1 Einleitung

Als das System des bankeninternen Risikomanagements in den Jahren 2007–09 mit gravierenden gesellschaftlichen Folgen in die Krise geriet, war die Antwort der Bankenaufsicht nicht die These effizienter Märkte und die Kalkulierbarkeit von Risiken zu hinterfragen, sondern die Bewertungspraktiken der Finanzinstitute auf das Kalkulierbarkeitsversprechen des finanzmathematischen Risikomanagements hin zu verpflichten. Céline Baud und Eve Chiapello (2017, S. 18) argumentieren, dass ein solches „infinite development of control“ eine notwendige Konsequenz eines Kontrollregimes ist, welches von einem „calculating, maximizing individual concerned only with his own interests“ ausgeht. Soll die Gemeinwohlfähigkeit eines solchen Regimes sichergestellt werden, müssen die Einzelentscheidungen adressiert und verbessert werden. Nach der Finanzkrise ist es deshalb insbesondere die Regulatorik, die die Finanzmathematisierung des Banken- und Versicherungswesens vorantreibt und vorgibt (Coombs und van der Heide 2020). Sie verpflichtet die Finanzinstitute auf ein verbessertes Risikomanagement und eine verbesserte Risikobewertungsstrategie und -apparatur. Dieser „mikroprudenzielle“ Ansatz der Risikokontrolle tritt an, höchsten finanzmathematischen Ansprüchen zu genügen, und fordert eine immer genauere und gleichzeitig zukunftsoffene und reaktive Prognosefähigkeit, die sich in einem „amalgam of calculative practices and regulative rules“ (Coombs und van der Heide 2020, S. 365) vollzieht und von einem tiefen Misstrauen gegenüber den Bewertungspraktiken der Finanzmarktakteure geprägt ist. Charalampos Fytros spricht in diesem Zusammenhang von „aporetic financialization“ (Fytros 2021).

Diese Forschungsnotiz geht den Paradoxien dieses finanzaufsichtlichen Vertiefungsprozesses nach und sucht nach dem Gewinn einer körpersoziologischen Perspektive im Zusammenhang von Wirtschafts‑, Finanz- und Bewertungssoziologie. Es handelt sich um ein exploratives Unterfangen, das sich auf zwei problemzentrierte Interviews stützt, welche im Rahmen eines größer angelegten Forschungsprojektes zu den Risikopraktiken auf Finanzmärkten im Jahr 2018 durchgeführt wurden. Die beiden Interviews thematisieren den weiterhin unabgeschlossenen Umbau der Finanzaufsicht nach der Finanzkrise. In ihnen dokumentiert sich eine körpersoziologisch interessante Paradoxie dieses Umbaus, der zwar auf individuelle Entscheidungsrationalität gerichtet ist, diese jedoch kollektiv apparativ hervorzubringen sucht. Der Aufsatz nutzt die körpersoziologische Metapher der „Prothese“, die Michel Callon (2008) für die Wirtschaftssoziologie aufbereitet hat, um von ihr ausgehend die Potenziale einer Verbindung von Soziologie der Bewertung und Körpersoziologie zu explorieren. Dabei geht es nicht nur um ein reines „body matters“, sondern um eine Umverteilung von sensorischen Bewertungskompetenzen zwischen Individuum und Apparatur. Obwohl, oder gerade weil, es sich um Interviews aus unterschiedlichen finanzwirtschaftlichen Bereichen handelt – auf der einen Seite Interview 1 mit der Finanzaufsicht im Versicherungswesen (Solvency II), auf der anderen Seite Interview 2 mit dem Risikomanagement einer Sparkasse im Kreditwesen (Supervisory Review and Evaluation Process) –, dokumentiert sich in diesen Interviews ein gemeinsamer kollektiver Orientierungs- und Erfahrungsraum (Bohnsack 2000), der auf eine Neuverteilung sensorischer Bewertungskompetenzen verweist, die in ähnlicher Weise auch mit dem „datalogical turn“ diagnostiziert wird. Auch hier treiben vernetzte Algorithmen die Krise der statistischen Repräsentation voran und bringen etablierte Dualismen ins Wanken: „structure/individual, system/agent, human/world, and even lively/inert“ (Clough et al. 2015, S. 148). Von einer solchen Neu- und Umverteilung sensorischer Bewertungskompetenzen handelt auch dieser Aufsatz. Dabei kann eine körpersoziologische Perspektive sichtbar machen, inwiefern sich sensorische Bewertungskompetenzen in diesem Prozess umverteilen. Die beiden Interviews sind geprägt von einer besonderen „metaphorischen Dichte, d. h. der Bildhaftigkeit und Plastizität der sprachlichen Äußerungen“ (Bohnsack 2000, S. 153). In ihnen wird ein körpersoziologisch interessanter Bruch zwischen einer neuen Welt und einer alten Welt der Finanzaufsicht thematisiert. Die Rede ist von einem lebendigen System, das die Sensitivität erhöht. In der neuen Welt ist es die Maschine, die lebt, die flexibel ist und die nun (im Sinne einer Prothese) Menschen als Bewertungsinstanzen apparativ stützt. Sie bleibt auf die menschliche sensorische Bewertungskompetenz gerichtet, die in einem spielerischen Umgang mit Risiken entwickelt werden soll.

In diesem Prozess entstehen neue Hierarchien und eine neue Verantwortungsarchitektur, die die sensorischen Fähigkeiten einer lebendigen und beweglichen Maschinerie überträgt. Die menschlichen sensorischen Fähigkeiten werden gleichzeitig entwertet und gesteigert. Es ist nun die maschinelle Apparatur, der Lebendigkeit zugeschrieben wird, während der Mensch sensorische Bewertungskompetenzen verliert, die er jedoch durch die Maschine (anders und erneut) erlangen soll.

2 Verbindungslinien zwischen Körper‑, Bewertungs- und Finanzsoziologie

Die Frage der Bewertung von Risiken ist zentral für das Verständnis von Finanzmärkten und vielfach untersucht (z. B. Power 2007; MacKenzie und Spears 2014; Besedovsky 2018). In dieser Debatte spielen finanzmathematische Konventionen eine wichtige Rolle (Chiapello und Walter 2016) sowie die Frage nach „kalkulativen Kulturen“ des Risikomanagements (Mikes 2011). So zeigt etwa Anette Mikes eine Pluralität von Risikokulturen in der Finanzwirtschaft auf. Je nach Risikokultur werden die kalkulativen Instrumente als zusätzliche Informationsquelle für die Entscheidungsfindungsprozesse lediglich hinzugezogen, oder aber das quantitative Risikomanagement wird zur überlegenen Entscheidungsgrundlage erhoben. Risiken wurden in der Finanzwirtschaft immer schon geschätzt und bewertet, jedoch früher in einer Weise, die Charalampos Fytros (2021) in Bezug auf die Versicherungswirtschaft als Praktiken des „comparison-against-experience“ auf der Basis von Plan- und Ist-Zahlen beschreibt, also eine „technical exercise that enabled close calibration with liabilities’ actual development, allowing for an ongoing process of adaptive learning“ (Fytros 2021, S. 29). Es kam auf die Erfahrungswerte der Aktuare an, die sich in ihrem Versicherungsbereich (z. B. Lebensversicherung) auskannten. Seit den 1980er-Jahren wurde dieses Bewertungswissen jedoch zunehmend an eine „powerful elegance“ (Baud und Chiapello 2017, S. 163) der Finanzmathematik delegiert, die die „Risikofreiheit“ von Investitionen ausweist – und nicht zuletzt genau damit das Weltfinanzsystem in eine fundamentale Krise stürzte (MacKenzie und Spears 2014). Heute sehen wir diese Konvention der Risikofreiheit jedoch nicht infrage gestellt, sondern inkrementell und beständig „verbessert“. Dieser Beitrag stellt unter Bezug auf die Körpersoziologie die Paradoxien dieses inkrementellen Reparaturprozesses heraus, der sich im Kern um die Frage der Sicherstellung von adäquater und reaktiver Risikobewertungskompetenz dreht.

Körpersoziologische Fragen werden in der Finanzmarktsoziologie bisher in zwei Richtungen gestellt. Einmal in Richtung der Emotionssoziologie und zum anderen in Richtung der Science and Technology-Studies. Wenn eine körpersoziologische Verstärkung der Soziologie der Bewertung eingefordert wird, dann verweist dies auf die Diagnose einer kartesianischen Verkürzung des Bewertungsbegriffs, der sich lediglich für die kognitiven Interpretationsleistungen der Handelnden und deren Bewertungsakte interessiert. In der Finanzmarktsoziologie wird diesbezüglich besonders betont, dass Bewertungsakte von Emotionalität geprägt sind und damit alles andere als rational (Pixley 2004; Lange 2018; Laube 2019). Andererseits wird betont, dass die Praktiken der Finanzwirtschaft in besonderem Ausmaß durch Entkörperlichung/Entsozialisierung gekennzeichnet werden (Knorr-Cetina und Bruegger 2000). In Analogie zum wissenschaftlichen Labor (Latour 1988; Knorr-Cetina 1988) wird betont, dass sich hier eine Reinigung von körperlicher und sozialer Kontaminierung durch Standards, Methoden und Verfahren zeigt. Die körpersoziologische Perspektive auf Bewertungsprozesse stellt dabei aber auch heraus, dass die Bewertungsarbeit trotz aller Technisierung an den Körper gebunden bleibt (Knorr-Cetina 1988) und es ohne „epistemische Partizipation“ keine sinnvolle Interpretation von Daten geben kann, wie etwa Reichmann in Bezug auf das Geschäft der ökonometrischen Vorhersage zeigt (Reichmann 2013). In dem Ausspruch „We are the model!“ wird darauf bestanden, dass ohne umfangreiche Gespräche und professionelle Erfahrung keine sinnvollen Vorhersagen möglich sind (Reichmann 2013, S. 879). In diesen sozio-technischen Bewertungsprozessen geht es also nicht nur um Reinigungsarbeit, sondern auch um ein Ergänzungs- und Stützungsverhältnis, um eine Art der Vervollständigung und um den Ausgleich von körperlichen und/oder technischen Mängeln.

Diesbezüglich ist die Prothese eine vielversprechende körpersoziologische analytische Figur (Schneider 2005). Sie richtet das Augenmerk auf die Verwobenheit des Körpers mit der technischen Welt und in die in sie eingearbeitete normative Ordnung. Bewertungsoperationen finden weder über rein körperliche noch über rein mechanistische Verfahren statt, sondern in Form einer „distributed cognition“ (Hutchins 1995) über und durch ein komplexes sozio-technisches Gefüge. Der Körper wird hier als entgrenzt in den Blick genommen und es gilt sichtbar zu machen, inwiefern der Körper als mangelhaft konstruiert und repariert wird und schließlich als „Cyborg“ (Haraway 1995) wiederaufersteht. In dieser beständigen prothesenhaften Ausweitung der körperlichen Fähigkeiten zeigt sich letztlich der urmenschliche Drang zur Überwindung der körperlichen Grenzen. Markus Schroer spricht vom Körper als „Widerstand“, „Störfaktor“ und sogar als „Verräter“ (Schneider 2005, S. 15), dessen Mängel gesellschaftlich auf vielfältige Weise beseitigt werden. Dabei ist die Neuverteilung der Bewertungskompetenzen im Finanzsektor nicht zuletzt auch geprägt von den Hoffnungen eines „datalogical turn“, im Zuge dessen den „algorithmic architectures“ attestiert wird, „to move faster and differently than institutions and humans“ (Clough et al. 2015, S. 146).

Michel Callon (2008) hat den Begriff der Prothese für die Wirtschaftssoziologie fruchtbar gemacht. Er unterscheidet unter Bezugnahme auf Myriam Winances (2006, 2007) körpersoziologische Studien zu Behinderung nun zwei Modelle gesellschaftlicher Unterstützungsverhältnisse. Das erste Modell diagnostiziert individuelle Unzulänglichkeiten in Relation zu den gesellschaftlichen Normen, die ein Individuum definieren. Prothesen werden angefertigt, um die Mängel des Individuums auf seinem Weg zu einem voll funktionstüchtigen (idealen) Individuum zu beseitigen. Das erste Modell „imposes a very specific model in which the individual is autonomous to the precise extent that, in a disciplined way, she follows the course of action allowed by the prostheses and inscribed in them“ (Callon 2008, S. 44). Callon interessiert sich in seinen Arbeiten beispielsweise dafür, wie der „homo oeconomicus“ durch Technikeinsatz ins Werk gesetzt wird (Callon 1998). Das zweite Modell setzt nicht am Individuum, sondern an der Gesellschaft an: „In the latter case, the recommended strategy is either to make the environment accessible or to transform it in such a way as to overcome the observed maladjustments“ (Callon 2008, S. 43). Dieses Modell der Befähigung vergrößert die Freiheiten des Individuums und seine Möglichkeiten, sich zu verwirklichen, anstatt sie durch technische Prothesen auf eine bestimmte Form und Funktion festzulegen. Das eine Modell arbeitet direkt am Individuum, das andere Modell an den gesellschaftlichen Umständen. Auf den Fall der Finanzmarktregulatorik übertragen, könnte man sagen, dass das Programm der Mikroprudenzialität dem ersten Modell entspricht. Hier soll Finanzmarktstabilität erreicht werden, indem die Einzelentscheidung bzw. -investition durch Finanzmathematisierung gestützt wird. „Makroprudenzialität“ – eine Aufsichtslogik, die die Dynamiken das gesamten Finanzsystems in den Blick nimmt und nicht am einzelnen Bewertungsakt ansetzt – würde hingegen die „systemischen Risiken“ im Finanzmarkt adressieren und die Einzelentscheidung so von der Verantwortung für die Gesamtstabilität des Finanzmarktes entlasten (Thiemann 2020).

Nun hat sich die Finanzaufsicht in den letzten Jahren der Risikokultur einer zunehmenden Finanzmathematisierung angeschlossen, auf die sie die Finanzinstitute hin verpflichtet. Das ursprünglich zur internen Qualitätssicherung entwickelte Risikomanagement wird so (auch) zu einem externen Steuerungs- und Aufsichtsinstrument. Die risikobasierte Welt der Finanzmarktaufsicht ist also auf der einen Seite von starken normativen Vorstellungen über das menschliche Handeln und die Bewertungskompetenzen geprägt, auf der anderen Seite werden die kalkulativen Fähigkeiten jedoch nicht dem Individuum überlassen, sondern an ein komplexes Räderwerk an vernetzten Kalkulationsapparaturen (Callon und Muniesa 2005) delegiert. Dieser Aufsatz handelt von den Paradoxien dieser fortschreitenden Entkörperlichung, die letztlich an den Körper gebunden bleibt und nach wie vor auf diejenigen ausgerichtet ist, die die Apparaturen bedienen und mit ihnen arbeiten. Von „Postsozialität“ (Knorr-Cetina und Bruegger 2000) kann also gerade nicht gesprochen werden. Vielmehr muss es um das komplizierte Wechselverhältnis einer technisierten und instrumentierten Körperlichkeit gehen, in der sensorische Kompetenzen neuarrangiert und neuverteilt werden.

3 Neuverteilung der sensorischen Risikobewertungskompetenzen

Im Folgenden werden die körpersoziologischen Paradoxien dieses finanzaufsichtlichen Umbaus unter Rekurs auf zwei problemzentrierte Interviews (Witzel und Reiter 2012) diskutiert. Die Interviews stammen aus einem Forschungsprojekt zur Translation und Transformation von Risikopraktiken und wurden aus einem größeren Datenkorpus ausgewählt, weil sie in ähnlicher Weise einen Bruch zwischen der „neuen“ und der „alten Welt“ der Finanzaufsicht thematisieren. Es handelt sich um Interviews aus unterschiedlichen finanzaufsichtlichen Kontexten – einmal um den SREP-Prozess (Supervisory Review and Evaluation Process) im Banken- und Kreditwesen, der 2015 auch für nicht-systemrelevante Banken in Europa wichtig wurde, und einmal um Solvency II, die risikobasierte Regulatorik im Versicherungswesen, die 2016 in Europa in Kraft trat. Beiden Aufsichtswesen ist gemein, dass es sich um eine Umstellung von einer regelbasierten Aufsicht hin zu einer prinzipien-, risiko- und marktwertbasierten Aufsicht handelt.

Interview 1 fand im Juni 2018 in der deutschen Versicherungsaufsicht statt und dauerte ca. eine Stunde. In der Interviewsituation waren sowohl der Abteilungsleiter der Versicherungsaufsicht als auch ein Versicherungsmathematiker zugegen, den der Abteilungsleiter zum Interview mitbrachte, „weil der sich wirklich gerade mit Solvency II-Themen deutlich länger beschäftigt als ich“. Das vorgegebene Thema des Interviews war der Wandel von Risikopraktiken im Finanzsektor. Solvency II und die Virulenz dieses Themas wurde nicht vorgegeben, sondern von den Interviewten als zentrales Thema gesetzt. Die Interviewdauer war vonseiten der Vorgesetzten, die das Interview im Vorfeld genehmigten, auf eine Stunde begrenzt worden. Die Interviewdurchführung folgte einem groben thematischen Leitfaden mit Aufrechterhaltungsimpulsen. Zum Einstieg wurden die Interviewten aufgefordert, ihren beruflichen Werdegang und ihren aktuellen Aufgaben- und Verantwortungsbereich kurz zu schildern. Der Hauptteil des Interviews zu den alltagspraktischen Problemdeutungen und -beschreibungen rund um die Risikopraktiken wurde möglichst offen und erzählgenerierend gehalten.

Interview 2 fand im Dezember 2018 in einer kleineren Sparkasse statt und dauerte ca. zwei Stunden. Das Interview wurde mit dem Risikomanager durchgeführt und von der Geschäftsführung im Vorfeld genehmigt. Der Risikomanager nahm sich die volle Zeit der vereinbarten zwei Stunden, obwohl aus der Geschäftsführung während des Interviews die Aufforderung kam, das Interview zu beenden. Dem Risikomanager war das Thema sichtlich wichtig und er widersetzte sich dieser Aufforderung mit dem Argument, dass die interviewende Person extra auf Aufforderung der Geschäftsführung angereist war. Zum Einstieg wurde der Interviewte auch hier aufgefordert, den beruflichen Werdegang und den aktuellen Aufgaben- und Verantwortungsbereich zu schildern. Im erzählgenerierenden Teil zu den Risikopraktiken kam der Risikomanager schnell auf den aktuellen SREP-Prozess zu sprechen, der dann als zentraler thematischer Fokus den weiteren Verlauf des Interviews bestimmte.

In beiden Interviews fällt zunächst eine scharfe Differenzmarkierung zwischen einer „neuen“ und einer „alten Welt“ der Regulatorik auf. So wird die alte Solvency I-Welt als eine vergleichsweise „sichere“, klare und regelbasierte Welt beschrieben, in der die Dinge „mechanisch“ abgearbeitet werden konnten und „auch Nicht-Mathematiker waren dazu in der Lage. War nicht so besonders schwierig. Das war eine sehr SICHERE, also der Vorteil ist ja, eine sehr sichere Welt, jede Seite weiß, worauf sie sich einlässt“ (Interview 1, Versicherungsaufseher). Die alte Welt war regelbasiert und ließ kaum Interpretationsspielräume zwischen den Aufsehenden und den Beaufsichtigten zu. Nach der Finanzkrise setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass diese klare, aber „grobe“ Welt die Risiken im System ungenau abbildet und die Gefahr besteht, dass Risiken unterbewertet bleiben (bis hin zu gefährlichen Auswüchsen des „regulatory arbitrage“). Die Antwort ist nun ein System, das viel „granularer“ ist und die Risikobewertung an eine komplexe und vernetzte („korrelierte“) Risikobewertungsapparatur delegiert. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Standardformel im Versicherungsaufsichtswesen:

Ich weiß nicht, ob Sie sich so ein Ding mal angekuckt haben. So Standardformel hat man tausend Module und jedes Modul gliedert sich wieder in Untermodule, die haben eine Wechselwirkung untereinander, die mit irgendwelchen Korrelationsmatrizen und so weiter. Ist also wirklich wesentlich komplexer geworden und vor allem, selbst die Bestückung der einzelnen Module. … Heute muss man das mit tausend Szenarien irgendwie Simulationsrechnung machen, seinen gesamten Bestand hochprojizieren, Managementregeln, wie würde das Management in 2027 reagieren, wenn die Aktienwerte einbrechen und was weiß ich nicht alles. (Interview 1, Mathematiker).

An dieser Passage wird ein eklatantes Spannungsverhältnis zwischen Genauigkeitsanspruch und der Nichtwissbarkeit zukünftiger Ereignisse sichtbar. Es geht darum, schwer quantifizierbare Ereignisse („wie würde das Management in 2027 reagieren, wenn die Aktien einbrechen“) numerisch zu bewerten. Das System verlangt, offen zu sein für das Unerwartete, und darin gleichzeitig sehr genau und granular zu sein – und nicht grob und ungefähr. Diese Schätzpositionen werden dann qua Formel untereinander korreliert. Eine solche gesteigerte Granularität und Korrelation der Positionen betont auch der Risikomanager der Sparkasse in Bezug auf die Regulatorik im Kreditwesen:

Es kommt überall noch ein bisschen was dazu …, das heißt, wenn Sie zwei Themen haben, haben Sie eine Verbindung. Bei drei Themen haben Sie drei Verbindungen. Bei vieren haben Sie zwölf Entitäten. Es ist wirklich extrem komplex, sodass und weil die Themen immer komplexer in sich werden. (Interview 2).

In den beiden Passagen dokumentiert sich letztlich die kollektive Erfahrung der Komplexitätszunahme und eines gefühlten Kontrollverlusts. Die folgende Sequenz stützt diese Interpretation. Hier scheint es, als erhöhe das System seine Komplexität, damit es als verbessertes Sehinstrument fungieren und die Wahrnehmungskompetenzen des Körpers steigern kann. Den Menschen allerdings scheint ihr Gefühl für die Zahlen zu entgleiten. Stattdessen bekommen sie ein lebendiges und sensibles System an die Hand, das zum „Spüren“ auffordert:

Der Nachteil ist einfach: man hat kaum noch die Möglichkeit, das wirklich im Detail nachzuvollziehen. Der Vorteil ist aber, man muss ins Detail reingehen. Sodass man mal wirklich versucht mit seiner eigenen Risikoeinschätzung so zu spüren: wo bin ich exponiert und wo nicht. (Interview 1, Mathematiker).

Der Versicherungsmathematiker beschreibt die Intention des Systems ganz im Sinne einer Prothese (Callon 2008), die bestimmte Fähigkeiten des Körpers steigern soll, den Körper aber auch begrenzt („Man hat kaum noch die Möglichkeit, das … im Detail nachzuvollziehen“). Es ist ein System, das die menschliche Routine und Fantasielosigkeit durchbrechen und zu ständiger Aufmerksamkeit und einem sensorischen „Spüren“ anhalten soll. Um dies sicherzustellen, muss das System lernen und besser werden (nicht die Menschen). Auch wenn es vielleicht „nie akkurat“ werden kann, wie der Versicherungsmathematiker an anderer Stelle einräumt, so wird das System ständig akkurater und ständig angepasst. Entsprechend wird die neue Solvenzkapitalvorschrift in einer Zeitschrift des Versicherungsverbands als „Ungetüm im Maschinenraum“ beschrieben, als „lebendiges Regelwerk“, das sich fortwährend anpasst und „keine Routine“ aufkommen lässt (Wittrock 2017).

Die Qualifizierung als lebendes System wird an anderer Stelle mit der Notwendigkeit der Spezialisierung in Verbindung gebracht: „Das ist also wirklich ein lebendes System. Ein System, wo man sich selbst erstmal so aufteilen muss, die ganzen Informationsmengen und so weiter verarbeiten zu können“ (Interview 1, Mathematiker). Verschiedene, verteilte und spezialisierte Einheiten bestücken das System mit Informationen, was letztlich die verbesserte „Materialitätseinschätzung“ ermöglicht. Dies jedoch nur, wenn sich die Betroffenen auf einen spielerischen und offenen Umgang mit der neuen Sensorik einlassen.

Der Versicherungsmathematiker bringt in der folgenden Passage Verständnis für die Personen auf, die sich bei ihm ob der Komplexität und Unübersichtlichkeit der neuen Regulatorik beschweren. Denn von ihnen werde ein „Kulturbruch“ verlangt, der insbesondere für kleinere Versicherungen eine Herausforderung darstellt und eben auch die Kompetenzen derjenigen infrage stellt, die jahrelange Erfahrung in einem Versicherungsfeld gesammelt haben:

Und dann kommen natürlich viele Kleine, die sagen: „was wollt ihr eigentlich? Unser Risiko ist immer dasselbe. Das wissen wir seit zweihundert Jahren, können wir ihnen genau sagen, wo es wann wie hagelt!“ DAS IST RICHTIG. Und dann haben wir das Problem. Und das ist vielleicht auch so, dass man mit Kanonen auf Spatzen schießt, aber … auch die Kleinen sollen dann und das ist dann wieder die Herausforderung, in einer vernünftigen, angemessen irgendwann, sich mit diesen Risiken ein bisschen, ja, spielen auch. Dann nehmen sie eben nur zwei Parameter und passen die mal an. Und nicht jede Woche, sondern eben in einem längeren Abstand halt. (Interview 1, Versicherungsaufseher)

In der neuen Welt spielt das Erfahrungswissen der Akteure nur noch eine untergeordnete Rolle. Gleichzeitig sollen sie beginnen, mit den Informationen, die das System generiert, „spielen“ zu lernen und so ständig mit dem Unerwarteten rechnen. Sie sollen sich nicht zu sicher fühlen und dem eigenen, eher trügerischen Sicherheitsgefühl gerade nicht trauen. Sie sollen Gefühle für Risiken entwickeln, in einer Konstellation, in der sie gleichzeitig aufgrund der verteilten und vernetzten Systemrationalität kaum mehr ein Gefühl für die Zahlen entwickeln können.

Die sensorischen Bewertungskompetenzen der Menschen werden in diesem Regime – anders als intendiert – als entwertet erlebt. Im Interview mit dem Sparkassenrisikomanager kommt dies durch wiederholte Verweise auf „Herz und Verstand“ und „Sinn und Verstand“ zum Ausdruck, die für ihn erst einen kompetenten Umgang mit Zahlen ermöglichen. Er fordert damit ein, was Reichmann (2013) „epistemische Partizipation“ nennt, also eine Untrennbarkeit von körperlichen und kognitiven Fähigkeiten. Der Sparkassenrisikomanager befürchtet, dass es ein Problem ist, wenn diejenigen, die mit den Zahlen arbeiten, nicht mehr verstehen, wie sie zustande kommen. Er nutzt eine Anekdote, um diese Einschätzung zu untermauern:

Aber das ist dann ein ganz großes Problem, dass wir mittlerweile unheimlich viel machen, weil wir es machen müssen, ohne es auch vom zeitlichen her, weil es zu viel Aufwand ist, ohne uns mit den Dingen wirklich so zu beschäftigen, dass wir sagen „Jawohl, das ist meine Zahl“. Auch das Thema Plausibilisierung, wir haben jetzt einen neuen Kollegen, seit zwei, drei Jahren … Der kommt mit Zahlen raus, der hat überhaupt, weil der nie wirklich mit den Zahlen mal selber was entwickelt hat. Der kennt keine Plausibilitäten. Der kommt mit einer Zahl an …, sage ich, „Das ist falsch!“ Dann sagt der „Doch, alle Systeme, alles Abgleich“ und so weiter. Dann sage ich „Die Zahl stimmt nicht, glaube es mir“ … Wenn man da selber sich mal beschäftigt hat, hat man ein Gefühl dafür und dann sitzt der da zwei Tage und sucht und dann merkt der „Ah, die Datenlieferung …, da war ein Fehler drin.“ DAS merkt man NICHT, wenn man sich mit den Themen nicht beschäftigt und das machen wir ALLE in dem Sinne eigentlich nicht mehr. Ich halte das für eine ganz, ganz große Gefahr. (Interview 2).

Das „Gefühl“ für die Zahlen, die letztlich die Risikoexposition der Sparkasse anzeigen, erscheint in diesen Passagen als gefährdet. Mit dem Verlust eines Gefühls für die Zahlen geht letztlich auch eine Umverteilung von Verantwortung einher, die sich in einer komplexen und korrelierten, hierarchisierten und spezialisierten Bewertungsapparatur neu verteilt.

Insgesamt kommt in den Interviewpassagen ein Konflikt zum Ausdruck, der um die Frage rankt, wann und wie man sich eigentlich sicher fühlen soll. Ist es, wenn man „ein gutes Gefühl“ für die Zahlen haben kann, die allerdings eher grob und schematisch sind, oder ist es, wenn das System sensibel und lebendig ist und den Einzelnen einen spielerischen Umgang mit Risiken anempfiehlt (für die sie allerdings aufgrund der Vernetzung und Komplexität kein Gefühl mehr entwickeln können). Es geht in diesem Übergang von der alten in die neue Welt also nicht nur um die Umverteilung von sensorischer Bewertungskompetenz, sondern auch um die Neuverteilung von Verantwortung in einer verteilten und vernetzten Wissens- und Bewertungsarchitektur.

4 Schluss

Bewertungsoperationen auf Finanzmärkten sind immer schon komplexe sozio-technische, instrumentierte, durch kalkulative Instrumente gestützte Praktiken gewesen. Es kommt jedoch darauf an, über ein simples „technology matters“ oder ein „emotions matter“ (Laube 2019) hinauszugehen und zu zeigen, wie sich in diesen sozio-technischen Arrangements Agentschaft und sensorische Kompetenz umverteilt. Diese Forschungsnotiz hat unter Rückgriff auf die wirtschafts- und körpersoziologische Figur der Prothese (Callon 2008) versucht, die Eigenheiten dieses Stützungsverhältnisses in den Blick zu nehmen, und untersucht, in welcher Weise und mit welchen ermöglichenden, beschränkenden oder disziplinierenden Effekten die Technologien auf die körperlichen Fähigkeiten gerichtet sind. Es zeichnet sich ein Übergang ab in eine Welt, in der es keine feststehenden Größen mehr gibt und ständige Agilität und Reaktivität gefordert sind. Niemand soll und kann sich sicher fühlen. Stattdessen geht es darum, aufmerksam zu bleiben für das Unerwartete. Es scheint, als wurden die menschlichen Ideale der Agilität, Reaktivität und des Spiels an eine komplexe Bewertungsapparatur übertragen, wohingegen der Mensch diese Qualitäten einbüßt. Den menschlichen Fähigkeiten wird misstraut. Dennoch bleibt die Apparatur auf die individuellen Bewertungskompetenzen gerichtet, die sie stützen und verbessern will.

Der Beitrag hat gezeigt, dass es sich schwerlich behaupten lässt, dass nach der Finanzkrise in finanzmarktregulatorischer Hinsicht „nichts passiert“ wäre, wie es manchmal etwas fatalistisch heißt. Es sind enorme Umbrüche im Gange, die jedoch letztlich am Paradigma der individuellen Entscheidungsrationalität festhalten. Die Entscheidungs- und Bewertungsrationalität wird dabei jedoch nicht mehr einfach unterstellt, sondern über eine komplexe, verteilte und vernetzte Risikobewertungsapparatur hervorgebracht und beständig optimiert. Es drängt sich das Bild eines Marktkollektivs auf, in dem Risikobewertungen tendenziell über vorgegebene Formeln, Diskontierungssätze, Zinsstrukturkurven und Szenarien standardisiert werden, die jedoch auf eine granulare und individuelle (nicht in erster Linie vergleichbare) Risikobewertung gerichtet sind. Grobe, auf Vergleichbarkeit angelegte Bewertungsinstrumente eignen sich nicht, sollen die individuellen Risikosituationen adäquat abgebildet werden. Vielmehr geht es darum, ein reaktives Echtzeitregime zu installieren, das geänderte individuelle Risikokonstellationen flexibel und beweglich abbildet und beständig dazulernt. Es ist nun das System, das reaktiv und lebendig ist und als sensorische Prothese die schwach ausgeprägten kognitiven Bewertungskompetenzen der Personen steigern soll – insbesondere deren „spielerischen Umgang“, den es jedoch paradoxerweise zu beschränken droht. Eine tatsächliche „epistemische Partizipation“ (Reichmann 2013), die auf einem „Gefühl für die Zahlen“ beruht, droht verlorenzugehen.

Die Alternative wäre ein Aufsichtssystem, das nicht am Individuum und dessen Bewertungskompetenzen ansetzt und es mit Prothesen umgibt, sondern an der Gesellschaft bzw. den Strukturen. Man könnte dem Individuum wieder mehr Freiheit einräumen, wenn – auf das Feld der Finanzwirtschaft übertragen – von Mikroprudenzialität auf Makroprudenzialität umgestellt würde. Ein solcher aufsichtlicher Regimewechsel hat allerdings politisch derzeit kaum Aussicht auf Umsetzung (Thiemann 2020). Es ist vielmehr so, dass die vernetzte und permanent umprogrammierbare Risikokalkulationsapparatur sich eignet, ganz neue gesellschaftliche Risiken einzuarbeiten, wie etwa Klimarisiken (Bolton et al. 2020). Derzeit wird unter dem Stichwort Sustainable Finance daran gearbeitet, ganz unterschiedliche gesellschaftliche Risiken in die lebendige, vernetzte und verteilte Bewertungsapparatur einzubeziehen. Dies wird allerdings die Paradoxien nicht auflösen, die in dieser Forschungsnotiz unter Rekurs auf die Körpersoziologie herausgearbeitet wurden.