1 Einleitung

Für viele Radfahrer_innen gehört zum Radfahren das Einloggen auf „Strava“. Strava ist eine digitale Plattform für Amateur- und Profisportler_innen, die sich als „the Social Network for Athletes“ vermarktet. Mittels Messtechnologien erfasst Strava sportliche Aktivitäten, vermittelt diese über Programmierschnittstellen an Dritte und bereitet die gesammelten Daten ansehnlich auf. So ermöglicht Strava Personen, sportliche Tätigkeiten zu dokumentieren, analysieren, diskutieren und sich mit anderen zu vergleichen. Derartige Plattformen verändern, wie Sport praktiziert und sozial eingebettet ist und wie körperliche Intensität erfahren wird. Der vorliegende Artikel beleuchtet die soziotechnische Konfiguration des Sports via Strava und stellt die Frage, wie eine technologische Vermittlung des Radfahrens (Selbst‑)Bewertung mitgestaltet und Intensitätsqualitäten sportlicher Aktivität prägt.

Geleitet durch eine energiesoziologische Perspektive schlage ich einen Fokus auf den Begriff „Verausgabung“ vor (Bataille 2020), um Intensitäten des Radfahrens verständlich zu machen. In technologisch vermittelten Praktiken der Selbstoptimierung (Röcke 2021) sind Bewertungen eingeschrieben, Sensorik macht Intensität greifbar und erhellt Formen der Hingabe und des Exzesses, was der Artikel durch eine dichte Beschreibung von Praktiken herausarbeitet. Die vorliegende Autoethnographie vergleicht dazu zwei unterschiedliche soziotechnische Konfigurationen, um die reichhaltige soziale Praxis zu durchleuchten. Zur qualitativen Sichtung soziotechnischer Arrangements der Verausgabung beim Radsport – sprich: zur Analyse unterschiedlichen Equipments – schließt der Beitrag an die sozialwissenschaftliche Energieforschung an. Dieses Forschungsfeld beleuchtet die Intersektion aus Gesellschaft, Energie und Technik aus einer besonderen relationalen Perspektive (Urry 2014). Dabei lautet die Annahme, dass Energie soziale Praktiken förmlich durchzieht, was der Begriff Verausgabung abbildet.

Der Text beginnt mit einer Einführung in die Plattform Strava. Darauf folgt eine Sichtung der Forschungsliteratur zu Self-Tracking und Selbstoptimierung, die im Vorschlag mündet, den Begriff der Verausgabung bewertungssoziologisch zu lesen. Dann folgen eine kurze methodische Einordnung und eine dichte empirische Beschreibung von Verausgabung als autoethnographische Praxeographie (Mol 2021). Ein Fazit lotet das analytische Potenzial der energiesoziologischen Perspektive aus.

2 „Strava“: Digital vermittelt Sport treiben

„Strava“ ist schwedisch für „anstreben“, „sich anstrengen“; und Strava ist eine digitale Plattform mit vielschichtiger Datenanalyse und Datenvisualisierung. In den großen „App-Stores“ ist die Software unter den Top-Downloads der Tracking-Dienste, und unternehmensinterne Statistiken zeigen, dass seit der und amplifiziert durch die Corona-Krise zunehmend mehr User_innen das Angebot nutzen (mehr als 73 Mio. Personen) (Strava 2020). Wenngleich Strava seit der Gründung 2009 eine kostenlose Version anbietet und keine klassische Werbung schaltet – im Unterschied zur Konkurrenz (Ochs et al. 2021) –, generiert es Mehrwert über Premiumfinanzierung und Markenpartnerschaften. Dritte Parteien können über Stravas API (Application Programming Interface) aggregierte Daten abrufen und teils mit direkten Personendaten arbeiten, etwa zur Entwicklung eigener Software (auf Strava zugeschnittene „Apps“). Aber man veröffentlicht auch eigene Analysen, um weltweite Trends zu zeigen.

Jill W. Rettberg (2020) schlägt vor, die Datenpraktiken der Plattform Strava zu situieren und zwischen menschlichen und maschinellen Zielgruppen zu differenzieren: Menschen nehmen eine Sporteinheit mittels Sensoren auf und erzeugen individuelle Datenpunkte, die die Plattform verarbeitet. Menschen erhalten Repräsentationen von Daten, wohingegen Strava-Algorithmen und Drittanbieter mit aggregierten Daten (halb-)automatisierte Operationen ausführen.

Eine wichtige graphische Repräsentation, die Strava ihren User_innen anbietet, ist eine Aufteilung von Strecken in „Segmente“ (Abb. 1). Strava-User_innen definieren dazu in der Web-Applikation Abschnitte für ihre Sportaktivitäten und geben ihnen eigene Namen. Die Karte der Welt wird zur Rennstrecke, mit jeglichen eindeutig kartographierten Straßen, Wegen oder Pisten als potenzielle Teile eines Wettbewerbs. Alle Personen, die etwa über ein Rennrad-Segment fahren, erhalten automatisch ihre dort absolvierten Zeiten und nehmen am Wettbewerb teil. Rankings zeigen die Bestzeiten, wobei der bzw. die Erstplatzierte eine Trophäe als „King“ bzw. „Queen“ erhält. Mit der Darstellungsform der Fahrten experimentiert Strava laufend. Seit 2020 ist die Ansicht des „Leaderboard“ in der kostenlosen Version der Software auf die Top-10 beschränkt. Ich habe diese zentrale Änderung im Zuge meiner Forschung mitverfolgt; ein anfänglicher Protest unter den User_innen ist im Laufe der Zeit gewichen – Personen nehmen die Einschränkungen hin, und einige Athlet_innen kaufen das Premiumpaket, um Funktionen voll nutzen zu können. Die Plattform lädt außerdem neue Drittanbieter ein. Nunmehr wächst ein virtueller Teil der Plattform: In Verbindung mit vernetzten Rollentrainern und einem Metaversum fahren Personen als Avatare – mit Bekannten aus der Nachbarschaft oder User_innen aus anderen Teilen der Welt (Kiernan 2018). So diffundieren sowohl Formen der maschinellen Datenverarbeitung als auch Möglichkeiten der Bereitstellung von menschlich-lesbaren Datenrepräsentationen.

Abb. 1
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Segment auf der Fahrt. (Quelle: eigener Screenshot von Strava.com)

Rettbergs Differenzierung zwischen menschlichen und maschinellen Datenpraktiken hilft, die Ökologie Stravas grundsätzlich einzuordnen. Es deutet sich aber bereits an, dass „Repräsentation“ und „Operation“ (Rettberg 2020) ineinander aufgehen und ein feingliedriges Situieren der technisch vermittelten sportlichen Praktiken gewinnbringend ist.

3 Von Selbstoptimierung zu Verausgabung: eine energiesoziologische Perspektive

Nutzer_innen wird mittels Strava nahegelegt, Datenpraktiken zur Selbstreflexion zu nutzen. Diese Praxis diskutieren soziologische Forschungsbeiträge unter den Überschriften „Selbstoptimierung“ und „Selbstvermessung“ (Strübing 2019; Röcke 2021). Selbstoptimierung ist dabei zu verstehen als das Streben nach „systematischer Selbstbeobachtung und Entscheidungsfindung“ (Reckwitz 2009, S. 179 f.). Im erweiterten interdisziplinären Diskurs dienen „Quantified Self“ und „Self-Tracking“ als Referenzen, um die Praktiken fassbar und Ambitionen von Subjekten diskutierbar zu machen. Ich setze einen Fokus auf Praktiken des Self-Trackings, mit dem Datenpraktiken von Personen in den Fokus rücken, die auf stete Selbstbeobachtung und Selbstvermessung ausgerichtet sind, um eigenes Verhalten oder Körperfunktionen zu bewerten und anzupassen (Lupton 2016, S. 12).

Aktuelle Beiträge im Forschungsfeld konturieren Rekonfigurationen von Körpern, Materialien und Wissen, die durch die Datafizierung von Gesundheit entstehen (Ruckenstein und Schüll 2017; Balmaceda et al. 2019; Ochs et al. 2021). Durch Self-Tracking wird ein Körperwissen hervorgebracht, das „als zumindest scheinbar objektives, rechenbar gemachtes und auch abseits der eigenen Körpererfahrung repräsentiertes und verfügbares auftritt“ (Strübing 2019, S. 343). Eine Software wie Strava wird von den Anbietern als Gesundheitsapp klassifiziert. Solche Apps setzen und suchen Normkörper; sie ordnen sensible Körperinformationen, etwa zum Gesundheitszustand oder zu Leistungskapazitäten. Abweichungen von der plattformspezifisch gesetzten Norm werden profitabel gemacht, als persönliche Laster problematisiert oder unsichtbar gemacht, mit der Tendenz dazu, gemeinschaftliche Verständnisse von Gesundheit zurückzustellen hinter leistungs- und konsumbasierten Werten individualisierter Fitness-Kulturen (Dolezal und Oikkonen 2021). Die Selbstoptimierungsforschung legt somit offen, wie Körperpraktiken ökonomisch geformt sind, wenngleich der Umgang mit Körperdaten nie rein in der Ökonomie aufgeht und sich User_innen ökonomischen Wertlogiken entziehen können (Röcke 2021, S. 121).

Zu den hochtechnologisch mediatisierten Formen der Selbstoptimierung sind zuletzt detailreiche Studien erschienen, die den Erfahrungen der Akteur_innen auf die Spur gehen (etwa: Selke 2016; Wiedemann 2019; Plohr 2021). Strava ist ein wiederkehrender Fall (Lupton 2016; Lupton et al. 2018; Rivers 2020; Couture 2021). Aufwändige Methoden (etwa Videoaufnahmen) erlauben eine vertiefende Diskussion von qualitativen Differenzen. Nutzer_innen erzeugen etwa Intensität zusammen mit Sensorik, wie Lupton et al. (2018) berichten: „For cyclists who choose to digitally self-track their commutes or leisure rides, the affective intensities and demands of cycling can expand to incorporate their engagements with their digital sensors and digital data“ (S. 661). Den Untersuchten falle jedoch besonders schwer, interne Unsicherheiten wiederzugeben, also etwa Stimmungswechsel und Erschöpfung zu bemessen. Mit meiner (Auto‑)Ethnographie schließe ich an die Intuition der Forschungsgruppe um Lupton an und will besonders diese schwer fassbaren Qualitäten der Erfahrung erkunden.

Bewertungssoziologische Perspektiven sind insofern wichtig für das Forschungsfeld, als sie auf die Frage insistieren, wie genau Wertordnungen und orientierungsbietende Werturteile angesichts von Unsicherheiten ausgelebt und ausgehandelt werden. So zeigt Kirchner (2021, S. 126), dass mit mehr sportkörperlicher Erfahrung nicht nur die „Bewegungskompetenz“ steigt, sondern auch die „Wertungskompetenz“ – Personen können besser fassen, was guter Sport ist. Hodek (2021, S. 166) wiederum unterstreicht anhand der Analyse von Sportstatistiken die performative Kraft von Messtechniken. Der vorliegende Beitrag schließt an den Feinsinn der Bewertungssoziologie an und fokussiert das Bemessen von Handlungen (das Bewerten der „Soziologie des Wertens und Bewertens“), um Wertkonstruktion verständlich zu machen (Krüger und Reinhart 2016). Als Fokus dient der Begriff der Verausgabung, geprägt durch die sozialwissenschaftliche Energieforschung.

Die sozialwissenschaftliche Forschung sieht „Energie“ nicht nur als politisches Problem, sondern auch als Inspiration für soziologische Grundlagenarbeit. Es geht darum, den klassischen Gedanken der „energetischen Soziologie“ von Herbert Spencer und anderen (zur Historie: Groß 2018) auf aktuelle Gesellschaften zu übertragen: Energie durchzieht soziale Relationen; dabei sind jedoch die Formen schwer zu greifen, in denen Gesellschaften aufgeladen, sprich energetisiert werden (Urry 2014, S. 2). Nicht zuletzt ist es von zentraler Bedeutung, die einschneidende Rolle fossiler Energieträger zu bemessen. Das Forschungsfeld öffnet sich dazu für interdisziplinären Dialog. Der vorliegende Beitrag folgt einer thermodynamischen Lesart: Energie ist das Potenzial, Arbeit zu leisten, und es gilt, unterschiedliche Formen und Messungen von Energiekonversion zu besprechen – mitsamt ihren wertenden Konsequenzen (Barry 2015).

Inspiration zur Feinanalyse bietet George Batailles experimentalistisches Frühwerk, wie es aktuell in der sozial- und geisteswissenschaftlichen Energieforschung wiederentdeckt wird (Stoekl 2007; Clark und Yusoff 2014; Szeman und Boyer 2017). Bataille pflegt ein relationales Denken, in dem Chaos vermittelt. „A man is only a particle inserted in unstable and entangled wholes“ (Bataille 1985, S. 200). Bataille argumentiert insofern energietheoretisch, als er an einer allgemeinen Tatsache ansetzt: Die Sonne (und Sonnenenergie zirkulierend durch pflanzliche, tierische und jegliche molekulare Verflechtungen) hinterlässt einen systemischen Überschuss, der in der planetaren Nutzung notgedrungen ineffizient verausgabt wird (Bataille 2020, S. 53–72). Das Energieerhaltungsgesetz lehrt, dass bei der Konversion von Energie zwar absolut gesehen kein Potenzial verlorengeht. Aber Energie streut ineffizient. Einen Hauch warme Luft aus dem Fenster zu pusten, ist einfach, die Wärme wieder hineinzusaugen keineswegs. Das ist ökonomisch bedeutsam, denn es gilt zugleich: Sonnenenergie „verliert sich ohne Berechnung, ohne Gegenleistung“ (Bataille 2020, S. 75). Der Autor diagnostiziert damit eine latente Spannung zwischen produktiven und unproduktiven Verausgabungspraktiken.

Die zeitgenössische Energieforschung ist der Perspektive Batailles zugewandt – der Exploration der Spannung zwischen produktiver und unproduktiver Verausgabung. Aber Alan Stoekl zeigt, dass Bataille die exponentiellen Kräfte fossiler Energieträger unterschätzt und als Problemstellung verkennt, wie die Infrastrukturen der fossilen Moderne Verausgabungsmodi lenken und auch das Intime durchziehen (Stoekl 2007, S. 58). So werden die „Repräsentationen“ und „Operationen“ von Daten auf Strava (Rettberg 2020) erst durch konstante Energielieferungen an Rechenzentren ermöglicht. Fossile Energieträger suggerieren eine problemlose Lieferung von Strom an die Server Stravas – also eine sichere „Grundlast“. Die fossilen Energieträger laufen aber nicht nur scheinbar passiv und neutral im Hintergrund. Sie prägen Praktiken und die Vorstellungskraft, indem sie Konstanz und Sicherheit suggerieren, was konsumistische Erwartungen und Wertvorstellungen schürt und verwoben ist mit umweltpolitischen Problemen wie CO2-Emissionen und hohem Wasserverbrauch (Hogan 2018).

Bataille regt an, Praktiken, Möglichkeitsbedingungen und Konsequenzen der Verausgabung auf die Spur zu kommen. Von Interesse ist, wie Lebewesen Energie konsumieren und Intensitäten erfahren. Batailles Denken ist geprägt von Grenzerfahrungen; er testet und sprengt Haltepunkte, gibt sich soziomateriellen Verwicklungen hin, lässt die Verschwendung laufen (Bataille 2017). Als Thema touchiert Bataille auch den Metabolismus und fragt nach unterschiedlichen Qualitäten, wie Verausgabung körperlich ausgelebt werden kann, wozu er „Modalitäten“ ausdifferenziert (Bataille 2020, S. 82). Damit erinnert seine Forschung an den potenzialen Charakter von Energie, der körperliche Aktivitäten trägt (Mol 2021, S. 40). In der Summe soll der Begriff Verausgabung einerseits intuitiv verständlich machen, dass Radfahren Körper und Geist herausfordert und Hingabe verlangt. Andererseits sensibilisiert der Begriff für Werte, denen Einstellungen und Erwartungen zu benötigten oder anzapfbaren materiellen Ressourcen anhaften.

4 Autoethnographische Praxeologie

Die vorliegende Autoethnographie ist eine Praxeographie in Anlehnung an Ansätze der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Die ANT versteht das Soziale wie Bataille als Assemblage von heterogenen Akteur_innen. Der Ansatz fokussiert die Bewegung von Assoziationsketten, die es soziologisch zu entfalten gilt (Law 2004; Latour 2007). „Theorie“ meint in der Praxeologie ein Vokabular, das sich an der sozialen Praxis in ihrer situierten Form abarbeitet (Mol 2010, S. 262).

Das Prinzip der aktiven Teilnahme hat im Beitrag die Funktion, zusätzliche Wahrnehmungsqualitäten einzubringen (Antony 2017, S. 202). Besonders relevant sind Erfahrungen über körperliche Leistungsgrenzen, Unklarheiten über die eigenen Potenziale und der Einfluss des unmittelbaren technischen und ökologischen Umfelds. Als Forschungssubjekt erfahre ich dabei keine passive Welt an Objekten; Wissen und Erfahrung sind verteilt, über Sitze, durch Kabel und Körper von Ethnograph_innen (Mol 2002, S. 50). Aus einer autoethnographischen Sicht ist es sinnvoll, beim datafizierten Sport nach unterschiedlichen Messtechniken zu fragen (Barry 2015, S. 112), die Energieflüsse prägen, in soziotechnischen Konfigurationen hervorgebracht werden und so Bewertungspraktiken formen.

Als „Rennradfahren“ gilt fortan sowohl das eigentliche Fahren auf dem Zweirad sowie Routenplanung, Datenanalyse und Medienreflexion. Die Grundlage der empirischen Untersuchung sind eigene Fahrten, einzeln und in der Gruppe; Fahrten, die über Sensorik und digitale Plattformen vernetzt durchgeführt und via Feldtagebuch dokumentiert wurden. Insgesamt wurde die Software für knapp 200 Fahrten genutzt (7500 km; 196 Touren zwischen 50 und 250 min, plus kurze Tests), begonnen im Herbst 2018; die letzten für den vorliegenden Beitrag relevanten Fahrten stammen aus dem Herbst 2021. Bezugspunkt für eine Feinanalyse bieten zwei längere Fahrten: Touren mit ähnlichem Profil, aber mit unterschiedlichem Mess-Equipment.

5 Die Verausgabung des Radfahrens mit Herzfrequenzsensor und Powermeter

Protokollauszug: Es war der 19. Juli 2020, ich lese 106,47 km Distanz, 4:06:29 Bewegungszeit, 1004 Höhenmeter, einen Temposchnitt von 25,9 km/h mit 59,0 km/h Maximalgeschwindigkeit. Die Fahrt trägt den Titel „Schneekopf“, denn ich habe einen kleinen Berg mit diesem Namen im Thüringer Wald besucht. Ich habe die Fahrt mit einer erweiterten Ausstattung durchgeführt: Zusätzlich zum Fahrrad und einem Radcomputer, der mit Strava verknüpft ist, war ich ausgestattet mit Daten zu meinem Puls, bereitgestellt von einem Herzfrequenzmesser. Gemessen über einen Brustgurt, sendet ein Sensor Live-Daten zum Radcomputer, mit dem ich meine körperliche Verausgabung auslesen kann. Der Herzfrequenzmesser verspricht einen intimen, und genau dadurch belastungsobjektivierenden Blick. Der Sensor registriert Schläge und zeichnet sie im Zeitverlauf auf. Für die gesamte Fahrt zeigt mir Strava einen Schnitt von 133Footnote 1 Herzschlägen an, mit einem Maximum von 179.

Am Berg fühle ich Anstrengung, sehe meine Geschwindigkeit, aber der Herzfrequenzmesser verspricht mir, Grenzen anzuzeigen. Der Sensor sensibilisiert dafür, dass ein Herz ein Muskel ist, der regelmäßige Arbeit leistet; er zeigt eine Regelmäßigkeit und verweist auf Ausschläge in graphischen Kurven. Bei Belastung geht eine Zahl hoch, bleibt hoch, geht teils nur langsam herunter. Laut Altersdurchschnitt liegt meine Obergrenze bei rund 190 Schlägen, und daraus ergeben sich Belastungszonen, die ich mit Blick auf Verausgabungszeiten berücksichtige. Über 172 Schläge pro Minute – das kann ich nicht lange aushalten. Der Anstieg zum Schneekopf ist nicht außergewöhnlich, so legen es Stravas Karten nahe. Er ist lang gestreckt auf knapp 8 km, mit einem Schnitt von 3,6 % Steigung, bei einigen Spitzen bis zu 13 %.

Enge Straßen strecken und wenden sich hinauf. Kieferbäume feuern mich mit ihren Gerüchen an, die wilde Gera fließt durchs Tal. Es ist warm, ich habe Wasser und Essen im Sinn, will den Blick als Blick würdigen, pflege den gleichmäßigen Tritt, nicht alle Stöße sitzen. Blick und Atem verfliegen, Zeit verdampft, mein Grinsen kann niemand einfangen.

Die Strecke ist gesäumt mit umkämpften „Segmenten“ – dem Wettbewerbsteil Stravas (s. Abschn. 2). Das steilste Stück trägt in Anlehnung an den dortigen Hügel den Titel „Schmücke Climb toughest part“ und umfasst 1 km mit durchschnittlich 9,3 % Steigung. Ich habe dafür einige Minuten gebraucht, den Radcomputer im Blick; der „King of the Mountain“ war doppelt so schnell. Das hat mich bei der Fahrt nur bedingt interessiert. Die Herzfrequenz sollte handhabbar sein, also nicht zu hoch; Strava zeigt mir in der Rückschau für dieses Segment einen engen Korridor an Werten. Die Software erkennt jedoch in der graphischen Darstellung keine praktischen Diskrepanzen, etwa wenn ich zur Konservierung der Geschwindigkeit am steilen Stück Slalom fahre. Die Messpraktiken führen eher dazu, dass ich nahezu vergesse, dass ich überhaupt Slalom gefahren bin. Die graphische Linie überschreibt einen Teil der Erfahrung.

Nun war es der 13. Juni 2021 – und ein Tag mit 97,23 km Distanz, 3:55:46 Bewegungszeit, 852 Höhenmetern, 2791 Kalorien, bei im Schnitt 24,7 km/h und maximal 59,0 km/h. Ein Coronajahr später machte ich mich erneut auf zum „Schneekopf“. Die Fahrten waren strukturell ähnlich, aber sie unterschieden sich hinsichtlich Sensorik und Leistungsdaten.

Power: 158 W als Durchschnitt, 505 W als Maximalwert. Leistung in Form von Watt – das ist ein neues Datum, das mein Radcomputer und Strava mir seit der Nutzung eines „Powermeters“ anzeigen. Watt ist die Einheit von (elektronischer und mechanischer) Energieleistung: von Energiekonversion. Für die sportliche Tätigkeit gibt Watt an, wie viel Kraftleistung im gegebenen Zeitabschnitt durchschnittlich erbracht wird. Es gibt mehrere Ansätze zur Messung von Watt im Sport, denn es muss zur Datenproduktion ein Messpunkt gewählt werden, der je nach Technologie unterschiedliche Umweltfaktoren ausblendet.Footnote 2 Mein Powermeter nutzt zur Hervorbringung der Wattzahlen ein Pedalsystem (s. Abb. 2) und misst Tritt- und Zugkraft. Mein Fuß tritt auf die Pedale, innerhalb des Geräts verbiegt sich ein Dehnungsmessstreifen, die Deformation verändert elektrischen Widerstand und Werte können dokumentiert werden.

Abb. 2
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Powermeter-Technik in der Theorie (mit visualisierter Kraftmessung) und auf dem Rad (an der Pedale). (Quelle: Favero Electronics (2018, S. 2) und eigenes Foto)

Ähnlich wie beim Herzfrequenzsensor schlägt die Software Stravas Belastungszonen vor, an denen ich mich orientieren soll. Watt als Wert ist entscheidend und je nach Situation leicht interpretierbar – als Bewertungsmaßstab im Verlauf der Fahrt (gemittelt auf Sekunden) oder im Nachhinein als flexibler Vergleichshorizont (etwa in einem 20-Minuten-Intervall). In der Rückschau zeigt mir Strava für den „Schmücke Climb toughest part“ eine durchschnittliche Leistung von 264 W, mit einem Maximum von 364 W. Mit 5:36 min bin ich ähnlich schnell hochgefahren wie ein Jahr zuvor – nun aber ohne Slalom.

Ich trete und denke mich über den Powermeter in ein neues, imaginiertes und zugleich äußerst greifbares Terrain, ich lese Anstiege, Tempo, Empfinden und Wind gegen den Strich. Am Tritt haftet eine ökonomisierte Trainingslehre, die beim Powermeter markanter ist als beim Herzfrequenzsensor: Als Sportler_in ist es wünschenswert, Einheiten mit einer genau gewählten Belastung zu fahren, „Segmente“ etwa bewusst leicht im aeroben Bereich zu rollen oder als anaerobes Intervall durchzuziehen. Konstante Verausgabung zählt – aber keine Mischung der Intensität, selten wild, nicht immer leicht, keineswegs immer schwer.

Der Powermeter verdeutlicht unterschiedliche Bewertungspraktiken. Fahre ich gänzlich ohne Technik und verlasse ich mich auf mein Körpergefühl, muss ich auf Erfahrungen zurückgreifen, die ich womöglich nicht habe; ich muss mich an Situationen mit ähnlicher Trainingserfahrung erinnern, mit vergleichbarem Wetter und Straßenprofil, und darf mich nicht impulsiv über- oder unterschätzen. Werte zur Geschwindigkeit sind ein Anfang, aber relativ umweltblind. Setze ich auf einen Herzfrequenzmesser, erhalte ich einen ersten beständigen Bezugspunkt, aber der Puls kann je nach Tagesform zufälligen Schwankungen unterworfen sein, die nicht unbedingt meine Leistungsfähigkeiten widerspiegeln. Vor allem aber steigt der Puls verzögert an und es fällt schwer, die Leistung so auszubalancieren, dass die Herzfrequenz sich zum richtigen Zeitpunkt konstant einpendelt. Auch die konkreten Wattzahlen eines Powermeters sind nicht auf die Zahl exakt zu halten. Aber ich kann mich mit wenig Aufwand an einem engen Korridor orientieren (Abb. 3), wenn ich regelmäßig übe und eine Plattform wie Strava Standards markiert. Nach nur wenigen Fahrten mit dem Gerät war ich zuversichtlich, erprobte Werte mit wenig Schwankung auch unter Last fahren zu können, selbst wenn die Gedanken an einem verregneten Sommertag Zweifel streuen mögen.

Abb. 3
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Rennrad-Cockpit am Anstieg. Legende: Zu sehen ist ein Fahrradcomputer mit Daten zur aktuellen Watt-Produktion (auf 3 s gemittelt), dem Straßenprofil in Echtzeit (Steigung in Prozent) und weiteren Daten zur gesamten Fahrt (etwa zum bisherigen Anstieg). (Quelle: eigenes Foto)

Basierend auf der autoethnographischen Erfahrung kann man – mit Bataille (2020) gesprochen – zwischen Modalitäten der Verausgabung unterscheiden, wodurch divergierende Intensitätsqualitäten hervortreten. Vor einer Fahrt habe ich Informationen über meinen Fitnessstand im Sinn, den ich bei einer Einheit reflektiere. Das ist ein metabolisches Denken, eine erste Modalität. Der Herzfrequenzsensor deutet körperliche Verausgabung als Rhythmus; der Powermeter radikalisiert und transformiert den Wert der Energieeffizienz und treibt Sportler_innen dazu, von Körper und Umwelt zu abstrahieren. Mit beiden Techniken verschränken Raum und Körperdenken – eine zweite Modalität. Der Vergleich der Sensoren offenbart hinsichtlich Praktiken der Selbstbewertung eine Ähnlichkeit: Vorher etablierte Sportroutinen erscheinen jeweils als leichtsinnig, eine absolute Setzung von Raum und Zeit als problematisch. Auf den ersten Blick scheint die Suche nach produktiver Verausgabung die Modi zu dominieren, geleitet durch die Messtechnik und die Visualisierungen von Strava, die Bestleistungen und steigende Kurven würdigen. So wie eine digitale Plattform auf einen konstanten Stromfluss und zuverlässige Datenzentren angewiesen ist, ermutigt Strava Athlet_innen, verlässliche Datenlieferant_innen zu sein – andernfalls gibt es unbefriedigende Lücken im Datentagebuch und unausgereifte Empfehlungen. Aber die Plattform kann nur deswegen Bindungskraft aufbauen, weil man sich bei den Aktivitäten in der Situation verliert, den Computer aus dem Blickfeld verdrängt oder an einzigartige Momente am Berg denkt. Kurzum, unproduktive und produktive Verausgabung treffen sich, gehen aber auch auseinander.

6 Fazit

Sport treiben mit digitalen Plattformen und Sensortechnik bedeutet, Bewertungspraktiken zu verinnerlichen, Körper und Technik auszuleben und Intensitäten abzuschätzen. Personen nutzen Technologien der Selbstoptimierung, um sich zu bewerten, um versierter zu sein. Und sie stellen sich auf Energieflüsse ein – auf die eigenen körperlichen Fähigkeiten und die Möglichkeiten der technologischen Infrastruktur –, jeweils vermittelt durch digitale Daten. Energie macht hier etwas möglich und leitet den Blick, das heißt: Ein steter Energiefluss sichert eine digitale Plattforminfrastruktur und lenkt den Erfahrungs- und Vorstellungshorizont. Durch die Vernetzung mit Strava laufen sportliche Aktivitäten über Datenzentren, die nach den Logiken des fossilen Kapitalismus ausgerichtet sind, indem sie den flexiblen Einsatz fossiler Energieträger als gegeben ansehen. Aber Personen verlieren sich auch, sie müssen mit Verlust umgehen, lassen sich auf Verschwendung ein. Die Lust befreit von Last. Das führt einerseits zur Fokussierung auf den Moment, erinnert aber andererseits an lange Vermittlungsketten und nicht fassbare Hingabe. Die energiesoziologische Perspektive Batailles erlaubt es dabei, zwischen produktiven und unproduktiven Erfahrungen der Verschwendung zu unterscheiden und ihre Mischung nachzuvollziehen.

Verausgabung meint Energienutzung mit einem Blick auf metabolische Grenzen, es ist eine (Selbst‑)Bewertung der körperlichen Anstrengung und Leistung, die im Radsport zunehmend nach Werten der Energieeffizienz arrangiert wird. Das würdigt die Rennrad-Community bisweilen ironisch – „If it’s not on Strava, it didn’t happen“, so lautet ein geflügeltes Wort. Dabei ist die Plattform ein Bezugspunkt, von dem sich Nutzer_innen bisweilen abwenden. Die Datenvisualisierungen und maschinellen Operationen, für die etwa Rettberg (2020) sensibilisiert, können Frust oder Humor auslösen, wenn etwa Belastungsempfehlungen zu ambitioniert dargestellt werden. Es ist aber nicht nur das. Gerade weil ein Gerät wie der Powermeter die Effizienz derart betont, wird deutlich, dass es ein enger Erfahrungshorizont ist, der vorgezeichnet wird – und aus dem man auch ausbrechen kann. Die zeitgenössische Self-Tracking-Forschungsliteratur hebt den Umgang mit Effizienz hervor – dies ist sichtbar am begrifflichen Fokus auf Optimierung, wenn auch kritisch annotiert. Meine Ethnographie unterstreicht nicht-effiziente Praktiken der Verausgabung: vom Loslassen über ein Sich-Verlieren bis hin zu exzessiven Formen der körperlichen Anstrengung und Ressourcennutzung. Selbstoptimierung ist oft Selbstdestruktion. Die energetische Linse hilft, diese Perspektive zu vertiefen.