 Steller (\(i\in I\)), um möglichen Ausreißern vorzubeugen. Anschließend skalieren wir diese Werte (\(\overline{m_{i}}\)) mit Hilfe des kleinsten Mittelwertes und des größten Mittelwertes (Eq. 2) und erhalten somit Gewichte für die Häufigkeit der ISCO 2 Steller in der Steiermark \(w_{i}\in \left[0{,}1\right]\). Diese Skalierung bietet den Vorteil, dass, unter Beibehaltung der ursprünglichen Verteilung, die Interpretation der Ergebnisse vereinfacht wird.

$$w_{i}=\left(\overline{m_{i}}-min\left(\overline{m}\right)\right)/\left(max\left(\overline{m}\right)-min\left(\overline{m}\right)\right)$$
(2)

Wir berechnen nun Gewichte für jede Kompetenz (ws) indem wir den Mittelwert aller ISCO 2 Steller (\(i\in I_{s}\subseteq I\)), denen eine Kompetenz über die ESCO-Klassifizierung zugeordnet werden kannFootnote 7, berechnen:

$$w_{s}=\frac{1}{n}{\sum }_{i\in I_{s}}^{n}\left(\overline{m_{i}}-min\left(\overline{m}\right)\right)/\left(max\left(\overline{m}\right)-min\left(\overline{m}\right)\right)=\frac{1}{n}{\sum }_{i\in I_{s}}^{n}w_{i}$$
(3)

Um die Bedeutung der einzelnen Kompetenzen für die Steiermark zu ermitteln, gewichten wir die Anzahl der Berufe (\(\sum j\in J_{s}\subseteq J\)), in denen die jeweilige Kompetenz benötigt wird (je größer desto wichtiger i. S. v. häufiger ist die Kompetenz generell), mit den vorher ermittelten kompetenz-spezifischen Gewichten (ws).

$$\gamma _{s}=\sum _{j\in {J_{s}}}e_{\left(j{,}s\right)}\times w_{s}$$
(4)

Das gibt uns die relative Bedeutung der Kompetenz (s) für die Steiermark (γs,) die wir mithilfe des Minimal und Maximalwerts aller relativen Bedeutungen (γsϵ γ) wieder skalieren.

$$\tilde{\gamma }_{s}=\left(\gamma _{s}-min\left(\gamma \right)\right)/\left(max\left(\gamma \right)-min\left(\gamma \right)\right)$$
(5)

Die relative Bedeutung der Kompetenzcluster (γc), ergibt sich nun aus dem Mittelwert der relativen Bedeutung der Kompetenzen (\(\tilde{\upgamma }_{s}\)), die dem jeweiligen Cluster (ci) zugeordnet sind (\(s\in S_{c}\subseteq S\)). (für eine Übersicht siehe Tab. A.3 in Appendix A).

$$\gamma _{{c_{i}}}=\frac{1}{n}\sum _{s\in {S_{c}}}\tilde{\upgamma }_{s}$$
(6)

Zusätzlich ordnen wir die Cluster mithilfe der von ESCO gegebenen Einteilung unterschiedlichen Kompetenzbereichen zu. Wir verwenden diese Information, um die Cluster anhand der am häufigsten vorkommenden Kompetenzbereiche zu beschreiben. Diese Ergebnisse sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren, da die Unterschiede zwischen den Häufigkeiten der einzelnen Kompetenzbereiche sehr gering ausfallen können. Die Methode bietet jedoch eine gute Ergänzung zu den vorhin generierten Word-Clouds, weshalb die prozentuelle Verteilung dieser Kompetenzbereiche je Word-Cloud ebenso angeführt wird (Appendix B, Abb. B.5a–j).

Während die Häufigkeit der Kompetenz einen ersten Indikator für die Bedeutung der Kompetenz in einer Region darstellt, gibt es noch eine weitere relevante Dimension für die Bedeutung einzelner Kompetenzen: Kompetenzen können als Brücken zwischen Berufen fungieren, d. h. sie verbinden unterschiedliche Berufe und erleichtern somit potenzielle Umschulungen. Um solche „Brücken-Kompetenzen“ zu identifizieren, die Berufe häufig verbinden, arbeiten wir mit einer Netzwerktheoretischen Maßzahl – der Betweenness Centrality (Newman 2010). Diese gibt an, wie häufig sogenannte „kürzeste Pfade“ zwischen Berufen im bipartiten Netzwerk über eine Kompetenz laufen. Es gilt: je mehr kürzeste Pfade durch eine Kompetenz laufen, desto leichter wird die Umschulung, wenn man diese Kompetenz besitzt.

Die Berechnung dieser Maßzahl erfolgt mit einem Algorithmus für bipartite Netzwerke, der im Python-Paket NetworkX (Hagberg et al. 2008) implementiert ist und auf Brandes (2008) und Borgatti und Halgin (2014) basiert. Die Betweenness Centrality jeder KompetenzFootnote 8 wird zuerst nach Gl. 7 (Brandes 2008) berechnet und anschließend nach Gl. 8 (Borgatti und Halgin 2014) normiert.

$$c_{B}\left(s\right)=\sum _{n{,}m\in J}\frac{\upsigma \left(n{,}m|s\right)}{\upsigma \left(n{,}m\right)}$$
(7)

Hierbei bezeichnet σ(n,m) die Anzahl der kürzesten Pfade von n ϵ J und m ϵ J und σ(n,m|s) bezeichnet die Anzahl der kürzesten Pfade, die über die Kompetenz s laufen. Die Normierung erfolgt nun mit folgendem Nenner, wobei u für die Anzahl der Jobs im Netzwerk und v für die Anzahl der Skills steht:

$$c_{B\max }=\frac{1}{2}\left[u^{2}\left(j+1\right)^{2}+u\left(j+1\right)\left(2k-j-1\right)-k\left(2j-k+3\right)\right]$$
(8)

mit

$$j=(v-1)\div u$$
$$k=\left(v-1\right)\,\mathrm{mod}\, u$$
$$\beta \left(s\right)=\frac{c_{B}}{c_{\mathrm{Bmax}}}$$

Das Ergebnis ist nun ein Wert für die Betweenness-Centrality jeder Kompetenz (\(\beta \epsilon [0{,}1]\)), es gilt je höher dieser Wert desto mehr Berufe werden direkt über diese Kompetenz verbunden.

3.3 Limitationen und Lösungsansätze

Bei Einschätzung der hier angewandten Analysemethode sind folgende Limitationen zu bedenken: 1. Die Berechnung der Gewichte folgt einem Mittelwert auf einer stark aggregierten ISCO 2 Steller Ebene. D. h. es werden in einigen Fällen sehr unterschiedliche Berufe mit derselben Gewichtung bewertet. Da die Gewichtung nach ISCO 2 Steller einen kleineren Einfluss auf die Bedeutung einer Kompetenz für die Steiermark hat als die Anzahl der Berufe, in denen eine Kompetenz benötigt wird, ist diese Vereinfachung eventuell vernachlässigbar. Daraus ergibt sich aber die 2. Limitation: Die Anzahl der Berufe je Kompetenz variiert sehr stark (siehe auch Appendix B, Abb. B.1). Ein möglicher Lösungsansatz wäre es, mithilfe des Interquartilsabstandes (IQR) die Ausreißer, d. h. Kompetenzen, die in besonders vielen oder besonders wenigen Berufen benötigt werden, zu entfernen. Dadurch würde sich die Anzahl der Kompetenzen von 8249 auf 7301 Kompetenzen reduzieren (Appendix B, Abb. B.2). Es stellt sich aber die Frage, ob Ausreißer unter den Kompetenzen, gerade weil sie für so viele Berufe erforderlich sind, für die hier erörterte Fragestellung nicht besonders interessant sind. Andere methodische Entscheidungen wie die Verwendung der Mittelwerte von 2017–2019 anstatt eines Jahres oder die Definition der Top-Kompetenzen könnten ebenfalls überdacht werden.

Bei der Analyse der Cluster zeigen sich folgende Probleme: ihre Größe variiert stark und eventuell sind manche Cluster zu groß, um aussagekräftige Schlüsse zu zulassen. Einerseits könnte ein höherer θ‑Wert gewählt werden, um zwei Kompetenzen zu verbinden. Andererseits könnte der Auflösungsparameter beim Louvain-Community-Detection-Algorithmus erhöht werden. Bei beiden Lösungsansätzen stellt sich aber die Frage wie ein passender Schwellenwert gewählt wird und wie das anschließend argumentiert werden soll. Vielleicht ist aber auch das Ergebnis interessant, nach dem sich aus diesen vielen Kompetenzen nur 40 Cluster identifizieren lassen und diese stark in ihrer Größe i. S. v. Anzahl von Kompetenzen je Cluster variieren. Es ist hier allerdings zu beachten, dass das Ergebnis nur eine mögliche Variante darstellt, da der Algorithmus auch bei identer Einstellung jedes Mal unterschiedliche Cluster errechnet. Um dies in der vorliegenden Untersuchung zu berücksichtigen, wurde der Algorithmus weitere 100-mal ausgeführt, wobei er durchschnittlich 36 Communities mit einer durchschn. Anzahl von 887 Kompetenzen im größten Cluster lieferte (siehe auch Appendix B, Abb. B.3 und B.4). Mit 40 Communities und 953 Kompetenzen im größten Cluster liegt der im bisherigen Text näher betrachtete Durchlauf über dem Durchschnitt. Die beschriebenen Analysen ließen sich also auch mit einem ‚durchschnittlicheren‘ Cluster durchführen, was aber das Problem der wenigen Cluster mit großer Anzahl an Kompetenzen je Cluster verschärfen würde.

Letztlich stellt auch das, der Analyse zugrundeliegende, Kompetenzmodell eine Limitation dar. Einerseits beruht die ESCO-Klassifizierung auf Einschätzungen von Expert:innen und Stakeholder:innen auf europäischer Ebene. Dadurch finden regionale Unterschiede keine Beachtung. Andererseits werden innerberufliche Veränderungen nur bei größeren Updates der Klassifikation erfasst. Somit können Aussagen zur Veränderung der Berufsstruktur nur unter Einbeziehung dieser veränderten Datenbasis erfolgen. Zusätzlich kann man eine Definition der Kompetenzen durch Stakeholder:innen und Expert:innen nicht mit einer tatsächlichen Kompetenzerhebung gleichsetzen (wie z. B. das „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“). Jedoch ist eine solche Kompetenzerhebung mit einem beachtlichen organisatorischen Aufwand verbunden und es können in diesem Rahmen nur sogenannte Schlüsselkompetenzen nicht aber berufsspezifischen Kompetenzen erhoben werden.

4 Ergebnisse der Anwendung der Methode am Beispiel der Steiermark

4.1 Kompetenzen in der steierischen Berufslandschaft

Die Bedeutung einzelner Kompetenzen in der Steiermark hängt stark von der Anzahl der Berufe, in denen eine Kompetenz benötigt wird, ab. Die Gewichtung mit Beschäftigungszahlen nach ISCO 2 Steller in der Steiermark wirkt sich nur moderat aus. Dadurch zeigt sich auch, dass sehr allgemeine Kompetenzen, die in vielen Berufen benötigt werden, für die Steiermark von größerer Bedeutung sind. Bei der Betrachtung der Top-100 Kompetenzen sieht man (siehe Tab. A.1 im Anhang A), dass diese eher den Bereichen der sogenannten „kognitiven Kompetenzen“ und „IT-Skills“ zu zuordnen sind. Vergleicht man nun die „Top-Kompetenzen“ mit den „Brücken-Kompetenzen“, sind diese zu 45 % identisch. Auch die Brücken-Kompetenzen (siehe Tab. A.2 im Anhang A) sind demnach durch kognitive Kompetenzen geprägt, wobei der Kompetenzbereich „Unterstützung und Pflege“, den man nicht eindeutig kognitiven oder manuellen Kompetenzen zuweisen kann, am häufigsten vorkommt. Ein Blick auf die Listung der „Brücken-Kompetenzen“, zeigt aber, dass auch hier kognitive Kompetenzen dominieren.

Tab. 2 vergleicht die Verteilung der Kompetenzbereiche je Top-Kompetenzen, Brücken-Kompetenzen und aller in der Steiermark auftretenden Kompetenzen (ESCO). Man sieht, dass „kognitive Kompetenzen“ und „IT-Skills“ allgemein häufiger vertreten sind, jedoch sind sie in den Top-Kompetenzen vergleichsweise überrepräsentiert (73 % vs. 63 % in ESCO) während sie bei Brücken-Kompetenzen verhältnismäßig unterrepräsentiert sind (53 %). Besonders auffallend ist allerdings der Unterschied zwischen Brücken-Kompetenzen und Top-Kompetenzen bzw. ESCO im Bereich „Unterstützung und Pflege“. So sind mehr als ein Viertel der Brücken-Kompetenzen diesem Bereich zugeordnet und nur 14 % der Top- bzw. ESCO-Kompetenzen.

Tab. 2 Häufigkeit der Kompetenzbereiche je Top‑, Brücken- und aller in der Steiermark auftretenden Kompetenzen (ESCO)

4.2 Kompetenzcluster in der Steiermark

Bei der Analyse der Kompetenzcluster zeigt sich jedoch ein anderes Muster: Während die bedeutsamsten drei Cluster dem Bereich der kognitiven Kompetenzen zugeordnet werden können, sind unter den Top-10 insgesamt (siehe Tab. A.3 im Anhang A) fünf verschiedene Kompetenzbereiche (Kommunikation, Zusammenarbeit u. Kreativität; Arbeiten m. Maschinen u. Spezialausrüstungen; Bau; Handhabung/Transport u. Bewegung; Unterstützung u. Pflege) vertreten. Neben kognitiven Kompetenzbereichen werden vermehrt auch Bereiche, die der manuellen Arbeit zugeordnet werden können, nachgefragt.

5 Zusammenfassung und Diskussion

Die vorliegende Studie verwendet Methoden der Netzwerkanalyse, um über ein Kompetenzen-orientiertes Konzept von Berufen regionale Kompetenzlandschaften, also Kompetenzen-Verteilungen, zu untersuchen. Als Beispiel wurde die Kompetenzlandschaft der Steiermark analysiert. Zusammenfassend stellen wir fest, dass sich die angewandten Methoden grundsätzlich zur Identifikation von Kompetenzclustern und Ungleichverteilungen eignen, und damit das Auffinden von Möglichkeiten für sozialpolitische Maßnahmen unterstützen könnten. Allerdings führt unsere Untersuchung auch einen Bedarf für die Schärfung der Methodik vor Augen und die Unzulänglichkeiten der momentanen Datenlage.

Eine zentrale Erkenntnis der Analyse ist die Prädominanz kognitiver Kompetenzen in der untersuchten Region. Dies deckt sich mit etwas zurückliegenden Befunden für Gesamtösterreich, wonach im Jahr 2018 60 % der unselbstständigen Beschäftigten einen Beruf mit vorwiegend nicht-manuellen Tätigkeiten ausübten (Bock-Schappelwein und Friesenbichler 2019). Nach Hanushek und Woessmann (2008) deutet dies einerseits eine Entwicklungschance für die Region an. Anderseits birgt dies auch die Möglichkeit, dass die vermehrte Nachfrage nach kognitiven Kompetenzen zur Verfestigung bzw. zur Verschärfung von Lohnungleichheiten führt.

Allerdings ermöglicht die verfügbare Datenbasis aktuell nur ein eher unscharfes Bild der Kompetenzlandschaft der Steiermark. Es bedarf sichtlich weiterer Untersuchungen und einer Verfeinerung der Methode, um das hier gezeichnete Bild der Verteilung von allgemeinen und spezifischeren Berufskompetenzen zu schärfen. So lässt sich zum Beispiel vorstellen, die vorliegenden Ergebnisse mit Daten zur Lohnentwicklung zu unterlegen, um die unterstellten Folgen für die Ungleichheitsentwicklungen zu bestätigen. Darüber hinaus legt es die Methode nahe, einen Vergleich zwischen verschiedenen Kompetenzlandschaften anzustreben. Zum einen könnten in diesem Sinn unterschiedliche Bezirke der Steiermark gegenübergestellt werden. Zum anderen ließen sich aber auch unterschiedliche Regionen auf Ebene der Bundesländer, auf Ebene Gesamtösterreichs oder auch auf internationaler Ebene vergleichen. Unter anderem könnte sich damit klären lassen, ob das Phänomen der geringen Signifikanz einer Gewichtung durch Beschäftigungszahlen spezifisch für die Steiermark ist, oder generell eine Eigenschaft der benutzten Methode darstellt.