1 Einleitung

Diese Studie erfolgt im Rahmen des DFG-geförderten Projekts „Accounting und transformatorische Effekte im Profifußball“. Zu besonderem Dank bin ich Robert Schmidt, Kristina Brümmer, David Kempf, Philip Lambrix, Laura Völkle sowie Hilmar Schäfer und Stefan Laube verpflichtet. Weiterhin habe ich besonders Justus Heck zu danken, mit dem ich an einer früheren, allerdings nach der Feldphase verworfenen, Version dieses Papiers gearbeitet habe.

Ein Fußballspieler fällt: Er beschwert sich, verlangt nach einem Pfiff. Sein Gegenspieler beschwert sich seinerseits über die Beschwerde. Der Schiedsrichter pfeift. Er reagiert auf Bewertungskommunikation und trifft eine Entscheidung, die ihrerseits auch als kontingente Bewertung aufgefasst wird. Denn nun geht es ja weiter: Der bestrafte Spieler und seine Teamkameraden meckern. Der Schiedsrichter hat alle Hände voll damit zu tun, seine Entscheidung durchzusetzen und Akzeptanz für seine Bewertungsmaßstäbe herzustellen. Wir befinden uns inmitten der turbulentesten Szenen der Praktik des Pfeifens im Fußball.

Welche Form hat eine Bewertungspraktik, die sich radikal und situativ verkörpern muss? Und wie hängen Bewertungen und Entscheidungen zusammen? Im Folgenden untersuche ich aus bewertungssoziologischer Perspektive den Fall des SchiedsrichtersFootnote 2 und seiner Praktik des Pfeifens. Dabei stoße ich auf diese beiden Fragen. Dies ergibt sich, weil ich nicht frage, was Bewertungspraktiken (etwa des Spätkapitalismus) mit meinem Fall machen (wie es die Bewertungssoziologie häufig tut), sondern was mein Fall mit Bewertungspraktiken macht. Das führt erstens zur Frage nach der Körperlichkeit von Bewertungen. Und zweitens ergibt sich so die Möglichkeit, an konzeptuelle Debatten in der Bewertungssoziologie anzuknüpfen, die Bewertungen relationieren zu ähnlich basalen Praktiken wie Legitimation (Lamont 2012), Kategorisieren, Vergleichen und Quantifizieren (Heintz 2021) oder Entscheiden (Meier und Peetz 2021). Dies ermöglicht mir die praxeologische Unterscheidung von integrated practices, in meinem Fall der emische Gegenstand „Pfeifen“, und dispersed practices, im meinem Fall das analytische Interesse an Bewertungen (und Entscheidungen).

Mein Ausgangspunkt dafür ist die konfliktsoziologische Problematisierung der Schiedsrichterrolle im Fußballspiel aus dem Stand der Forschung heraus (1.). Daran schließt die Darstellung des qualitativ-praxeologischen Forschungsdesigns an (2.). Im ersten Schritt der empirischen Argumentation rekonstruiere ich den Zusammenhang von Entscheidungspraktiken des Schiedsrichters und Bewertungspraktiken des Spielpersonals in der Szene des umstrittenen Pfiffs (3.). Diese Situation, die den Schiedsrichter vorübergehend in den Mittelpunkt des Geschehens rückt und unter Entscheidungszwang stellt, dient als Hintergrund, um die Mobilisierung des Schiedsrichterkörpers für das Fußballspiel insgesamt und für die Entscheidungssituation im Speziellen zu beschreiben (4.). Im Fazit verknüpfe ich die gewonnenen Einsichten und lege dar, wie im Fußballspiel Bewertungs- und Entscheidungspraktiken sich wechselseitig mobilisieren. Außerdem stelle ich die Bewertungspraktiken des Schiedsrichters als körpersoziologisch instruktiv heraus. Im Gegensatz zu den von der Bewertungssoziologie präferierten Fällen von Verfahrens- oder KennerschaftsbewertungFootnote 3, benutzt die Praktik des Pfeifens genuin situative Bewertungspraktiken. Sie schafft sich ihre Plausibilität nicht über symbolische Darstellung von objektivierender Distanz, sondern (gegenteilig) über symbolische Darstellung vom Engagement in und mit dem Gegenstand der Bewertung (5.).

2 Das Fußballspiel und sein Schiedsrichter

Der Forschungsstand zur Soziologie des Fußballschiedsrichters ist nicht besonders umfangreich. Vielleicht liegt das daran, dass Sportwissenschaft und Soziologie des Sports in dieser Hinsicht den Relevanzen des Feldes verhaftet sind. Die Forschung richtet sich vor allem auf Sportler*innen und Zuschauer*innen, der Schiedsrichter bleibt – ganz seiner Rolle entsprechend – im Aufmerksamkeitsschatten des Feldes. Grob gesprochen lassen sich die vorliegenden Arbeiten in drei Kategorien einteilen. Erstens gibt es einen beständigen, wenn auch nicht sehr großen Strom von Arbeiten, die sich im Kontext der Sportsoziologie verorten und oft konzeptionell stark sportwissenschaftlich ausgerichtet sind (rezent Cunningham et al. 2015; Rullang et al. 2016). Teilweise aus den Sportwissenschaften heraus, teils aber auch aus der Soziologie, stammen verschiedene Arbeiten, die den Schiedsrichter von seiner Rolle in der Berichterstattung (Colwell 2004; Webb 2016) oder auch den Wechselwirkungen von Mediatisierung und Schiedsrichterwesen aus (Collins et al. 2016; Schmidl 2021) als soziologischen Gegenstand entdecken. Der hier vorliegende Beitrag ordnet sich einer dritten Strömung zu, welche den Schiedsrichter von Grundlagenforschungsinteressen bzw. einer sozialtheoretischen Problemstellung aus erschließt. So kommt der Fußballschiedsrichter z. B. in den zivilisations- und konfliktsoziologisch orientierten Arbeiten von Elias und Dunning als nicht unwesentliches Element des auf Gewalteinschränkung abzielenden Verregelungsprozesses in der frühen Fußballgeschichte in den Blick (Elias und Dunning 2008). Hier, genauso wie rezenter bei Werron, der das Thema in seinen globalisierungstheoretischen Studien zum Sport streift (Werron 2010, S. 368 f.), wird der Fußballschiedsrichter allerdings kaum als eigenständiges Forschungsthema erschlossen. Vielleicht liegt das daran, dass die Funktionen und Funktionsweisen des Schiedsrichters aus gesellschaftstheoretischer Perspektive so selbstverständlich erscheinen. Einen genaueren Blick in die Praxis, der diese falsche Vertrautheit befremdet, wagen dagegen einige mikrosoziologische Arbeiten.

Wichtige Beiträge in dieser Hinsicht hat eine soziologische Forschungsgruppe um Heck erarbeitet (Heck und Muhle 2021; Lampe 2021). Ausgangspunkt ist dabei ein konfliktsoziologisches Interesse speziell im Hinblick auf Figuren des „neutralen Dritten“. Diese Perspektivierung führt zunächst zu der grundlegenden Frage, welche strukturellen Folgen die Ausdifferenzierung der Rolle des Schiedsrichters für die Konfliktregulation des Spiels hat. In einer ethnografischen Untersuchung vergleicht Heck dazu zwei Fußballspielformen mit und ohne Schiedsrichter (Heck 2019). In den sogenannten „wilden Ligen“ spielen Mannschaften ohne Schiedsrichter. Sich zuspitzende Konfliktlagen verlangen auch hier nach Entscheidungen, für die im gängigeren DFB-verwalteten Fußball Schiedsrichter zuständig gemacht werden. Konflikte um mögliche Regelverstöße können in den wilden Ligen meist über konsensbasierte Praktiken gelöst werden: Selbstzensur statt Beschwerdeverhalten, Image-Schädigung bei übermäßigem Beschwerdeverhalten Einzelner und Kompromissbildung (etwa Freistoß anstelle des strittigen Elfmeters). Zusammengefasst im Hinblick auf den Umgang von Spielteilnehmern mit Regeln: Erstens „bekämpfen“ die Konkurrenten „einander mit moralischen Bandagen“ (Heck 2019, S. 42); zweitens kann das Regelwerk situativ flexibler gehandhabt werden als beim, auf dem offiziellen IFAB-Regelwerk basierten, Verbandsfußball. Dieser Kontrastfall legt den Blick auf eine soziologische Pointe der Ausdifferenzierung des (Fußball‑)Spiels mit Schiedsrichter frei: Gerade weil es einen Schiedsrichter gibt und Spieler deshalb von vielen Kooperationsanforderungen entlastet sind, wird ihr Verhalten für einen anderen, instrumentelleren Umgang (gezieltes Foulspiel, täuschendes Verhalten zur Schiedsrichterbeeinflussung usw.) mit Spielregeln freigesetzt (Heck nennt dies „professionelle Unfairneß“ (S. 48)). Der Schiedsrichter agiert dabei als „Blitzableiter“ für Konflikte und als Garantie für deren Überführung von Unentscheidbarkeit durch Perspektivendivergenz der Parteien in Entscheidung durch einen autorisierten Dritten. Hier lässt sich ein erster Verdacht in Hinblick auf den Zusammenhang von Entscheidung und Bewertung im Fußballspiel formulieren: Weil die Spielform mit Schiedsrichter Spieler von vielen spielkonstitutiven Kooperationsanforderungen freisetzt, können Spieler Bewertungskommunikation mit Bezug auf Regelverstöße instrumentell einsetzen. Es kommt dann, der antagonistischen Wettkampfstruktur entsprechend, häufig zur Artikulation widersprüchlicher Bewertungen von Spielszenen und Konfliktdynamiken, welche dann nur noch durch die Bewertungskompetenz und Entscheidungen eines autorisierten Dritten aufgelöst werden können.

3 Forschungsdesign

Die hier vorliegende Untersuchung basiert auf einer qualitativen Interviewstudie (2.1), die methodologisch-theoretisch dem Programm der Praxistheorie folgt (2.2.).

3.1 Empirische Ressourcen

Die folgenden Beschreibungen beziehen sich auf Dokumentenanalysen und qualitative Interviews. Als Dokumente ausgewertet wurden eine Reihe offizieller Dokumente wie das offizielle Regelwerk (DFB 2021), eine Handreichung „Schiedsrichterbeobachtung“ (DFB 2019), aber auch Quellen aus der Schiedsrichteröffentlichkeit wie die vierteljährlich erscheinende „Schiedsrichter Zeitung“. Hierbei, wie auch bei den Interviews, ging es um die Entwicklung einer praktischen Kenntnis (i. S. von Teilnehmerwissen), das „Aufsammeln von Ethnokategorien“ und „Autobiografien der Praxis“ (Krey 2020, S. 34) in textualen und verbalen Auskünften aus dem Feld. Die Interviews wurden im Zeitraum von Januar bis Juni 2021 mit acht verschiedenen Schiedsrichtern geführt, von denen der jüngste 27 und der älteste (nur noch als sogenannter „Lehrwart“ aktiv) 50 Jahre alt war. Den Pandemie-Umständen entsprechend wurden die Gespräche via Zoom geführt. Die meisten der interviewten Schiedsrichter stufe ich als höherklassige Schiedsrichter ein. Mit einer Ausnahme sind oder waren sie einmal auf der „Leistungsschiene“ (I_2), also einem Karrierestrang im Schiedsrichterwesen mit Aufstiegsdynamik, haben aber in der Regionalliga (sozusagen die „Schwellenliga“ für den Schritt in den Profibereich) oder eine Liga darunter ihr Limit erreicht. In allen Fällen handelte es sich außerdem um stark engagierte Mitglieder des Schiedsrichterwesens. Dies kann u. a. an der Tatsache erkannt werden, dass jeder der Interviewteilnehmer neben dem „Pfeifen“ noch weitere formale Funktionen bzw. Posten im Schiedsrichterwesen ausübt (Schiedsrichter-Beobachter, Lehrwart, Zuständiger für das Beobachtungswesen sowie Schiedsrichter-Ausschuss-Vorsitzender). Die Analyse des empirischen Materials erfolgte auf Basis von Methoden des qualitativen Kodierens (Breidenstein et al. 2013, S. 124 ff.), wobei sich insbesondere die Codeklasse „Pfiff/Pfeifen“ als zentral herauskristallisierte. Offene Codes, die in der folgenden Analyse aufgegriffen werden, lauten insofern u. a.: In-die-Pfeife-Blasen/Pfiffe körperlich ausführen; umstrittener Pfiff/technischer Pfiff; klarer/Bauchgefühl-Pfiff. Anknüpfend an die damit markierten Verhaltensprobleme der Schiedsrichter rekonstruiere und expliziere ich dann Engagementgebote (Goffman 2018) an die schiedsrichterliche Praxis aus dem Material. Die analytischen Kategorien aus meiner Datenanalyse stellen dann u. a. das allgemeine Zurückhaltungs-Gebot, welches den Schiedsrichter als eine Figur im Aufmerksamkeitsschatten des Spiels als Mitläufer platziert, dar. Der Schiedsrichter folgt dabei weiterhin einem Aufmerksamkeits- oder Wachsamkeits-Gebot, welches über die sogenannte „Laufarbeit“ bzw. ein visuell-motorisches Engagement eingelöst wird. Für jene Momente, in denen der Schiedsrichter aufgefordert ist, aus dem Aufmerksamkeitsschatten der Spielsituation herauszutreten, gilt das Gebot zum differenzierten Pfiff, das Gebot zur Verkörperung von Entscheidungssicherheit (Präsenz zeigen) und Linientreue sowie ein Konfliktabwicklungs-Gebot. Voraussetzung für eine solche Lesart des Materials sind aber theoretische Ressourcen, die ich im Folgenden kurz umreißen will.

3.2 Theoretische Ressourcen

Im Folgenden benutze ich den praxeologische Ansatz als ein Metavokabular, in dessen Rahmen sich verschiedene Theorieangebote ins Gespräch bringen lassen (vgl. Reckwitz 2000). Als solches dient die Praxeologie dazu, vom Ausgangspunkt einer Dezentrierung des Subjekts sowie einer gleichzeitigen Somatisierung und Materialisierung des Sozialitätsbegriffs verschiedene Theorieinstrumente fallsensibel zu mobilisieren und im Sinne theoretischer Empirie miteinander ins Gespräch zu bringen (Hirschauer 2009). Ich greife dabei auf die praxistheoretische Unterscheidung von integrative und dispersed practices zurück (Schatzki 2010). Der Begriff der dispersed practices bezieht sich bei Schatzki auf einen einzelnen Typ von Verhalten, während er unter integrative practices eine Bündelung verschiedener Verhaltensformen und Projekte versteht, wobei diese sich spezifischen Situationen oder Kontexten zuordnen lassen (ebd., S. 88 f., 98). Dabei setze ich an mit dem Begriff der Praktik des Pfeifens als integrative practice. Diese perspektiviert die Analyse fallsensibel, weil die Praktik des Pfeifens des Fussballs jene Fallspezifika beschreiben sollen, die einen Schiedsrichter zum Schiedsrichter machen. Die Rede von der Praktik des Pfeifens als integrative practice ermöglicht es darüber hinaus, den Gegenstand analytisch zu dekomponieren als Bündelung und spezifische Verknüpfung verschiedener dispersed practices des Kategorisierens, Bewertens, Entscheidens usw. Mit der Praktik des Pfeifens als integrative practice wird so analytisches Gewicht auf die Eigenlogik des spezifischen Falls gesetzt, der Begriff der dispersed practices ermöglicht es hingegen, analytisch an weite soziologische Vergleichshorizonte anzuknüpfen und etwa zu fragen, welche Einsichten der Fall für das Konzept der Bewertungspraktiken liefern kann.

Wichtige spezifischere theoretische Ressourcen, um jene dispersed practices zu konzeptualisieren, greife ich aus Luhmanns kommunikationstheoretischen Überlegungen zur Entscheidungstheorie auf (Luhmann 2000). Dabei nutze ich Goffman als eine Art Brückenautor zwischen Praxis- und Kommunikationstheorie. Sein Interaktionsordnungs-Vokabular ist hierfür instruktiv (Goffman 1983), weil es ein Nebeneinander verschiedener Verhaltensmodi vorsieht (vgl. Müller 2016, S. 354). Dieser Punkt ist wichtig für die Analyse meines Falles, weil die Praktiken, die im Pfeifen gebündelt sind, sich erstrecken über ein Kontinuum von Verhaltensmodi. Einerseits verlangen einige im Pfeifen gebündelte Praktiken, wie die des Mitlaufens und Mitschauens des Schiedsrichters auf dem Spielfeld, nach spezifisch praxeologischen Analysemitteln, insofern es sich um habitualisierte Körpertechniken handelt. Andererseits tauchen im Material Hinweise auf situative Verdichtungen der Praktik des Pfeifens auf, in denen es um völlig andere Verhaltensmodi geht, etwa solche der Kommunikation von Bewertungen und Entscheidungen. Im Hinblick auf Körperlichkeit sensibilisiert Goffman dabei nicht nur für die Körper als kommunikative Symbole in Interaktionsritualen, sondern ganz besonders auch für die Rolle von Emotionskontrolle, Wahrnehmungsspezifika oder Bewegungsgeschicklichkeit (siehe insbesondere Goffman 1967, S. 149–270). Eine zentrale Rolle spielt deswegen im Folgenden Goffmans Begriff des Engagementgebots. Damit sind Verhaltensnormen gemeint, welche Teilnehmer von Situationen als Körper und kommunikative Adressen, aber eben auch im Hinblick auf ihre emotionalen Zustände und perzeptiven Leistungen mobilisieren (Goffman 2018). Sie betreffen mithin nicht nur die Form, in der Teilnehmer aktiv handeln, kommunizieren oder interagieren, sondern jegliche Art ihres körperlichen Anwesend-Seins.

Relativiert man in diesem Sinne Kommunikation einerseits, Routine andererseits als spezielle Fälle von Verhaltensmodi, in denen sich Praktiken vollziehen, lassen sich Systemtheorie und Praxistheorie miteinander ins Gespräch bringen (Müller 2016). Speziell Luhmanns Entscheidungstheorie teilt mit dem praxeologischen Programm weiterhin eine konstitutive Abgrenzung gegen die sozialtheoretische (und tendenziell mentalistische) Verabsolutierung des Entscheidungskonzepts in der Rational-Choice-Theorie und Psychologie (insb. Luhmann 1988, S. 272 ff.). Praxeologische Beobachtungen des Entscheidens stellen üblicherweise ab auf strenge Kriterien für den Begriff des Entscheidens, die vor einer rationalistisch-intellektualistischen Projektion der Entschidungsförmigkeit des Verhaltens bewahren sollen. Es reicht für die Qualifizierung eines sozialen Ereignisses als Entscheidung demnach nicht aus, dass eine wissenschaftliche Beobachter*in sie als Entscheidung beobachtet. Praxeologisch gesehen ist es vielmehr notwendig, dass ein Ereignis in und für die soziale Praxis, aus der sie entsteht und auf die sie sich bezieht, als Entscheidung hervorgebracht wird, um sie als solche zu bezeichnen. Deshalb dekonstruieren praxeologische Ansätze die mentalistische Zurechnung von Entscheidungen auf Bewusstseinsakte z. B., indem sie aufzeigen, wie Momente der Praxis erst ex post als Entscheidungen deklariert und beobachtbar gemacht werden (vgl. Heimerl und Hoffmann 2016; Schmidt 2019). Zentral ist es daher, nicht unreflektiert an den Sprachgebrauch mit seinen „individualistischen kulturellen Deutungen“ (Schmidt 2019, S. 56) anzuschließen und Pfiffe von vornherein als individuelle Entscheidungen zu begreifen. Leitend wird im Folgenden vielmehr die Frage sein, unter welchen Umständen welche Form von Pfiffen praktisch als entscheidungsförmig hervorgebracht wird. Dabei wird anknüpfend an Systemtheorie und Praxistheorie nicht das Bewusstsein des Subjekts als „sinnsetzende Instanz“ (ebd., S. 57) des Entscheidungsvorgangs unterstellt, sondern rekonstruiert, wie es dazu kommen kann, dass Teilnehmer eine solche Zurechnung vornehmen. Verortet man die Entscheidung also nicht im Mentalen, sondern in der Praxis, kann man weiterhin fragen, wo genau in der Praxis die Konstitution von sozialen Ereignissen als Entscheidungen verortet werden kann. Insofern die expressive Explizität jener praktischen Vollzüge, die sich praxeologisch als Entscheidungen qualifizieren lassen, ohnehin sehr hoch ist, lassen sich mithilfe der Praxeologie Schiedsrichter-Entscheidungen vor allem im Praxisvollzugsmodus expliziter Kommunikation verorten. Luhmanns kommunikationstheoretischen Überlegungen zu Form, Verbreitung und Funktion der Entscheidungsförmigkeit in modernen Gesellschaften erscheinen daher anschlussfähig für die Praxeologie. Ich beginne nun die empirische Beschreibung, indem ich vom wichtigsten Handlungsproblem des Schiedsrichters im Spiel ausgehe: dem umstrittenen Pfiff.

4 Der (umstrittene) Pfiff: Eine Entscheidung und ihre Bewertungen

Doch fangen wir noch einmal vorne an. Nämlich bei der grundlegenden Leistung der Praktik des Pfeifens: der Herstellung eines Spielteilnehmers als Schiedsrichter. Nach den Spielregeln des Fußballs ist es vorgesehen, dass sich auf dem Spielfeld 25 Teilnehmer tummeln. Qua Trikots werden zwei Mal je elf Teilnehmer als Spieler einer Mannschaft differenzierbar. Weiterhin gibt es einen Schiedsrichter mit zwei Schiedsrichterassistenten. Auch sie sind per Trikotfarbe (früher stets ganz in Schwarz, neuerdings hat sich das Farbspektrum geöffnet) ihrem Team, d. h. dem Team der „Offiziellen“, zuzuordnen.Footnote 4 Außerdem sind Schiedsrichter und Schiedsrichterassistenten die einzigen Spielteilnehmer auf dem Rasen, deren regelkonformes Verhalten das Agieren mit Artefakten einschließt, die nicht der Ball oder Kleidungsstücke sind: Pfeife, Notizblock und gegebenenfalls Headset beim Schiedsrichter; Fahne, gegebenenfalls Headset und Notizblock bei den Schiedsrichterassistenten. Damit ist aber zunächst einmal nur die materielle Infrastruktur bezeichnet. Die praktische Differenzierung der Teilnehmer in „Spieler“ und „Offizielle“ bzw. „Schiedsrichter“ vollzieht sich vor allem in und durch ihre jeweils distinkten Formen der Teilnahme am Spielgeschehen. Das Feld weiß diese Verhaltensrepertoires sprachlich zu unterscheiden: „Spieler“ „spielen“ und „Schiris“ „pfeifen“. Was genau macht das „Pfeifen“ also aus?

4.1 Präsenzgebot und der differenzierte Pfiff: Bewertung durch In-die-Pfeife-Blasen

Ich beginne meine Beschreibung des Sets an Praktiken, die ich mit dem Begriff „Praktik des Pfeifens“ zusammenfasse, indem ich bei der buchstäblichen Bedeutung ansetze. Wenn ich also zunächst nach der eigentlichen Praktik des In-die-Pfeife-Blasens im Rahmen des Fußballspiels frage, fokussiere ich nicht bloß eine Praktik, über die zu verfügen im Sinne der Spielregeln nur dem Schiedsrichter zusteht, sondern knüpfe auch an die Metaphern in der Semantik des Feldes an. So wird nicht nur die Partizipation des Schiedsrichters häufig mit dem Verb „pfeifen“ bezeichnet. Auffällig ist auch, dass der Schiedsrichter in der pejorativen personalisierten Substantivverwendung („Du Pfeife!“) über dieses Artefakt symbolisiert wird. Ein Teilnehmer aus meinen Interviews hat die Anforderungen an diese für Schiedsrichter sehr zentrale Körpertechnik am Begriff des „differenzierten Pfiffs“ (I_1) festgemacht. Damit ist das Gebot gemeint, dass der Schiedsrichter mit Pfiffen nicht einfach nur Foul‑/Spielunterbrechungsmarkierung kommuniziert, sondern gewissermaßen auch Feintypisierungen seiner Situationseinschätzung. Verknüpft damit ist das weitere Gebot, sich in diesen Situationen eine, dem jeweiligen „Vergehen“ angemessene, „Präsenz“ zu verschaffen. „Präsenz“ wird dabei verstanden als die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit maßgeblicher Spielteilnehmer zu zentrieren und sich durchsetzungsstark zu zeigen im Hinblick auf die Festlegung operationaler Anschlüsse des Spielverlaufs. Aus einer Ausgabe der „Schiedsrichter Zeitung“ mit dem Titelthema „Das Instrument des Referees – Tipps und Tricks für den Umgang mit der Pfeife“ lässt sich dazu folgender Ratschlag entnehmen: „Wagner [DFB Lehrwart]: ‚Wenn ich nach zehn bis 15 min Langeweile im Anschluss an ein rustikales Foul einen beherzten, lauten Pfiff setze, gebe ich zu erkennen: Hoppla, ich – der Schiedsrichter – bin ja auch noch da!‘“ (DFB 2021, S. 7) Und weiter: „Sowohl für Hartmann [Bundesliga Schiedsrichter] als auch für Wagner steht an oberster Stelle, dass Pfiff und Vergehen zusammenpassen. ‚Die Variation muss stimmen und die Gewichtung muss erkennbar sein‘, sagt Wagner. ‚Mit dem Pfiff gebe ich dem Umfeld zu erkennen, dass ich von meiner Entscheidung überzeugt bin‘, betont Hartmann.“ (ebd., S. 8) Schon hieran lässt sich erkennen, dass der Pfiff nicht nur eine formale Festlegung mitteilt – Foul/Nicht-Foul – sondern im gleichen Akt diese über akustische Feindifferenzierung mit weiteren Bewertungen verknüpft. Mit der Forderung nach Präsenz durch differenziertes Pfeifen – im Falle des „harten“ Vergehens etwa der „beherzte“, bloß nicht „schüchterne“ Pfiff (ebd., S. 7) – wird der Blick dabei auch auf die Ko-Konstitution von Vergehen, Konfliktherd und ihren Akteuren gelenkt: Der Schiedsrichter konstituiert sich selbst auf der Ebene einer informell-symbolischen Ordnungsbewahrung als mehr oder weniger einschreitend im Verhältnis zur relativen „Brenzlichkeit“ (I_1) des Konfliktherdes und gleichzeitig das Vergehen als von dieser oder jener „Härte“. Die gleichzeitige und mehrfache Konstitution von Spielelementen durch den Pfiff endet aber noch nicht bei Konfliktherd, Vergehen und Schiedsrichter, sondern bezieht sich auch auf die Spieler. Hier ist der Blick auf Möglichkeiten der „weichen Sanktion“ (I_3) jenseits der formalen „persönlichen Strafen“ bzw. Karten instruktiv. Aufbauend auf die basale und recht dünne Differenz Foul/Nicht-Foul kann ein Vergehen mithilfe des differenzierten Pfiffs (Klangform) einerseits und an den Pfiff selbst (sequentiell) unmittelbar anschließende Handlungsrepertoires des Schiedsrichters (Hinrennen, wütende Gestik und Mimik, Karte-Zeigen usw.) andererseits eine große Bandbreite von Bewertungen der Szene kommunizieren. Am unteren Ende des Spektrums der Pfiffe, also vor dem Zeigen der „persönlichen Strafen“ bzw. Karten, kann ein Foul so dramaturgisch bloß als beiläufige Störung unterbunden werden oder es kann zu einer mündlichen „Ermahnung“ führen. In beiden Fällen bedingt der Pfiff dann formal vor allem eine Unterbrechung und einen Freistoß für die Mannschaft des Gefoulten. Symbolisch und informell hat der Spieler im ersten Fall kaum auf Anschlussproblematiken zu achten, im zweiten Fall aber gilt: „Er ist vorgewarnt worden: ‚Du hast jetzt schon ein dickes Ding aufm Konto!‘“ (I_6). Im differenzierten Pfiff und daran anschließende Handlungsrepertoires werden also nicht nur Spielereignisse als Vergehen kategorisiert und Schiedsrichter zu diesen Vergehen als potenziellen Konfliktherden als präsent platziert, sondern auch Spieler wertend als beteiligt zugerechnet (grob: Opfer/Täter) und in eine Art virtuelle Strafbuchführung eingetragen (unbescholten/vorbestraft). Besonders offensichtlich ist der Bewertungscharakter dieser Zurechnung, wenn er symbolisch-interaktiv aufgeladen wird mit moralischem Gehalt. So sprechen Schiedsrichter davon, dass man sich in wirklich „hässlichen“ Szenen den Spieler „vorknöpfen“ müsse (I_1). Ob nun schon auf der formalen Ebene einer dünnen operativen Festlegung des Spielverlaufs entlang der Kategorie Foul/Nicht-Foul oder auf der Ebene der dichten Anreicherung des Pfiffs über differenzierte Pfeiftechnik und Anfügen körperlich-verbaler Kommunikation von moralischer Empörung, immer ist dem Pfiff eine Tendenz zur Asymmetrisierung eigen: Eine Mannschaft verliert den Ballbesitz oder bekommt ihn zugesprochen, ein Spieler bekommt einen negativen Vermerk auf seinem virtuellen Vorstrafenkonto usw. Mithin geht es hier also um einen vierfachen und wertenden Kategorisierungsakt: Der Schiedsrichter kategorisiert ein Spielereignis mit dem asymmetrischen Schema (legal/illegal), setzt dieses Ereignis als Vergehen ins Verhältnis zu einem potenziellen „Konfliktherd“ bzw. einer Konfliktsequenz (Messmer 2003) und verknüpft diese Ereigniskonstruktion mit einer Täter-Zuschreibung, wodurch er die beteiligten Spieler wiederum asymmetrisch kategorisiert (Opfer/Täter) und sich selbst über die Gradierung seiner Entschiedenheit dazu als mehr oder weniger präsenter und mithin alarmierter Ordnungshüter platziert. Im Vorgriff möchte ich anfügen, dass diese Kategorisierungsleistungen des Pfiffs unter bestimmten Umständen vom Spielpersonal nicht bloß als notwendige Ableitung aus den Spielregeln weiterverarbeitet, sondern dem Schiedsrichter in und durch kritische Kommunikation (Beschwerden und „Gemecker“) kommunikativ als Entscheidung zugerechnet werden. Im Pfiff fallen daher mitunter Kategorisieren, Bewerten und Entscheiden praktisch wie zeitlich zusammen.

4.2 Zurückhaltungs-Gebot und umstrittener Pfiff: Zur sequentiellen Verknüpfung von Entscheidung und Bewertung

Um den Blick auf jenen Entscheidungscharakter des Pfiffs zu lenken, ist ein Fokus auf den „umstrittenen Pfiff“ instruktiv. Im Sinne der Feldsemantik ist dieser Pfiff zunächst vom „bloß technischen Pfiff“ (I_6) zu unterscheiden. Eine große Zahl von Pfiffen wird demnach vom Spielpersonal ohne besondere Anschlussaktionen zur Kenntnis genommen. Der Pfiff informiert dann über kategoriale Festlegungen des Weiterspielens (etwa „Aus“ und nicht „Drin“, deshalb „Einwurf“-Unterbrechung nicht „Weiterspielen“), wird aber selbst nicht zum Thema des situativ-kommunikativen Geschehens. Der unbeachtete Pfiff ist insofern nicht Entscheidung, sondern eine Technik, d. h. eine kausale Zuschreibung, die nicht dem ausführenden Teilnehmer zugeschrieben wird (Luhmann 2000, S. 361 ff.). Ich will nun hier anknüpfend auf einen anderen Zusammenhang von Entscheidungen und Bewertungen hinweisen, als deren mögliches Zusammenfallen wie es mit Blick auf den „differenzierten Pfiff“ erkennbar wird. Alle interviewten Schiedsrichter äußern eine generelle Präferenz für eine unauffällige Partizipation am Spiel. In diesem Sinne gilt ein Schiedsrichtereinsatz dann als „gelungen“, wenn „nach dem Spiel keiner über den Schiri spricht“ (I_5). Verwirklichen lässt sich dieses Ideal mit dem technischen Pfiff. Der umstrittene Pfiff dagegen exponiert den Schiedsrichter im Zentrum des spielöffentlichen Geschehens. Der Impuls zur Exponierung eines Pfiffs, als umstritten bzw. entscheidungsförmig, sollte im Sinne dieses Zurückhaltungsgebots nicht vom Schiedsrichter ausgehen. Welche Form von Spielereignis aber zwingt den Schiedsrichter, mit welchen Mitteln, in diese Entscheidungssituation?

Ich rekonstruiere idealtypisch (vgl. Tab. 1): Ein (eventuell) Gefoulter schreit und fällt theatralisch, sein unmittelbarer Gegenspieler übt sich in einer Unschuldsmiene, umstehende Spieler reklamieren oder protestieren (je nach Teamzugehörigkeit), ein Raunen geht währenddessen durchs Stadion. Der Fortgang des Spiels hängt nun nicht mehr nur von den Aktionen der Spieler ab, sondern vom Schiedsrichter. Das Spiel ist in der Schwebe. In dieser Situation ist der Schiedsrichter zunächst zur Kommunikation gezwungen. Er kann nun nicht mehr nicht kommunizieren. Entweder er pfeift und teilt damit seine Einschätzung der Situation als Foul mit oder er pfeift nicht, was aber ebenfalls eine Mitteilung wäre. In solchen Fällen erzeugt das Spiel nicht nur einen Kommunikations-, sondern auch einen Entscheidungszwang. Die Form ähnelt grob Adjacency Pairs aus der Konversationsanalyse: Es kommt zu einer Spielaktion mit Regelbruchpotenzial, ein Spieler „fällt richtig“, d. h. er fällt nicht nur als physikalischer Körper zu Boden, sondern benutzt dabei als Spieler ein bestimmtes – fußballeigenes – theatralisches Repertoire der Darstellung des Gefoult-Werdens (vgl. Heck 2019) oder es kommt gar zur verbalen Reklamation d. h. in beiden Fällen einer kommunikativen Markierung der Situation als Foul. Man könnte auch sagen: Ein oder mehrere Spieler kommunizieren eine Bewertung des Spielgeschehens als Foul. Meistens wird die Gegenseite hierauf implizit reagieren – weiterspielen kennzeichnet eine gegenteilige Markierung des Ereignisses als Nicht-Foul –, leicht explizit mit Unschuldsmiene oder stark explizit mit Gegen-Reklamieren. Der Schiedsrichter antwortet und hat nun nur noch die Wahl zwischen manifest gewordenen Handlungsoptionen: Er pfeift oder unterlässt einen Pfiff, wobei er Letzteres kommunikativ, vielleicht zusätzlich mit einer „Weiterspielen“-Geste, verdeutlicht. Dabei präfiguriert die Gegenläufigkeit der vorab kommunizierten Bewertungen durch Spieler unterschiedlicher Mannschaften – Unschuldsmiene hier, theatralisches Fallen dort – prospektiv eine Kommunikationssituation für den Schiedsrichter als Entscheidungssituation. Im Anschluss an diese Aufforderungs-Entscheidungs-Sequenz folgt meist ein dritter Zug vonseiten der Spielenden: Der Schiedsrichter wird gelobt oder kritisiert, mithin wiederum bewertet (vgl. Tab. 1). Auch dieser Zug kann den Pfiff als Entscheidung hervorbringen, dieses Mal freilich rückwirkend. Es liegt dann nahe, davon zu sprechen, dass alle Züge der Sequenz den Pfiff mit öffentlich sichtbarer Valenzhaltigkeit und Entscheidungsförmigkeit anreichern. Die Entscheidungsförmigkeit des Pfiffs ergibt sich demnach nicht durch einen Bewusstseinsakt (den man durch Beobachtung ohnehin nur unterstellen kann), sondern durch das Manifest-Werden des Pfiffes als Auswahl aus verschiedenen Handlungsoptionen in der kommunikativen Sequenz (Luhmann 2000, S. 123 ff.). Manifest werden die Handlungsalternativen durch Kommunizieren alternierender Bewertungen und der damit implizierten Verhaltenserwartungen an den Schiedsrichter durch das Spielpersonal (I.), Markieren des Entscheidungscharakters durch die spezielle Form des Pfiffs durch den Schiedsrichter (II.) und die nachträgliche Markierung des Pfiffs als „falsch“ und mithin anders möglich durch das Spielpersonal (III.).

Tab. 1 „Forced-Choice“-/Konflikt-Sequenz

5 Das Spiel mit der Bewertung und die Gefahr der Entscheidung

Bislang habe ich bestimmte, herausgehobene Sequenzen des Spielverlaufs untersucht: strittige Szenen mit ihrem entscheidungsförmigen Pfiff. Was hat es aber auf sich mit weniger auffälligen Sequenzen? Wie engagiert das Spiel den Schiedsrichter über den gesamten Spielverlauf als Bewerter? Und wie hängen unterschiedliche Spielverläufe mit dem Auftauchen von Bewertungs- und Entscheidungspraktiken im Spiel zusammen?

5.1 Entscheidungsbereitschaft: Mit den Beinen sehen

Die Mobilisierung des Schiedsrichters über die gesamte Dauer des Spiels zielt darauf ab, den Schiedsrichter in und für die Entscheidungssituation als aus einem laufenden und bewertenden Engagement heraus agierend zu platzieren. Dieses Engagementgebot des Schiedsrichters, im Hintergrundgeschehen des Spiels stetig als evaluierender Beobachter mitzulaufen, wird vor allem über motorisches und visuelles Engagement eingelöst. Ich halte mich zunächst an den motorischen Aspekt.

Obwohl er selbst keinen Spieler darstellt, ist es dem Schiedsrichter erlaubt, sich auf dem Spielfeld zu platzieren. Unter den vielen Spielteilnehmern, die nicht gegen den Ball treten dürfen (Trainer, Auswechselspieler, Zuschauer usw.), ist er in dieser Hinsicht privilegiert. Sinn dieses Privilegs ist offensichtlich, dem Schiedsrichter als unparteiischem Spielteilnehmer mit Entscheidungsautorität ein „epistemisches Privileg“ (Collins et al. 2016) zurechenbar zu machen. Er darf näher dran sein als alle anderen – und im Zweifel auch den „Spielfluss“ störend im Weg stehen –, um so die Möglichkeit der Zurechnung seiner Bewertungen auf Fehlwahrnehmung zu minimieren. Es ist aber erst seine „Laufarbeit“, die dieses formal zugestandene epistemische Privileg praktisch hervorbringt und ihn situativ als kompetenten Bewerter bzw. privilegierten Zeugen der Situation qualifiziert. Der sogenannte „Schiedsrichter-Beobachtungsleitfaden“ (DFB 2019) stellt deshalb eine ganze Rubrik in einem Schema zur Bewertung von Schiedsrichterleistungen unter die Überschrift „Körperliche Verfassung und Stellungsspiel“ und verlangt hier von den Prüfern der Schiedsrichterleistung u. a. ein Augenmerk auf „Laufstil“ und „Grundschnelligkeit“. Als „Stellungsspiel“ aufgefasst, sind die Grundprinzipien des motorischen Engagements zunächst simpel. So wird in den Interviews z. B. mehrfach die Formel „nicht zu nah, aber auch nicht zu weit weg“ aufgerufen (I_1, I_4, I_5, I_6). Diese besonderen Anforderungen an die Proxemik des Schiedsrichters erfüllen dabei im Kern zwei Leistungen. Erstens platzieren sie seine visuellen (und sonstigen) Wahrnehmungskapazitäten vorteilhaft. Man könnte zugespitzt sagen: Der Schiedsrichter sieht zuallererst mit den Beinen. Zweitens soll die richtige Proxemik des Schiedsrichters nicht nur seine Wahrnehmungsfähigkeit ermöglichen, sondern diese nach außen hin als visuelles Engagement signalisieren. In den Worten eines Schiedsrichters: „Wenn man ein Foulspiel pfeift, schaut sich der Spieler zumeist um, um zu sehen, wo der Schiedsrichter steht. Steht er direkt hinter oder neben ihm, bleibt der Protest aus“ (Schröder 2015, S. 78).

Freilich: Fitness und Schnelligkeit allein sind noch nicht hinreichend für ein gutes „Stellungsspiel“. Im Leitfaden finden sich deshalb auch komplexere Bewertungskriterien. „Spielnähe und Präsenz“ etwa lassen die symbolische Funktion, die Beobachtungsautorität zu verkörpern, anklingen. „Schnelle Überbrückung des Mittelfelds“, „[f]lexible Ausrichtung des Laufverhaltens bei Spielverlagerungen“ und „Stellungsspiel bei Standardsituationen“ verweisen auf ein irgendwie in der Spiellogik verankertes Wissen um unterschiedliche Relevanzzonen des Spielfeldes. Und schon die Bezeichnung des motorischen Engagementgebots als „Stellungsspiel“ im Schiedsrichtervokabular verweist dazu passend auf eine taktische Komponente des motorisch-visuellen Engagements. Worum geht es also? Das Fußballspiel ist ein komplexes Bewegungsgeschehen vieler Körper, das auch mit noch so viel „Laufarbeit“ nicht zur Gänze zu Über- und Durchblicken ist. Lange Pässe, schnelle Sprints oder andere kaum vorhersehbare Geschehnisse verlagern den Ort des Geschehens. „Bei einem Konter nach einer Ecke, am besten noch in der 90igsten, nimmt dir so ein junger Kerl in der Regionalliga schon mal 30 m im Vollsprint ab.“ (I_1) berichtet ein Studienteilnehmer. „Stellungsspiel“ ist in diesem Sinne eine für die Logik des Spielgeschehens sensible Art des Laufens. Es verlangt vom Schiedsrichter eine Kenntnis des Spiels, die sich nicht im formalen Regelwerk erschöpft, sondern die Fähigkeit zur Antizipation des Spielgeschehens einschließt. Bis zu einem gewissen Grad wird daher vom Schiedsrichter erwartet, wie ein Fußballspieler denken und wahrnehmen zu können. Ein Lehrwart spricht im Interview explizit von der Anforderung eines „gewissen Spielverständniss[es]“ (I_5).

Insofern verlangt das motorische Engagement vom Schiedsrichter eine gewisse sportlich-praktische „Mitspielfähigkeit“ (Brümmer 2014). Das hat einen weiteren Aspekt, der nicht nur von Körpertechniken der Beine stärker auf Körpertechniken der Augen verweist, sondern deutlich macht, dass das motorisch-visuelle Engagement den Schiedsrichter nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit des Spiels platziert. So berichtet mir ein Schiedsrichter über Entscheidungen, die er „aus dem Bauch heraus“ treffe. Es könne vorkommen, dass er auf ein reklamiertes Handspiel keine freie Sicht hat, „aber vom Ablauf her, kann’s eigentlich nur Handspiel gewesen sein“ (I_6). Der Schiedsrichter verortet sein für die Sehpraktik konstitutives Wissen im Körper („Bauch“). Weiterhin lässt sich erahnen, dass hier ein appräsentierendes Sehen zur Anwendung kommt. Dieses rekurriert auf ein nur über Spielteilnahme inkorporierbares implizites Wissen zu Bewegungstypiken (von Bällen und Spielern). Dazu passt, dass er berichtet, in einem Spiel, welches ihm „entgleite“, schaue er „nur noch hinterher“. Eine kognitive Verunsicherung, so könnte man hier deuten, die erlebbar wird als ein zu geringes Appräsentationstempo. Schröder berichtet vom spiegelverkehrten Fall. Der ungewohnte Einsatz in niedrigen Spielklassen führe bei ihm, wie bei Schiedsrichterkollegen, zu einer Wahrnehmung des Spielgeschehens als „Zeitlupenfußball“ (Schröder 2015, S. 70). Das auf höheres Spieltempo eingestellte Appräsentationsvermögen erscheint hier unterfordert durch relative Vorhersehbarkeit von Bewegungsabläufen.

5.2 Klare Pfiffe: Entschiedenheit verkörpern

Die andauernde und spielintelligente Laufarbeit besorgt dem Schiedsrichter eine gute Ausgangsposition, um in Entscheidungssituationen zu agieren. Bevor ich nun darauf eingehe, wie es nicht nur sequentiell, sondern interaktionsgeschichtlich dazu kommt, dass der Schiedsrichter unter Entscheidungsdruck gerät, gehe ich zunächst noch einmal auf die Szene des umstrittenen Pfiffs ein. Wie sind die schiedsrichterlichen Engagementgebote in dieser Reklamation-Entscheiden-Kritik-Sequenz selbst beschaffen?

Eine Interviewpassage liefert eine Beschreibung, die uns mitten ins Gemenge jener Szene versetzt: „Der Adrenalinspiegel ist total hoch. Dann kommen ganz viele Spieler drum herum, meistens gelb oder rot, ne?, die kommen ja schon alleine aufgrund der Härte des Foulspiels […] Und wir reden wirklich über Sekunden, die du da stehst, Foul gepfiffen hast und willst Rot geben. Und dann nimmst du dir nochmal fünf Sekunden, weil du willst drüber nachdenken? Das sieht nach außen hin ja schon dann … Dann nimmt dir das keiner mehr ab. Nicht: ‚Das hat der sich gut überlegt‘ oder so. Sondern: ‚Der ist sich halt unsicher!‘“ (I_8) Weil der Pfiff schon gesetzt ist, konzentriert sich die Reklamationskommunikation im Szenario auf die anstehende Anschlusshandlung, welche die Kategorisierungsleistung des Pfiffs spezifizieren wird. Geschildert wird dieser Moment hier als Zwang zur Entscheidung nach der Entscheidung. Und dieser Zwang wird dem Schiedsrichter dabei durch die aufgebrachten Spielparteien proxemisch und verbal ganz buchstäblich aufgedrängt. Auf Nachfrage erläutert er zur Nachteiligkeit langer Bedenkzeit in einer solchen Szene: „Wenn ich mir von der ersten Millisekunde zu hundert Prozent sicher gewesen wäre: Strafstoß und Gelb. Oder Freistoß und Rot. Würde ich’s ja sofort ziehen. Also muss ich ne Sekunde drüber nachdenken. Und das zeigt sich sofort.“ (I_8) Es scheint hier demnach darum zu gehen, dass die verschiedenen Kategorisierungsleistungen in eins fallen bzw. als aus einem Guss erfolgt erscheinen. Dazu passt eine Eigenheit des differenzierten Pfiffs (I_1, I_4). So gilt, dass idealerweise: „mit dem Erklingen des Pfiffes sofort klar ist, was hier gepfiffen wurde“. Man kann von einem Gebot zum schnellen Entscheiden sprechen.

Es ist demnach das sichtbar werdende Nachdenken-Müssen, das die Aufführung des Schiedsrichters belasten kann: Sie könne nicht auf dem augenblicklichen Erkennen basieren, sondern erscheine als unsicheres Erschließen. Das Spielpersonal traut in diesem Sinne der Schiedsrichterwahrnehmung vielfach keine Bewertungssicherheit zu oder tut zumindest so als ob. Derselbe Schiedsrichter führt weiter aus: „Und dann hab ich die Diskussionen auf dem Patz. Und deswegen ist es in manchen Spielen wichtiger, die Entscheidung zu verkaufen, auch wenn sie falsch ist.“ (I_8) Bemerkenswert ist hier wie an anderen Stellen in meinen Interviews das offene Sprechen über Momente des Täuschens vonseiten der Schiedsrichter. Vielleicht liegt ein Grund dafür darin, dass Schiedsrichter mitunter mit der Schwierigkeit konfrontiert sind, ihre eigenen (schon erfolgten) Entscheidungen als Fehlentscheidungen zu beobachten: „Normalerweise spürt man eine Sekunde nach dem Pfiff, ob er richtig ist. Anhand der Reaktionen aller Beteiligten. […] Also es gibt ja klare Signale: entsetzte Blicke. Oder dass selbst der Gegner verwirrt guckt.“ (I_4) Was genau kann dem Schiedsrichter aber in der verbalen Protestkommunikation nach dem Pfiff widerfahren? Die auf den Pfiff folgende verbale Kommunikation zwischen Schiedsrichter und Spielpersonal dient einer Prüfung von Entscheidungssicherheit des Schiedsrichters durch Spielpersonal (in Sinne von „character contests“, Goffman 1967, S. 240 f.). Es gilt für Schiedsrichter demnach, so wenig Täuschung wie möglich einer interaktiven Prüfung durch kritisierend bewertendes Spielpersonal zugänglich zu machen. So unterscheidet ein anderer Schiedsrichter Pfiffe dahingehend, auf welche Beobachtungs- bzw. Bewertungsgrundlage er sie beziehen kann. Wenn er eine Spielaktion nicht genau einsehen könne („klarer Pfiff“/„Bauchgefühl-Pfiff“) oder gar auf die Wahrnehmung seines Assistenten vertrauen müsse, falle ihm der Umgang mit Protestkommunikation schwer. „Weil dann kommen vielleicht Argumente: ‚der war gar nicht an der Hand‘ und ich kann nicht widersprechen, weil ich’s ja nicht direkt gesehen habe.“ (I_6) Damit komme ich nun zur Frage nach Auswirkungen von Beschwerden.

5.3 Strukturelle Folgen von Beschwerden: Taktiken für das Spiel im Spiel

Über die Darstellung und Beobachtung seines Engagements im Spiel als Bewertungspraktiken koppelt sich der Schiedsrichter an eine mit dem Spielpersonal geteilte Öffentlichkeit des Spiels, in der die Bedingungen der Akzeptanz von Pfiffen verhandelt werden. Protestierende Bewertungskommunikation durch Spieler, wie sie etwa in Anschluss an einen umstrittenen Pfiff erfolgen kann, ist deshalb nicht folgenlos. Sie folgt vielmehr einer Verkettung von Entscheidungssituationen (Luhmann 2000, S. 222 ff.) und dient (u. a.) der Destabilisierung und Aneignung von Bewertungsinstrumenten durch das Spielpersonal. Schiedsrichter berichten diesbezüglich von der Gefahr einer Dynamisierung von protestierenden Bewertungen: „Und das Problem ist halt eigentlich nicht in dieser Sekunde, den Freistoß gibt’s trotzdem und die rote Karte gibt’s trotzdem. Das Problem ist ja die folgende Situation. Dann wird wieder angefangen, alles zu kommentieren.“ (I_8) Mit Gebauer nenne ich den Aspekt der (sehr fußballtypischen) fortlaufenden Versuche des Spielpersonals, auf die Pfiffe des Spielverwalters Einfluss zu nehmen, „Spiel im Spiel“ (2006, S. 146).Footnote 5

Schiedsrichter berichten von unterschiedlichen Effekten des Protests. So kann geschickt eingesetzte Protestkommunikation im Extremfall das Selbstbewusstsein und die Konzentrationsfähigkeit des Schiedsrichters nachhaltig stören: „Da war ich noch unerfahrener. […] Und dann hatte ich die Situation, nach zehn Sekunden oder so hab’ ich ’nen Freistoß gepfiffen und dann kommt dieser Ex-Profi zu mir und sagt ‚Oh Schiri, ich merk jetzt schon, du bist total schlecht.‘ Und diese Aussage hat mich so aus der Bahn geworfen, dass ich mich nie auf das Spiel konzentrieren konnte.“ (I_6) Weiterhin kann Protestkommunikation eine Mehrzahl des Spielpersonals sukzessiv mobilisieren und so Protestkommunikation anwachsen lassen. Drei Schiedsrichter sprechen in den Interviews davon, dass ein oder mehrere Spieler „gegen dich arbeiten“: „Das nimmt dann seinen Lauf, ja? Vielleicht die Mitspieler mitaufzubringen. Oder auch den Gegenspieler, indem er dann zum Beispiel so’n Spruch bringt, ähm – ich pfeif dann eine Sache für den Gegner nicht und er steht daneben und sagt zu dem: ‚das hat der gerade bei uns schon gemacht. Der sieht gar nichts.‘“ (I_8) Während der Schiedsrichter im ersten Fall einen Verlust von Entscheidungssicherheit seinem eigenen Erleben zuschreibt, schreibt der Schiedsrichter im zweiten Fall diesen Autoritätsverlust der Umwelt zu. Ob nun durch verunsichertes Erleben (gefühlte Bewertungsunsicherheit) oder durch spielöffentlichen Verlust von Ansehen durch zunehmende Dynamik von Bewertungskommunikation über Reklamation und Meckern – Pfiffe werden im Ergebnis als zunehmend weniger technisch und mithin stärker entscheidungsförmig hervorgebracht. Die Wahrscheinlichkeit des Entscheidungsförmig-Werdens eines Pfiffs kann also interaktionsgeschichtlich abnehmen oder steigen und dies scheint eine der wichtigsten Hinsichten, wenn Schiedsrichter davon sprechen, ob ein Spiel „gut“ oder „schlecht“ läuft (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Bewertungsgeschehen

Schiedsrichter beobachten diese Effekte von Bewertungen auf andere Bewertungen und mithin auf die Struktur ihrer Pfiff-Sequenzen. Ein Begriff, den Schiedsrichter – aber übrigens auch kundige Beobachter des Fußballs insgesamt – bei der Beschreibung von Spieleinsätzen eines Schiedsrichters nutzen, ist der Begriff der „Linie“. Schiedsrichter erweisen sich hier begrifflich als Goffmanianer: In Übereinstimmung mit seinem Vorschlag, das Produkt des situativen „Face-Works“ eines Teilnehmers als „Line“ zu beschreiben (Goffman 1967, S. 5 ff.), geht es darum, auf Konsistenzzwänge an das Verhalten durch Verfestigung von Verhaltenserwartungen hinzuweisen. Mit Luhmann gesprochen geht es um eine Form von Entscheidungsprämisse, die sich erst durch Interaktionsgeschichte bildet. Mit jedem Pfiff kommuniziert der Schiedsrichter auch, ob er heute „streng“ oder „locker“ pfeift, und so ergibt sich sukzessive ein Selbstbindungseffekt der Entscheidungen aneinander. Gesagt ist damit auch, dass eine quasi-bürokratische Applikation des Regelwerks durch den Schiedsrichter nicht hinreichend ist, um Spielszenen mit Pfiffen entlang des Legal‑/Illegal-Schemas zu sortieren. Schiedsrichter sind insofern in vielen Situationen mit einem „dezisionistischen Privileg“Footnote 6 ausgestattet. Die Figur der „Linie“ liefert vor diesem Hintergrund Erwartungssicherheit. Insofern wird hierüber die Herstellung von Transparenz von Bewertungsmaßstäben des Spiels reflektiert. Ein Schiedsrichter: „Wenn ein Spieler in einem Zweikampf hinfällt, dann müssen alle Beteiligten anhand der Entscheidungen vorher eigentlich automatisch schon wissen: pfeift er jetzt, ja oder nein“ (I_4).

6 Fazit

Die vorliegende Studie ging von praxistheoretischen Prämissen aus. Damit wurde erstens versucht, der Körperlichkeit des Falles insbesondere durch Anschluss an Begrifflichkeiten Goffmans Rechnung zu tragen. Zweitens wurde damit versucht, das analytische Interesse an Bewertungen auf spezifische Weise sozialtheoretisch zu relationieren. In diesem Sinne wurden die hier untersuchten Bewertungspraktiken erstens eingeordnet in eine empirisch vorrangige integrative practice (Pfeifen und Fußball-Spielen). Andererseits wurde das analytische Interesse an Bewertungspraktiken als dispersed practices dem Fall-induzierten Interesse an anderen dispersed practices wie Kategorisieren und Entscheiden gegenübergestellt. Auf diese Weise konnte die Differenz von integrative und dispersed practice nicht nur dazu dienen, Bewertungspraktiken fallspezifisch zu verschiedensten Formen anderer Praktiken zu relationieren, sondern – und das scheint mir der wichtigste Punkt – das analytische Interesse an Bewertungspraktiken durch die spezifische Form der Relationierung auch zu relativieren. Eine solche doppelte praxeologische Relativierung der Bewertungspraktiken als Untereinheit von empirisch vorrangigen integrative practices einerseits und als einen Typ von dispersed practices unter vielen, könnte generell eine wichtige theoretische Kontrolle für die Gegenstandskonstitution der Bewertungssoziologie darstellen. Wie verschiedene Ansätze, die einen ganz bestimmten Gegenstand derart zentral stellen, dass er zum Teil ihres Namens wird (etwa auch „Gender Studies“), gleichzeitig aber nicht (wie in klassischen Bindestrichsoziologien) ihren Gegenstand vorab relativieren, etwa als nur einen Teilbereich der Gesellschaft (beispielsweise „Sportsoziologie“), muss auch die Bewertungssoziologie umgehen mit einer Tendenz zur Inflationierung ihres eigenen Gegenstands.Footnote 7 Auf Makroebene führt fehlende Kontrolle in dieser Hinsicht zu einer zeitdiagnostischen Überstrapazierung des Gegenstands (etwa in der Rede von einer Quantifizierungsgesellschaft). Aber auch auf der Ebene von sorgfältigeren Einzelstudien kann sich dieses Problem einschleichen. Die Tendenz zur Überschätzung der Relevanz des Gegenstandes ist z. B. auch in Lamonts programmatischem Beitrag (2012) angelegt. Einerseits weist sie hier (ich hatte weiter oben schon darauf hingewiesen) darauf hin, dass die Soziologie der (Be‑)Wertung zur konzeptionellen Weiterentwicklung diverse dispersed practices in den Blick nehmen sollte.Footnote 8 Mit Blick auf die bewertungssoziologische Literatur und auch für ihre eigenen konzeptionell-programmatischen Vorschläge spricht sie dann aber von diesen Praktiken als „Subprocesses“ von Bewertungen (ebd., S. 204, 214). Damit erfolgt die Relationierung des Gegenstandes der Bewertungssoziologie zu den anderen Gegenständen der Sozialität aber immer schon analytisch-hierarchisch. So wird die Chance verpasst, dem Leitbegriff der Bewertungssoziologie empirische (integrative practices) und analytische (dispersed practices) Gegengewichte entgegenzustellen. Konzipiert man die „subprocesses“ aber als dispersed practices, können sie analytisch sozusagen als „interfering processes“ gewürdigt werden.

Welche Anregungen ergeben sich nun aber anschließend an eine solche analytische Perspektivenverschiebung und in Auseinandersetzung mit dem hier untersuchten empirischen Fall? Ich beginne mit dem Ertrag der empirischen Sensibilisierung durch die Relativierung der untersuchten Bewertungspraktiken als Elemente von fallspezifischen integrative practices. Dabei rückt der Fall des Pfeifens vor allem einen speziellen Typus verkörperter und situativer Bewertungen in den Blick. Diese spezifische situative Performativität der Bewertungspraktiken in der Praktik des Pfeifens konfrontiert die Bewertungssoziologie, die eher zeitlich gestreckte und im Verfahren geordnete Fälle des Bewertens fokussiert (siehe FN 3), mit einer mikro- und körpersoziologischen Komplexität, die sie bislang kaum berücksichtigt. Bewertungspraktiken sind hier räumlich und zeitlich eng eingebunden in ihren (Bewertungs‑)Gegenstand. Das Pfeifen ist eine Bewertungspraktik, die nicht objektivierende Distanz zum Bewertungsobjekt aufbauen kann und stattdessen über Involviertheit ins Geschehen praktische Urteilsfähigkeit darstellt. Anders als im Fall des Peer-Review-Verfahrens etwa erzeugt das Pfeifen nicht Objektivität durch Distanz und Verfahrenstechnik, sondern praktische Urteilsfähigkeit (vgl. auch Collins 2020), die nur auf Basis von Motorisch-Perzeptivem (Laufarbeit), dosierter Konfliktintervention und letztlich auch von sportlichem Engagement (Mitspielfähigkeit) in situ plausibel enaktierbar ist. Er kann sich das bewertete Geschehen nicht mit Umfrageverfahren oder der Blasiertheit von Geschmacksurteilen vom Leib halten. Stattdessen bewertet er dreifach situativ: unter Zeitdruck, körperlich vor Ort und Bewertungen verkörpernd sowie in gestisch-verbale Bewertungskommunikation verschiedener Spielparteien verwickelt. Er reagiert darauf durch körperliche und kommunikative Einbindung ins Geschehen einerseits, einen solitären, autoritären und primär wahrnehmungs- (nicht kommunikations-) basierten Entscheidungsstil andererseits. Das Pfeifen ist also auch nicht Bewertungspraxis eines souveränen Spielleiters, sondern eines Spielverwalters, der sich mit dem Spielpersonal um die (Deutungs‑)Hoheit bezüglich der Regelorientierung des Spiels streitet. Der Schiedsrichter reagiert auf Bewertungen von Spielszenen durch das Spielpersonal und entscheidet im Horizont einer erwartbaren Bewertung seiner Entscheidungen durch das Spielpersonal. Er ist weiterhin auf Bewertungsinstrumente angewiesen, die über das „Spiel im Spiel“ gleichzeitig dem Spielpersonal als Wettkampfressource dienen und über die er daher nicht im strikten Sinne souverän verfügt. Die Bewertungspraktiken in der Praktik des Pfeifens stecken insofern mitten drin im Spiel und prägen (insbesondere im Fußball) grundlegende Struktureigenschaften des Spiels („Spiel im Spiel“). Der Bewerter sieht sich deshalb besonders stark mit der widersprüchlichen Anforderung konfrontiert, zugleich mitten im Geschehen sein zu müssen (epistemisches Privileg herstellen) und Neutralität bzw. Distanz zu den Spielparteien zu verkörpern. Wie üblich bei Figuren des Dritten nimmt er eine ambigue Position ein: Er gehört nicht recht dazu (zum Spiel mit seinen Parteien), noch geht es ohne ihn (vgl. Simmel 2013 [1908], S. 124 ff.).

Der Fall legt es weiterhin nahe, dass die Bewertungspraktiken in der Praktik des Pfeifens ins Verhältnis gesetzt werden zu anderen – sozialtheoretisch nahverwandten – dispersed practices wie Kategorisieren und Entscheiden. Insbesondere im Hinblick auf Letzteres erweist sich der Fall als instruktiv. In welches Verhältnis versetzt der Fall also Praktiken des Bewertens und Entscheidens? Kurzgefasst: Bewertungen des Schiedsrichters durch Spielpersonal und Zuschauer mobilisieren die Zurechnung der Entscheidungsform auf die Pfiffe des Schiedsrichters in zweifacher Hinsicht: Erstens sequentiell und zweitens interaktionsgeschichtlich. Sequentiell mobilisieren Bewertungspraktiken (der Spieler) die Entscheidungsform erstens insofern die Bewertungskommunikation, die einen Pfiff einfordert (Reklamation) oder einen Pfiff nachträglich kritisiert (Gemecker), Pfiffe pro- wie retrospektiv als Auswahl zwischen verschiedenen Handlungsalternativen darstellt. Die sich ergebende Sequenz nennen Teilnehmer einen „umstrittenen Pfiff“. Zweitens mobilisieren Bewertungen die Entscheidungsform interaktionsgeschichtlich. Soweit es geht, operiert der Schiedsrichter mit dem nicht-entscheidungsförmigen „technischen Pfiff“. Das für den Schiedsrichter „schlecht laufende“ Spiel zeichnet sich durch eine Zunahme spielöffentlicher Bewertungskommunikation mit Bezug und gegenüber dem Schiedsrichter aus („schlechte Akzeptanz“). Die im Spiel zunehmende Bewertungskommunikation zwingt ihm dann die Entscheidungsform auf. „Technische Pfiffe“ mit hoher Akzeptanz werden selten, Reklamationen und Gemecker rund um „umstrittene Pfiffe“ umso häufiger. Darauf reagieren u. a. zwei bewertungs- und entscheidungsbezogene Engagementgebote der Schiedsrichter. Mit dem Gebot, Präsenz zu zeigen und Entschiedenheit zu verkörpern, werden Verhaltenserwartungen beschrieben, die es ermöglichen sollen, die Kommunikationsgelegenheiten für Spielpersonal im Umfeld von umstrittenen Entscheidungen klein zu halten. Die Gebote, eine „klare Linie“ zu kommunizieren und spieltaktisch klug zu pfeifen, ermöglichen es darüber hinaus gezielt, nicht nur den Moment des einzelnen Pfiffs, sondern auch die Verkettung der Pfiffe über die Spieldauer in den Blick zu nehmen. Die Herstellung von Bewertungstransparenz, ein Blick für die Balance in der Verteilung von Pfiffen (wie oft gegen Heim?/wie oft gegen Auswärts?) und Spielatmosphäre dienen auch dazu, Eigendynamiken der Bewertungskommunikation auf dem Rasen, des Spiels im Spiel, in Schach zu halten.

Zusammengenommen erweisen sich für die praxeologisch-sozialtheoretischen Arbeiten am Bewertungsbegriff die vermeintlich einfachen Fälle auf der Mikroebene des Sozialen als nützlich. Entgegen der relativen Übersichtlichkeit der formalen und informellen Ordnungen organisierter Evaluationsverfahren etwa, die ihre Praktiken gerne auf die Ebene hoch expliziter Schriftkommunikation heben und sie zeitlich mitunter enorm strecken, erweist sich das geordnete Chaos der Situativität und der in ihr verwickelten Körper als anregend kompliziert (vgl. auch Lambrix 2022).