Vertragsärztin A. füllt das Dokument „Muster 61 – Beratung zu medizinischer Rehabilitation/Prüfung des zuständigen Rehabilitationsträgers“Footnote 1 aus, um vor der Krankenkasse zu belegen, dass bei Patientin Frau C. Bedarf für Leistungen der medizinischen Rehabilitation vorliegt. Dabei stellt sie nicht nur eine medizinische Diagnose, sondern gibt an, ob und in welchem Ausmaß Frau C. „nicht nur vorübergehende Beeinträchtigungen der Aktivitäten/Teilhabe“ in neun verschiedenen Lebensbereichen erfährt.

Ein interdisziplinäres Team D. an einer Reha-Klinik führt ein dreiwöchiges Rehabilitationsprogramm für Jugendliche mit Rückenmarksverletzungen durch. Zu Beginn des Programms werden Profile individueller Funktionsfähigkeit erstellt, die am Ende mit dem aktuellen Stand sowie den Zielvorgaben kontrastiert werden. Eine grafische Darstellung der Funktionsprofile macht beide direkt vergleichbar und Fortschritt beobachtbar.

Herr X. nimmt an einer Haushaltsbefragung teil. Er gibt Auskunft über Schwierigkeiten bei der Durchführung verschiedener Tätigkeiten, seine Möglichkeiten, an gesellschaftlichen Anlässen teilzunehmen, und darüber, inwieweit er von seinem Umfeld unterstützt wird. Später werden seine individuellen Angaben in einen disability score einfließen, auf dessen Grundlage der Anteil der Bevölkerung mit Behinderungen quantitiv bestimmt wird.

Frau A., Team D. und Herr X. bewegen sich in ganz unterschiedlichen Kontexten – es geht um den Zugang zu Sozialleistungen, den klinischen Alltag, und die Generierung statistischer Daten. Die drei Fälle eint jedoch, dass hier Personen und „Körper“ mit Blick auf ein Set standardisierter Dimensionen bewertet werden. Gemeinsamer Bezugspunkt dieser Bewertungen ist die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2001 publizierte. Bei der ICF handelt es sich um eine ca. 300 Seiten umfassende Klassifikation, die eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Phänomenbereiche systematisch auflistet. Personen können dann in diesen einzelnen Dimensionen darauf hin beobachtet werden, inwiefern es ihnen möglich ist, bestimmte Tätigkeiten auszuführen und an bestimmten sozialen Anlässen teilzuhaben. Die ICF stellt also die Infrastruktur für Bewertungsakte dar, auf deren Grundlage entschieden wird, ob Frau C. als anspruchsberechtigt gilt, die Jugendlichen in der Reha-Klinik Fortschritte gemacht haben und Herr X. als Mensch mit oder ohne Behinderungen in die Statistik eingeht. Eine Besonderheit der Klassifikation besteht darin, dass sie im Unterschied zu anderen WHO-Klassifikationen nicht nur Körper adressiert, sondern auch ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Faktoren. Gegenstand der ICF ist neben dem Zustand von Beinen, Augen und Gehirnen auch die Verfügbarkeit von Brillen, Aufzügen und Sozialleistungen.

Damit spiegelt die ICF ein Verständnis, das von sozialwissenschaftlichem Denken geprägt ist und Behinderung nicht primär in individuellen Körpern situiert, sondern als Ergebnis eines Zusammenspiels von Körper und Gesellschaft versteht. Die Klassifikation ist in einem zeitgenössischen Diskursfeld verortet, das Behinderung als gesellschaftliches und nicht als individuelles Phänomen adressiert, und Gleichheit, Würde, Teilhabe und Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen betont. Für die Frage nach der Bewertung von Körpern ist die ICF ein interessanter Gegenstand, insofern die Klassifikation Körper in ihren sozialen Kontexten bewertet und zugleich in einem „bewertungsskeptischen“ Diskurs situiert ist, der sich gegen eine kategoriale Abwertung von Menschen mit Behinderung richtet.

Entsprechend steht die ICF im Zentrum dieses Beitrages. Im Anschluss an die Soziologie der Klassifikation und Bewertung (Bowker und Star 1999; Hacking 1986; Heintz 2021a; Lamont 2012) interpretiere ich sie nicht als „neutrales“ Messinstrument, sondern rücke Kontingenzen und generative Effekte in den Fokus. Ich zähle die Klassifikation zu einer Reihe einflussreicher Artefakte, die über die Etablierung einer spezifischen Bewertungsordnung Behinderung als „strukturierten, diskursivierten, institutionalisierten und materialisierten Sachverhalt“ (Karim und Waldschmidt 2019, S. 275) hervorbringen und zugleich Vorstellungen von „Normalität“ transportieren. Anliegen dieses Beitrages ist es, der in die ICF eingeschriebenen Bewertungsordnung auf den Grund zu gehen und zu rekonstruieren, wie Körper als Bewertungsobjekte hervorgebracht werden: Welche Bewertungskriterien stellt die Klassifikation bereit und welche normativen Prämissen sind darin enthalten? Wie werden Körper und ihre sozialen Kontexte als unterscheidbare Phänomene hervorgebracht und miteinander verzahnt? Und entlang welcher Konventionen sollen standardisierte Kriterien und die Materialität von Körpern in Bewertungsakten vermittelt werden? Diese Fragen stehen im Zentrum des Aufsatzes, der in vier Teile gegliedert ist.

In einem ersten Schritt expliziere ich die theoretische Perspektive, die der Analyse zugrunde liegt, und erläutere Material und methodisches Vorgehen (1). Anschließend fokussiere ich die Klassifikation im engeren Sinne (2). Dazu situiere ich die ICF zunächst in ihrem Entstehungskontext und gehe dann genauer auf die kategoriale Ordnung der Klassifikation ein. Anhand einer ICF-basierten Dokumentationshilfe illustriere ich anschließend, wie durch Bewertungsoperationen Körperzustände in „Probleme“ überführt und situationsunabhängig verfügbar gemacht werden (3). Abschließend fasse ich die Argumentation zusammen und weise auf weiterführende Forschungsfragen hin (4).

1 Theoretische Perspektiven und methodisches Vorgehen

Klassifikationen sind Wissensartefakte, die eine spezifische „spatial, temporal, or spatio-temporal segmentation of the world“ (Bowker und Star 1999, S. 10) etablieren (vgl. auch Zerubavel 1996). In ihnen kristallisieren sich Wissensbestände, Deutungssysteme, Klassifikationskämpfe und kontingente Entscheidungen, die Auswahl, Definition und Anordnung der klassifizierten Einheiten bedingen. Im Fall der ICF handelt es sich dabei nicht allein um medizinisches „Wissen vom Körper“ (Keller und Meuser 2011), sondern auch um sozialwissenschaftliches Wissen: Die Klassifikation greift zumindest teilweise das sogenannte soziale Modell von Behinderung auf, das von Vertreter*innen der disability studies entwickelt wurde. Dieses hat über die Grenzen von Wissenschaft und Aktivismus hinaus großen Einfluss entfalten können (für einen Überblick vgl. etwa Dederich 2007; Waldschmidt 2017; Waldschmidt und Schneider 2007).Footnote 2

Kern dieser Perspektive ist die Unterscheidung von (körperlichen) Beeinträchtigungen (impairments) und gesellschaftlichen Ausschlussfaktoren (disability). Das soziale Modell verortet Behinderung nicht im Körper, sondern in den gesellschaftlichen Ungleichheits- und Unterdrückungsmechanismen. Menschen sind also einem prominenten Motto der frühen Behindertenrechtsbewegung zufolge nicht aufgrund ihrer körperlichen Zustände behindert, sie werden behindert. Im Unterschied zu medizinischen bzw. rehabilitationswissenschaftlichen Ansätzen, die nach den besten Möglichkeiten fragen, „geschädigte Körper“ wieder „geradezurücken“, begreift dieses Modell Behinderung als systematisch hervorgebrachtes Ungleichheitsphänomen.

Wenngleich das soziale Modell eine konstruktivistische Perspektive auf Behinderung etabliert, macht es gewissermaßen vor dem Körper halt, den es als vorsoziale Basis naturalisiert. Demgegenüber fordern Theoretiker*innen eines kulturellen Modells von Behinderung, „the disappearing body“ (Hughes und Paterson 1997) wieder einzufangen und in seiner Sozialität analytisch zu erschließen (Waldschmidt 2017). An dieser Stelle bieten die Arbeiten von Foucault (1973, 1983) einen Anknüpfungspunkt (vgl. Waldschmidt 2007, 2017). Aus machtkritischer Perspektive betonen diese die Sozialität von Körpern, die im Feld von Normierung, Disziplinierung und Subjektivierung konstituiert werden. Spezifische Wissensregime etablieren Vorstellungen vom Normkörper, vor dessen Hintergrund „abweichende“ Körper erst unterscheidbar und zum Bezugspunkt mannigfacher Normalisierungspraktiken werden. Das Verhältnis von „Normalität“ und „Abweichung“ muss dabei nicht starr und an klar bestimmbaren Grenzwerten orientiert sein. Vielmehr zeigen normalitätstheoretisch orientierte Analysen einen Bedeutungsgewinn flexibler Normalisierungsstrategien, die mit einer Ausweitung des Normalitätsverständnisses und einer Flexibilisierung von Grenzen einhergehen (Waldschmidt 1998; Hirschberg 2009).

Das kulturelle Modell von Behinderung stellt für die Analyse der in der ICF aktualisierten Bewertungsordnung einen wichtigen Anschluss dar, insofern es die Sozialität nicht nur von „disability“, sondern auch von „impairments“ betont. Hinsichtlich der Frage, wie die ICF ihre Bewertungsobjekte als unterscheidbare Phänomenbereiche konstituiert und relationiert, lassen sich darüber hinaus Anregungen aus praxistheoretischen Positionen gewinnen (vgl. Reckwitz 2003). Diese betonen die kontinuierliche Hervorbringung von Sozialität und plädieren dafür, den Blick für die zentrale Rolle von Materialitäten zu schärfen: Treppen, Aufzüge oder Kernspintomographen werden als Teil „hybrider Versammlungen“ (Hillebrandt 2016, S. 83) konzipiert, die gemeinsam mit menschlichen Partizipanden an der Koproduktion von Sozialität beteiligt sind (Hirschauer 2004, 2016). Die Unterscheidung und Verzahnung von „Körper“ und „Person“ (Boll und Müller 2020) wie auch von „Individuum“ und „Gesellschaft“ (Hirschauer 2004) wird aus dieser Perspektive zu einer Herstellungsleistung, die auf praktischer Grenzziehungsarbeit beruht. Diese Position schärft den Blick für die Frage, ob und wie an der ICF orientierte Bewertungspraktiken Akteur*innen rezentrieren und an der Differenzierung hybrider Konstellationen mitwirken.

Zentraler Gegenstand der empirischen Analyse ist die ICF.Footnote 3 Diese liegt in einer Druck- und PDF-Version vor, die neben der Klassifikationsstruktur auch konzeptuelle Anmerkungen, Definitionen und Fallbeispiele enthält. Darüber hinaus stellt die WHO einen Online-Browser zur Verfügung, der v. a. aufgrund seiner Suchfunktion eine leichtere Anwendung verspricht.Footnote 4 Ergänzt wurde der Korpus um Kontextdokumente wie Handbücher und Schulungstools, wobei ich hier v. a. Publikationen berücksichtigt habe, die die WHO publizierte. Um die Strukturiertheit der Bewertungspraktiken zu analysieren, habe ich zudem mithilfe eines von der WHO bereitgestellten Internet-Tools exemplarisch eine ICF-basierte Dokumentationshilfe für die klinische Praxis generiert.Footnote 5

Dieses Material wurde in einem mehrstufigen Prozess bearbeitet, wobei textanalytische Methoden mit Verfahren kombiniert wurden, die stärker der Materialität der Klassifikation Rechnung tragen. So habe ich die konzeptuellen und definitorischen Passagen der ICF zunächst mithilfe einer inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse erschlossen und das Kode-Schema im Laufe des Analyseprozesses verfeinert (vgl. Kuckartz 2016). Auf diese Weise konnte ich relevante Passagen für Sequenzanalysen identifizieren, die teilweise in Gruppenanalysesitzungen durchgeführt wurden (vgl. Wolff 2011). Auch Ausschnitte aus dem WHO-Dokumentationsbogen habe ich feinanalytisch ausgewertet, wobei ich dem spezifischen Aufbau sowie der Materialität des Dokumentes Rechnung getragen habe. Bei der Klassifikation im engeren Sinne handelt es sich mit Blick auf Inhalt und Form um einen widerständigen Gegenstand, dem ich mich durch intensive Lektüre und die praktische Anwendung der Browser-Oberfläche genähert habe. Ausgewählte Passagen wurden einer Feinanalyse unterzogen. Um die Kontingenz der Strukturierung aufzuzeigen, habe ich systematisch Hypothesen zur alternativen Platzierung einzelner Kategorien gebildet.

Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion der in der ICF implementierten Bewertungsordnung. Die Fragen, wann und wie unterschiedliche Akteur*innen in verschiedenen nationalen und funktionalen Kontexten diese konkret zur Anwendung bringen und welche Unterscheidungen tatsächlich genutzt werden, können in diesem Beitrag nicht adressiert werden (vgl. dazu Meershoek et al. 2007).

2 Die International Classification of Functioning, Disability and Health: Kontext und kategoriale Ordnung

Internationale Klassifikationen wie die ICF sind vielschichtige Artefakte, deren Form und Struktur sowohl durch zeitgenössische Diskurse als auch durch Erfordernisse ihrer praktischen Nutzung geprägt sind (Bowker und Star 1999). Im Folgenden skizziere ich daher zunächst den Entstehungskontext der ICF. Daran anschließend gehe ich detaillierter auf ihr komplexes Kategoriensystem ein und diskutiere an ausgewählten Beispielen Kontingenz und Normativität der kategorialen Ordnung.

2.1 Die ICF im Kontext

Die Kategorie der Menschen mit BehinderungenFootnote 6 hat sich in den letzten Jahrzehnten als globale Kategorie in der internationalen Politik verankert (Bennani und Müller 2018) und wurde zum Gegenstand verschiedener Deklarationen, Programme und einer völkerrechtlich verbindlichen Konvention (Mégret 2008). Charakteristisch ist dabei die Abkehr von einer Konzeption von Menschen mit Behinderungen als „subjects of rehabilitation“ hin zu ihrer Anerkennung als „agents of human rights“ (Degener und Begg 2017). Dieser Prozess setzte in den 1970er-Jahren ein, als v. a. im angloamerikanischen Raum Protagonist*innen der Behindertenrechtsbewegung maßgeblich zu einer Theoretisierung, Politisierung und Verrechtlichung der Kategorie beitrugen (ebd.; Hurst 2003). Auch im Kontext der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die als Tochterorganisation der Vereinten Nationen (UN) eng mit den politischen Entwicklungen verzahnt ist, waren die frühen 1980er-Jahre entscheidend: 1980 führte sie mit der International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps (ICIDH) eine Klassifikation ein, die erstmals Behinderung von Krankheit unterscheidet (WHO 1993 [1980]). Hintergrund war nicht nur eine Kritik an der Engführung vorliegender Klassifikationen auf akute Krankheiten und Todesursachen, sondern auch der Bedeutungsgewinn der oben skizzierten sozialwissenschaftlich geprägten Perspektive auf Behinderung (Hogan 2019). So basiert die ICIDH auf einem konzeptuellen Modell, das neben körperlichen Schädigungen auch Nachteile bei der Ausübung gesellschaftlich institutionalisierter Rollen aufgreift. Allerdings wurde die Klassifikation bereits kurz nach ihrer Verabschiedung zum Gegenstand breiter Kritik, die u. a. die Defizitorientierung der Klassifikation, das reduktionistische Modell von Behinderung und die mangelnde Ausarbeitung der sozialen Dimension betraf (Hogan 2019; Imrie 2004, S. 290).

Um diesen Kritikpunkten zu begegnen, setzte schon bald ein Revisionsprozess ein, an dem nun auch Expert*innen mit Behinderungen beteiligt waren. Nach der Publikation einiger Vorläuferversionen legte die WHO 2001 die bis heute geltende International Classification of Functioning, Disability, and Health (ICF) vor (WHO 2001). Diese formuliert das sogenannte bio-psycho-soziale Modell von Behinderung, das darauf abzielt, medizinische und sozialwissenschaftliche Perspektiven zu integrieren (Abb. 1). Körperliche Einschränkungen (impairments) werden neben der Einschränkung von Handlungs- und Teilhabemöglichkeiten (activities limitation, participation restriction) als eine von mehreren Ebenen von Behinderung gefasst. Die für das soziale Modell von Behinderung zentrale These, dass Behinderung durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen hervorgebracht oder zumindest beeinflusst wird, ist über das Konstrukt „Umweltbedingungen“ (environmental factors) abgebildet.Footnote 7

Abb. 1
figure 1

Das bio-psycho-soziale Modell der ICF. (WHO 2001, S. 18)

Von dem Vorgängermodell grenzt sich das bio-psycho-soziale Modell in verschiedener Hinsicht ab. Erstens ist es nicht als kausales Ablaufmodell konzipiert, sondern als diversifiziertes, prozessorientiertes Modell (vgl. Abb. 1): Körperliche Einschränkungen werden nicht als die Ursache von Funktionseinschränkungen modelliert, sondern als einer von mehreren Faktoren, die sich in unterschiedliche Richtungen beeinflussen können. Durch die Einführung des Konstruktes der environmental factors wird zweitens der sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Behinderung ein größerer Stellenwert zugeschrieben. Schließlich versucht die ICF die Defizitorientierung der Vorgängerklassifikation zu überwinden und beschreibt sich nicht als Klassifikation von „Krankheitsfolgen“, sondern von „Gesundheitskomponenten“. „Behinderung“ und „Funktionsfähigkeit“ werden entsprechend als Pole eines Spektrums konzipiert. Darin zeigt sich ein graduelles Verständnis, das unterschiedliche Grade an Einschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen abbildet (Bickenbach et al. 1999; Zola 1989). Entsprechend wird der Anwendungsbereich der Klassifikation universalisiert: Dem eigenen Anspruch gemäß sollen nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern alle Menschen mit Blick auf ihr (aktuelles) Ausmaß an Funktionsfähigkeit bewertet werden können (WHO 2001, S. 7). Hier zeichnet sich eine Flexibilisierung kategorialer Grenzen ab, die auch als Dekategorisierung interpretiert werden kann (Fourcade 2016). Zugleich werden nur Partizipationseinschränkungen zum Gegenstand der Klassifikation erklärt, die auf Gesundheitszustände zugerechnet werden – und nicht auf Persönlichkeitsmerkmale wie Geschlecht, race oder sozioökonomischer Status (WHO 2001, S. 5).

2.2 Das verästelte Kategoriensystem der ICF

Kern der Klassifikation ist eine systematische Auflistung von Phänomenbereichen, die für die Einschätzung von Funktionsfähigkeit respektive Behinderung als relevant erachtet werden. Als grundlegendes Strukturierungsprinzip implementiert die ICF eine Unterscheidung von vier sogenannten Komponenten, denen jeweils ein Kürzel in Buchstabenform zugewiesen ist: body functions (b), body structures (s), activities and participation (d) und environmental factors (e). Bereits diese Grundunterscheidung repräsentiert eine Ordnungsleistung, über die Grenzen zwischen Phänomenbereichen gezogen und unterscheidbare Gegenstände konstituiert werden (vgl. Zerubavel 1996). Für alle Komponenten werden zunächst in Kapiteln jeweils grob Bereiche bestimmt, die sodann auf bis zu fünf weiteren Gliederungsebenen in sogenannte Blöcke, Kategorien und Subkategorien differenziert sind (Abb. 2). Diese Logik der zunehmenden Differenzierung manifestiert sich besonders deutlich in der Oberfläche des ICF-Onlinebrowsers, den die WHO zur Verfügung stellt (Abb. 3). Deutlich müheloser als bei der PDF- oder Druckversion ermöglicht es die Browseroberfläche, zwischen den einzelnen Ebenen hin- und herzuwechseln. Die kleinen Pluszeichen, die, in Kombination mit Ordnersymbolen, vor den einzelnen Kategorien abgebildet sind, ergeben eine Art „Gebrauchssuggestion“ (Hirschauer 2016, S. 52): Klickt man das Zeichen an, eröffnet sich eine tiefere Klassifikationsebene. Dieser Schritt kann für alle Kategorien mehrmals wiederholt werden, bis die feinste Differenzierungsebene erreicht ist. Auf diese Weise entsteht ein feingliedriger Beobachtungsapparat, der sich gleichsam wie ein Koordinatensystem anwenden lässt. Die Kategorien des Klassifikationssystems sind dabei auch über eindeutige Kodes gekennzeichnet, die aus einem Buchstaben und einem vier- bis fünfstelligen numerischen Kürzel bestehen. Die Abstraktions- und Generalisierungsleistungen der Kategorien werden durch diesen Formalisierungsschritt noch ein weiteres Mal gesteigert: So ist bereits die Kategorie „thinking“ eine abstrahierende Kategorie, die die Vielfältigkeit und Diversität von Bewusstseinszuständen überlagert und aus ihrem Kontext löst (vgl. Zerubavel 1996). Tritt nun der Kode d160 an die Stelle der Kategorie, wird diese von Sprache unabhängig und kann nicht nur zwischen Fachgemeinschaften, sondern auch zwischen verschiedenen Ländern diffundieren (vgl. Heintz 2016; Porter 1995).

Abb. 2
figure 2

Komponente activities and participation (Ausschnitt). (WHO 2001, S. 32)

Abb. 3
figure 3

ICF-Browser (Ausschnitt)

Im Zuge dieser Orientierung in der formalen Struktur der Klassifikation habe ich erste Einblicke in das Kategoriensystem gegeben und Fragmentierung, Differenzierung und Standardisierung als seine zentralen Charakteristika identifiziert. Im Folgenden tauche ich tiefer in die einzelnen Komponenten ein. Dabei illustriere ich an ausgewählten Beispielen, wie die Kategorien kontingente Erwartungen an „Körper“, „Individuen“ und „Gesellschaften“ transportieren und diese dabei als unterscheidbare Einheiten herstellen.

2.2.1 Body structures und body functions

Der Körper, definiert als „the human organism as a whole“ (WHO 2001, S. 9), ist mit body structures und body functions in gleich zwei Komponenten repräsentiert. Diese grundlegende Unterscheidung ist eng mit der seit dem 19. Jahrhundert etablierten Abgrenzung von Anatomie und Physiologie verknüpft (Sarasin und Tanner 1998). Die verschachtelten Kategoriensysteme beider Komponenten rufen eine durch medizinisches „Wissen vom Körper“ (Keller und Meuser 2011) geprägte Variante des menschlichen Körpers auf, der in mannigfache Bestandteile und Vollzüge aufgelöst und durchdrungen wird. Vergleichbar mit der Oberflächenstruktur von Krankenakten generiert die Klassifikation eine anatomische und physiologische „Geographie“ (Berg und Bowker 1997, S. 513). Dabei reicht die durch die ICF skizzierte Landkarte nicht nur weit unter die Haut und durchdringt das Innere des menschlichen Körpers, sondern umfasst auch die Persönlichkeitsstruktur (Hirschberg 2009, S. 160): „Optimism“ (b1265) wird ebenso zu den Körperfunktionen gerechnet wie die „urination functions“ (b620). Welche Phänomene über die Kategorienstruktur sichtbar gemacht werden, wie sie definiert und angeordnet sind und welche Aspekte unsichtbar bleiben, ist dabei eng mit gesellschaftlichen Diskursen verwoben. Dies lässt sich etwa an der Thematisierung von Sexualität aufzeigen, die auf der einen Seite auf „natürliche“ Reproduktion hin ausgerichtet ist (b660). Auf der anderen Seite werden aber auch Empfindungen und Lüste (b670) im Kategorienschema beobachtbar und zum Gegenstand potenzieller Disziplinierungen gemacht (vgl. Foucault 1983).

Im Unterschied zu ihrer Vorgängerklassifikation, der International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH), systematisiert die ICF nicht körperliche Einschränkungen wie „profound mental retardation“ oder „structural deformity in head and trunk regions“ (WHO 1993 [1980]). Vielmehr spezifiziert sie in neutralerer Sprache Körperregionen oder Körperfunktionen, die den Erwartungen an ihr reibungsloses Funktionieren entsprechen können, oder auch nicht. Auch wenn diese neue Akzentsetzung darauf abzielt, die Defizitorientierung der ICIDH zu überwinden (Imrie 2004), bleiben „funktionierende“ Körper die implizite Norm: So ist die Darstellung auf Funktion und nicht Dysfunktion hin ausgerichtet, auf Vollständigkeit anstelle von Unvollständigkeit, auf Stabilität anstatt Instabilität. Über das Kategoriensystem der ICF werden also Vorstellungen vom Normkörper hervorgebracht, die als Vergleichsfolie für die Differenzierung von „geschädigten“ Körpern dienen (Waldschmidt 1998).

2.2.2 Activities and participation

„Listening“ (d115), „walking“ (d450), „toileting“ (d530), „assisting others“ (d660), „spousal relationships“ (d7701), „basic economic transactions“ (d860), „religion and spirituality“ (d930) – die Komponente activities and participation systematisiert ein breites Spektrum heterogener Phänomene, die basale Körperpraktiken, komplexe Tätigkeiten, soziale Beziehungen, aber auch gesellschaftliche Bereiche einschließen.Footnote 8

Vor allem in den ersten Kapiteln systematisiert die Klassifikation eine Reihe von basalen Körperpraktiken wie „sitting“ (d4103), „fine hand use“ (d440) oder „walking“ (d450). Während diese Praktiken sich im Alltag routiniert vollziehen und ihre praktische Hervorbringung oft „seen, but unnoticed“ (Garfinkel 1967, S. 36) bleibt, listet die ICF sie systematisch auf und versucht ihre Charakteristika in Form von Definitionen zu fixieren. So wird etwa „walking“ von „running“ (d4552) und „jumping“ (d45) unterschieden und als „moving along a surface on foot, step by step, so that one foot is always on the ground“ (WHO 2001, S. 108 f.) definiert. Die generalisierte Beschreibung vermag weder die Komplexität einer situativ vollzogenen „art of walking“ (Ryave und Schenkein 1974) noch die kulturelle Varianz von Körperpraktiken (Meyer 2018) einzufangen. Dennoch verweist die Tatsache, dass die ICF diese Praktiken vergleichsweise ausführlich thematisiert, auf ihre potenzielle Verletzung: Erst wenn Routinen irritiert werden, werden sie sichtbar (vgl. auch Eisenmann 2022). Entsprechend systematisiert die ICF Normalitätserwartungen in Antizipation ihrer Enttäuschung.

An wen richten sich die Erwartungen, wer wird als Bewertungsobjekt adressiert? Die ICF-Definition von „activity“ als „the execution of a task or action by an individual“ (WHO 2001, S. 159) zeigt, dass Praktiken hier individuellen Akteur*innen als maßgeblicher Instanz zugerechnet werden. Zugleich wird in der ICF die unreflektiert bleibende Hintergrundannahme einer Kohärenz von Personen und Körpern reproduziert (Boll und Müller 2020): Personen „haben“ einen Körper, und Körper „beherbergen“ Personen.

Noch offensichtlicher als im Fall der körperbezogenen Komponenten sind in Auswahl, Anordnung und Definition der Kategorien kontingente Menschen- und auch Gesellschaftsbilder eingeschrieben. Dies wird etwa in dem Kapitel zu sozialen Beziehungen deutlich, in dem Monogamie als impliziter Standard sexueller und romantischer Beziehungen gesetzt wird, rechtlich institutionalisierte Beziehungen besondere Sichtbarkeit erhalten und Intimität in romantischen und sexuellen Beziehungen, nicht aber Freundschaftsbeziehungen oder Beziehungen zu Kindern vermutet wird (d7). Bei der Ausarbeitung der Kapitel zu zentralen Lebensbereichen (d8) und sozialem und bürgerlichem Leben (d9) scheint die funktional differenzierte Gesellschaft Pate gestanden zu haben: Fein säuberlich sind verschiedene gesellschaftliche Sphären voneinander abgegrenzt. Dabei bildet sich in der Ordnung der Kategorien eine Gewichtung ab: Während „education“ (d810–d839), „work and employment“ (d840–d859) und „economic life“ (d860–d879) als „major life areas“ klassifiziert werden, werden „religion and spirituality“ (d930) und auch Carearbeit nicht als zentrale Lebensbereiche eingestuft. So ist Religion in Kap. 9 verortet, und unbezahlte Hausarbeit, Pflege und Fürsorgearbeit sind in Kap. 6 zu häuslichem Leben in Kategorien wie „preparing meals“ (d630), „doing housework“ (d640), „assisting others“ (d660) abgebildet (vgl. auch Wobbe 2021 für den Fall internationaler Statistiken). In dieser kategorialen Ordnung spiegelt sich eine Orientierung auf das Modell (männlicher) Erwerbsarbeit, welches seit dem späten 19. Jahrhundert die Konturierung der Kategorie Behinderung prägt (Bregain 2017). Wo die körperbezogenen Komponenten einen „Normkörper“ konstituieren, transportiert diese Komponente kontingente Erwartungen an „kompetente Gesellschaftsmitglieder“.

2.2.3 Umweltfaktoren

Behinderung wird dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF gemäß nicht in Personen verortet, sondern als über gesellschaftliche Faktoren vermittelt gedacht: Ob ein Mensch Schwierigkeiten beim Gehen hat oder Schulbildung erhält, hängt eben auch von der Beschaffenheit von Oberflächen, der Verfügbarkeit von Gehhilfen und den Zulassungsbedingungen von Bildungseinrichtungen ab. Die Komponente der environmental factors spiegelt das Anliegen, möglichst umfassend Aspekte zu systematisieren, die Funktionsfähigkeit positiv oder negativ beeinflussen. Entsprechend sind auch in dieser Komponente recht diverse Phänomene zusammengefasst, wie die natürliche Umwelt, Technologien, Architekturen, Gesetzgebungen, soziale Dienste oder gesellschaftliche Einstellungen. Ihre Gemeinsamkeit wird darin gesehen, dass sie Funktionsfähigkeit positiv oder negativ beeinflussen und – in der Sprache der ICF – als barrier oder facilitator fungieren (WHO 2001, S. 8). Entsprechend verschiebt sich hier die Perspektive und nicht nur Personen und ihre Körper, sondern auch Kontextfaktoren werden als Bewertungsobjekte konstituiert (vgl. Meier et al. 2016).

Dass neben Augen, Nieren, springen, defäkieren und denken auch Menschenrechte, Prothesen, Gebetsmatten und Gesetze klassifiziert werden, unterscheidet die ICF von anderen WHO-Klassifikationen. Diese Entscheidung impliziert eine Abkehr von der Zentrierung von Personen und ihren Körpern, die das medizinische Modell auszeichnet: „Funktionsfähigkeit“ wird zu einer praktischen Koproduktion von Körpern, Artefakten und Settings. Die Dezentrierung der Akteur*innnen wird jedoch an dieser Stelle nicht konsequent vollzogen, insofern die „hybriden Versammlungen“ (Hillebrandt 2016, S. 83) aufgelöst und nicht-menschlichen Partizipanden die Rolle einer sogenannten „Umwelt“ zugeschrieben werden. Dieses Vorgehen lässt sich als Praxis des „body boundary making“ (Boll und Müller 2020) lesen: Wenn Prothesen, Sehhilfen und Herzschrittmacher als „Umwelt“ gelten, werden Grenzen vereindeutigt und Körper dem Bereich der „Natur“ zugewiesen.Footnote 9

Die ICF, so hat meine Diskussion der Klassifikation aufgezeigt, etabliert ein verästeltes, standardisiertes Instrumentarium, mit dem sich Personen und „ihre“ Körper bis in vermeintlich kleinste Details beschreiben lassen. Auch wenn Kategorien der ICF scheinbar neutrale Beobachtungsgesichtspunkte repräsentieren, transportieren sie, so habe ich gezeigt, kontingente Erwartungen an Gesellschaften und ihre „kompetenten“ Mitglieder. Zugleich trägt die Klassifikation zu einer Konstitution ihrer Bewertungsobjekte bei.

3 (Vergleichende) Bewertung

Wenn Vertragsärztin A., Team D. oder Herr X ICF-basierte Instrumente anwenden, tun sie das in konkreten Situationen: Die Bewertungspraktiken erfolgen situativ und sind durch Kontexte und interaktionelle Eigenlogiken geprägt (Meershoek et al. 2007; Heintz 2021b, S. 153). Zugleich sind sie an einem Set von Bewertungsregeln orientiert (Meier et al. 2016) und werden in ihrem Ergebnis über Artefakte wie etwa Dokumentationshilfen, Fragebögen, Formulare oder Protokolle situationsunabhängig verfügbar gemacht, um in organisationale Routinen eingespeist zu werden (Berg und Bowker 1997). Entlang welcher Regeln werden Personen und Körper der ICF gemäß bewertet und wie soll die Materialität von Körpern mit den abstrakten Normen der ICF vermittelt werden? Diese Fragen stehen im Zentrum der folgenden Überlegungen. Um sie zu beantworten, beziehe ich mich exemplarisch auf Ausschnitte aus einer ICF-basierten Dokumentationshilfe (vgl. 1.) sowie auf die in der ICF formulierten Kodierungsregeln (WHO 2001, Appendix 2).

3.1 Vom Körper zur Un/Fähigkeit

Während die ICF ein breites Geflecht von Bewertungskriterien differenziert, wird in praktischen Bewertungssituationen nur ein Ausschnitt davon aktualisiert. Entsprechend umfassen ICF-basierte Dokumentationshilfen je nach Anwendungsfeld entweder wenige Kategorien aus vielen Bereichen, über die sich ein Überblick verschaffen lässt, oder aber detailliertere Kategorien aus einem bestimmten Feld. Die ausgewählten Kategorien sind auf den Bögen abgebildet, wobei sie zunächst nach Komponenten unterschieden und dann dem numerischen Kode entsprechend sortiert sind (Abb. 4 und 5). Ein Unterschied zwischen der Struktur des Wissensartefakts ICF und dem Dokumentationsbogen besteht nun darin, dass Letzterer die Anwender*innen direkt mit einer Frage adressiert. Für Kategorien der Komponenten body structures und body functions lautet diese „how much impairment does the person have in …“ (Abb. 4), für die Kategorien der Komponente activities and participation „how much difficulty does the person have in …“ (Abb. 5). In beiden Fällen wird nach Einschränkungen einer Person – und nicht etwa: eines Körpers – gefragt. Personen werden hier also als „Besitzer*innen“ ihres Körpers adressiert und entsprechend als Objekt der Bewertung etabliert. Über die explizite Aufforderung zur Bewertung vermittelt das Artefakt zwischen dem Kategoriensystem der ICF und dem konkreten, zu bewertenden Körper (Berg und Bowker 1997).

Abb. 4
figure 4

ICF-Dokumentationshilfe, Komponente body functions (Ausschnitt)

Abb. 5
figure 5

ICF-Dokumentationshilfe, Komponente activities and participation (Ausschnitt)

Für die Beantwortung der Fragen sind im rechten Drittel des Bogens neben jeder Kategorie sieben bezifferte Kästchen abgebildet, von denen je eines angekreuzt werden soll. Wie in der ersten, blau hinterlegten Zeile ausgeführt, bilden die Ziffern null bis vier zunehmende Einschränkungsgrade ab, die für körperbezogene Variablen von „no impairment“ über „mild impairment“ und „moderate impairment“ zu „complete impairment“ reichen (Abb. 4).Footnote 10 Die Bewertung der Einschränkung von Aktivität und Teilhabe soll ebenfalls auf einer vierstufigen Skala erfolgen („no difficulty“, „mild difficulty“, „moderate difficulty“, „complete difficulty“). Diese standardisierten Antwortoptionen strukturieren die Bewertungspraktiken, insofern sie den Blick auf Einschränkungen und Schwierigkeiten und nicht etwa auf „normale“ und „außergewöhnliche“ Fähigkeiten lenken.Footnote 11 Zudem wird nicht binär zwischen Fähigkeit und Unfähigkeit unterschieden. Dem graduellen Modell von Behinderung entsprechend werden Abstufungen sichtbar gemacht. Um sicherzustellen, „dass die Kreuze […] nicht permanent zwischen oder gar neben den Kästchen“ gesetzt werden (Brückner und Wolff 2015, S. 352), offeriert der Fragebogen schließlich für beide Komponenten die Antwortoptionen „not specified (8)“ und „not applicable (9)“ (Abb. 4 und 5).

Mit Blick auf die Frage nach Grenzziehungspraktiken ist interessant, dass für Kategorien der Komponente activities and participation zwischen den Bewertungsdimensionen „performance (p)“ und „capacity (c)“ unterschieden wird (Abb. 5). Performance beschreibt „what an individual does in his or her current environment“ (WHO 2001, S. 232) und trägt der Rolle von Umweltfaktoren Rechnung. Die Dimension der capacity hingegen zielt darauf ab, die „environmentally adjusted ability of the individual“ (WHO 2001, S. 160) zu messen, und führt das Konzept einer artifiziellen „Standardumwelt“ ein. Individuen und ihre verkörperten Un/Fähigkeiten werden damit, ganz ähnlich wie im medizinischen Modell von Behinderung, als prinzipiell von Umweltfaktoren isolierbar gedacht. Über die Unterscheidung von performance und capacity werden zwei Varianten von Funktionsfähigkeit hergestellt, die zueinander vergleichend in Bezug gesetzt werden können.

3.2 Bewertung als Vergleich

Das Setzen der Kreuzchen kann als performativer Akt interpretiert werden, über den ein spezifischer Körper in seiner Materialität in eine „Un/fähigkeit“ (Boll und Lambrix 2019) transferiert wird. Im Fall von Körperfunktionen und -strukturen sind Bewertungen an der Vorstellung orientiert, Körperzustände ließen sich über technische Verfahren „objektiv“ messen, oder über den Einsatz von Tests zumindest annäherungsweise erheben. Die Bewertung des Messergebnisses beruht auf dem Vergleich mit einer Norm (vgl. Heintz 2021a): Die ICF klassifiziert einen Körperzustand als impairment, wenn „a loss or abnormality of a body part (i.e. structure) or body function“ (WHO 2001, S. 159) festgestellt wird. Ausdrücklich wird dabei ein wertneutrales, rein statistisches Verständnis von „abnormality“ betont, der lediglich zur Bezeichnung einer „significant variation from established statistical norms“ (ebd.) genutzt werden solle. Dem graduellen Konzept von Behinderung entsprechend soll das Ausmaß eines impairments, wenn möglich, über Grenzwerte ermittelt werden. Dieser Logik nach wird beispielsweise ein Körperzustand als „serious impairment“ klassifiziert, wenn ein Wert 50–95 % vom erwarteten Standard abweicht (WHO 2001, S. 222). Über den Versuch, ein „Problem“ möglichst objektiv und standardisiert in seinem Ausmaß zu bestimmen, werden Körper universalisiert und dekontextualisiert. Es bleibt allerdings unberücksichtigt, dass Erwartungen an Funktionsfähigkeit je nach Situation, Praxis und auch kulturellem Kontext z. T. stark variieren.

Auch die Bewertung der Aktivitäten und Partizipationsmöglichkeiten beruht im Grundsatz auf der Erhebung eines Zustandes und seinem Vergleich mit einer Erwartung (vgl. auch Hirschberg 2009, S. 167 ff.). So spezifiziert die ICF „activity limitation“ als „deviation in terms of quality or quantity in executing the activity in a manner or to the extent that is expected of people without the health condition“ (WHO 2001, S. 159) und stellt den Vergleich als Mechanismus für die Identifikation von „participation restrictions“ heraus: „The presence of a participation restriction is determined by comparing an individual’s participation to that which is expected of an individual without disability in that culture or society“ (ebd.). In diesen Passagen werden also nicht, wie in der oben diskutierten Definition von impairment, Durchschnittswerte als Vergleichsfolie etabliert, sondern gesellschaftliche Erwartungen, die an Personen ohne gesundheitliche Einschränkungen gerichtet werden. Darin zeichnet sich ein flexibleres Normalitätsverständnis ab, zumal auch mitgedacht wird, dass sich Partizipationserwartungen je nach „culture or society“ (WHO 2001, S. 159) unterscheiden können. Nicht thematisiert wird jedoch, dass sowohl Teilhabechancen als auch Erwartungen an Gesellschaftsmitglieder sich auch z. B. nach Alter, Herkunft oder Geschlecht unterscheiden – so kann etwa Geschlecht eine relevante Kategorie sein, wenn es um die Verrichtung von „household tasks“ (d630–d649) oder um „economic self-sufficiency“ (d870) geht. Allerdings ist davon auszugehen, dass in der konkreten Bewertungssituation diese Unterschiede mitgedacht werden und eine Art „Bezugsgruppenvergleich“ (Hirschberg 2009, S. 168) durchgeführt wird.

Während Körperfunktionen und -strukturen und z. T. auch die Durchführung basaler Aktivitäten am Körper „abgelesen“ werden, erfragen die Anwender*innen der ICF häufig Informationen zu komplexeren Tätigkeiten oder gesellschaftlicher Teilhabe. Manchmal werden Personen gebeten, das Ausmaß ihrer Schwierigkeiten selbst einzuschätzen. Gerade für Menschen mit Behinderung bedeutet diese Aufforderung zum Selbstvergleich eine Konfrontation mit Normalitätserwartungen, die einen Druck zur Anpassung, Normalisierung und Selbstoptimierung auslösen kann (Hirschberg 2009, S. 169).

Die vielfältigen Praktiken des Messens, Beobachtens, Erfragens und Vergleichens, über die die Phänomene „mild impairment“ (Abb. 4) oder „complete difficulty“ (Abb. 5) hervorgebracht werden, sind auf dem ICF-basierten Dokumentationsbogen nicht sichtbar. Der Dokumentationsbogen sieht lediglich die Angabe einer „source of information“ (Abb. 4 und 5) vor und bietet unter der Rubrik „description of the problem“ (ebd.) wenn auch begrenzten Raum für eine „narrative Ergänzung“ (Brückner und Wolff 2015, S. 357), über die Kontextinformationen hinzugefügt werden können. Vor allem aber sind es die standardisierten und dekontextualisierten Ergebnisse der Bewertungsakte, die, vermittelt über den Dokumentationsbogen, in organisationale Routinen einfließen (vgl. Berg und Bowker 1997).

4 Zusammenfassung und Ausblick

Das Anliegen des Beitrages war es, die spezifische Bewertungsordnung der International Classification of Functioning, Disability and Health zu rekonstruieren. Während ein Großteil soziologischer Forschung zur Bewertung von Körpern die Frage fokussiert, wie sich Podestplätze füllen und Leistung etwa in Sportwettkämpfen, Gesangswettbewerben oder Model Contests gemessen wird, habe ich damit den Blick auf den gegenüberliegenden Pol des „Leistungsspektrums“ gerichtet. Im Folgenden fasse ich zunächst zentrale Ergebnisse der Analyse zusammen. Anschließend diskutiere ich Grenzen meines Ansatzes und identifiziere weiterführende Forschungsfragen.

Kontingenz und Normativität der Kategorien

Die ICF differenziert ein verschachteltes Netz an Kategorien, von denen ausgehend Individuen und „ihre“ Körper bis in die vermeintlich kleinsten Vollzüge durchdrungen und bewertet werden können. Auswahl, Anordnung und Definition der Kategorien sind dabei, wie an einigen Beispielen illustriert wurde, kontingent und transportieren spezifische Erwartungen an Körper, Menschen und Gesellschaften. Entsprechend ermöglicht die Analyse der ICF-Kategorienstruktur nicht nur Einblicke in Konstruktionen von Behinderung, sondern legt auch Normalitätsvorstellungen offen, die in das Kategoriensystem eingeschrieben sind. Diese sind im Vergleich zur Vorgängerklassifikation ICIDH deutlich flexibler und stellen individuelles Wohlbefinden in den Vordergrund. Dennoch bleiben sie eng mit einem Narrativ verwoben, das an Logiken der Funktionsfähigkeit, Optimierung und Verwertbarkeit ausgerichtet ist (vgl. auch Campbell 2009). Alternative Vorstellungen von „gutem Leben“, die etwa kollektivistische Sozialformen einbeziehen oder die Bedeutung natürlicher Ressourcen betonen, sind in der ICF nicht mitgedacht.

Hybridisierung und Differenzierung

Funktionsfähigkeit und Behinderung werden in der ICF dem bio-psycho-sozialen Modell zufolge als eine Koproduktion von Individuen, Körpern und Artefakten verstanden. Vor allem die Komponente der environmental factors, eine zentrale Innovation der ICF, trägt der Materialität sozialer Kontexte Rechnung. Die trennscharfe Differenzierung zwischen vier Komponenten wie auch die Unterscheidung von capacity und performance lassen sich allerdings als Grenzziehungspraxis interpretieren, über die das hybride Zusammenspiel aufgelöst und auf unterscheidbare Phänomenbereiche zugerechnet wird: Individuen und „ihre“ Körper werden kategorisch von „Umwelten“ getrennt. Auch wenn die ICF an eine sozialwissenschaftliche Perspektive anschließt, reproduziert die Klassifikation ein akteurszentriertes Verständnis von Sozialität, das „Individuen“ und „Körper“ als Einheit denkt und als ontologische Entitäten voraussetzt. Diese bleiben die primären Anknüpfungspunkte für Bewertungspraktiken.

Herstellung von Un/Fähigkeiten und Standardisierung

Verkörperte Un/Fähigkeiten werden in konkreten Bewertungssituationen hervorgebracht. Diese Bewertungen sind an standardisierten Konventionen orientiert, für die der Vergleich mit einer Norm konstitutiv ist. Der Vergleich kann, je nach Komponente und Kategorie, eher starr oder eher relational gedacht sein. Die konkreten Vergleichs- und Bewertungspraktiken, die situativ und je nach Kontext variieren, verschwinden allerdings ebenso hinter den Antwortoptionen der Skala wie die Vielfalt menschlichen Seins: Durch die Anwendung eines einheitlichen Bewertungsschemas werden „Funktionseinschränkungen“ als standardisierte, radikal dekontextualisierte Phänomene hergestellt und Personen und „ihre“ Körper vergleichbar gemacht. Als internationale Klassifikation eröffnet die ICF damit einen potenziell globalen Vergleichs- und Bewertungsraum, der Strukturbildungen und Institutionalisierungsprozesse begünstigt (vgl. Bennani und Müller 2018).

Meine Analyse der ICF hat zentrale Charakteristika der Klassifikation identifiziert und dabei auch Ambivalenzen und Vielschichtigkeit aufgezeigt. Diese eröffnen Raum für unterschiedliche praktische Nutzungen, die entweder eng an ein medizinisches Verständnis anschließen oder die Sozialität von Behinderungen stärker in den Blick rücken können. Aufgrund der Stoßrichtung und methodischen Ausrichtung meines Beitrags liegt der Fokus allerdings auf der ICF als „Infrastruktur“ (Meier et al. 2016) von Bewertungen, während ihre konkrete Anwendung nicht analysiert werden konnte. Eine Analyse der Nutzung von ICF-basierten Instrumenten in verschiedenen Kontexten – neben Medizin auch Behindertensport, Statistik, Recht oder gesundheitswissenschaftliche Forschung – verspricht an dieser Stelle vertiefte Erkenntnisse über die Spezifika ICF-basierter Körperbewertungen: Je nachdem, welche Kategorien als Bewertungskriterien fixiert werden, ob der Fokus eher auf capacity oder performance liegt, und in welchem Ausmaß environmental factors genutzt werden, werden ganz verschiedene Bewertungsobjekte praktisch konstituiert. Entsprechend können unterschiedliche Weisen der Hervorbringung verkörperter Un/Fähigkeiten in den Blick gerückt werden, die immer in Relation zu den Kontexten konkreter Praktiken zu denken sind (Boll und Lambrix 2019).

Daran anschließend stellt sich auch die Frage nach dem Zusammenhang von ICF-basierten Körperbewertungen und Humandifferenzierungen (Hirschauer 2014): Bewertungen sind nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, die Spezifika einzelner Menschen und „ihrer“ Körper zu bestimmen, sondern zielen häufig auf deren Einsortierung in verschiedene Personenkategorien – man denke etwa an „Leistungsberechtigte“ im Kontext Rehabilitation, Sportler*innen verschiedener Leistungsklassen im Behindertensport oder die Kontrastierung von „Menschen mit Behinderungen“ und „Menschen ohne Behinderungen“ bei der Erstellung statistischer Daten. Diese Kategorisierungen beruhen auf feldspezifischen Kategorisierungsregeln und Grenzziehungspraktiken, die sich teilweise stark unterscheiden: Während im Fall der Bestimmung von Leistungsklassen im Behindertensport Körper im Rahmen standardisierter Untersuchungen im Detail vermessen werden (Müller 2017), beruht die Herstellung von Statistiken zu Behinderung in der Regel auf Selbstauskünften im Rahmen von Interviews (Bennani und Müller 2021). In beiden Fällen jedoch werden graduelle, multidimensionale Körperbewertungen über feldspezifische Kategorisierungsregeln und die Festlegung von Grenzwerten in ein vordefiniertes Set von Unterscheidungen überführt, das wiederum daran anschließende Praktiken strukturiert.