Mein Beitrag gliedert sich schlicht in drei Schritte: Ich sage zunächst etwas zum Phänomen der Menschenrechte und was daran eigentlich erklärungsbedürftig sein könnte. Dabei beziehe ich mich als Quelle auf das Dokument der Französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789. Zweitens führe ich kurz die moderne Theorie der Philosophischen Anthropologie ein, durch die die Aufklärung des Phänomens der Menschenrechte, gerade in ihrer Heterogenität, geleistet werden soll. Im dritten Schritt skizziere ich vier Aspekte einer möglichen Aufklärung der Menschenrechte aus der Perspektive dieser Philosophischen Anthropologie.

1 Das Phänomen der Menschenrechte

Menschenrechte sind ein modernes Phänomen im dem Sinne, dass in konkreten Gesellschaften für jedermann bestimmte Menschenrechte postuliert werden und von einzelnen Subjekten – als Rechtsträgern – als Rechte in Anspruch genommen und gegenüber Rechtsadressaten (den Staaten, den Gerichten) eingefordert werden können. Die ersten Fälle, in denen sich staatlich gefasste Gesellschaften auf Menschenrechte stützen, sind die Declaration of Rights 1776 in den von europäischen Aussiedlern neu gegründeten USA, dann vor allem die Declaration des droits de l’homme et du citoyens/die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Constitution Francaise/die Französische Nationalversammlung vom 3. September 1789 (Jellinek 1996; Commichau 1998), die europaweit ausstrahlte und im 19. Jahrhundert in Menschenrechts- oder Grundrechtserklärungen verschiedener auch deutscher Konstitutionen übernommen wird (Commichau 1998); schließlich im 20. Jahrhundert 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die neugegründeten Vereinten Nationen, 2000 die Grundrechtecharta der Europäischen Union. Insgesamt lässt sich eine Entwicklung der rechtlichen Kodifizierung der Menschenrechte in Verfassungen und Menschenrechtserklärungen von transnationalen Verbünden beobachten mit der Folge, dass sich staatlich verfasste Gesellschaften auf Menschenrechte stützen (Kühnhardt 2015). Es bilden sich inzwischen global menschenrechtliche Erwartungen (Janz und Risse 2007; Hoffmann 2010), man kann Menschenrechte als normativ postuliertes Grundgerüst in einer durchaus fragmentierten Weltgesellschaft bezeichnen. (Brieskorn 1997; Göller 1999; Gosepath und Lohmann 1998; Bielefeldt 2005; Griffin 2008; Ishay 2008; Lohmann und Pollmann 2008; Nickel 2010; Lauren 2011; Menke und Pollmann 2012; Sandkühler 2021).

Worum geht es dabei in der Sache? Seit der ‚Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers‘ in der französischen Verfassung von 1789, auf die sich meine Gesamtargumentation stützt, geht es um verschiedene Rechte menschlicher Subjekte, die allen Menschen gleichermaßen zukommen bzw. eingeschränkt allen Bürgern eines Nationalstaates, deshalb die Formulierung Menschen- und Bürgerrechte. Entscheidend ist also erstens der Gleichheitsgrundsatz, der sagt, dass diese Rechte allen Menschen als Menschen bzw. Bürgern der Republik zustehen, also niemand bevorzugt oder ausgeschlossen wird. Und entscheidend ist zweitens, dass von Beginn an verschiedene Rechte genannt werden – darauf kommt es für meine Argumentation an. Es gibt also nicht das eine Menschenrecht. Präzise genannt werden in der französischen Erklärung von August 1789 als natürliche und geheiligte, als unverletzliche und unabdingbare Menschenrechte das Recht der Freiheit (droit […] la liberté/Recht auf Freiheit)Footnote 1, das Recht des Eigentums (Le propriétés étant um droit inviolable et sacré/das Eigentum ist ein unverletzliches und geheiligtes Recht), das Recht der Sicherheit (droit […] la sureté/Recht auf Sicherheit), das der freien Mitteilung, der Gedanken und Meinungen (la libre communication des pensées et des opinions/die freie Äußerung von Gedanken und Meinungen), das Recht des religiösen Glaubens (opinions meme religieuses/Anschauungen religiöser Art), das Recht des Widerstandes gegen Unterdrückung. Auffällig ist, dass Menschenrechte in und seit der Französischen Erklärung der Menschenrechte immer in einer Art Katalog auftreten, sie sind viele, verschiedene, heterogene Rechte. In diesem Katalog der Menschenrechte – man kann auch nüchtern sagen: in dieser Fülle bzw. diesem Gewimmel von Menschenrechten – treten auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Leben, das Recht auf Freizügigkeit, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, das Recht auf ein faires Verfahren oder den sogenannten gesetzlichen Richter, das Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht auf freie, gleiche, geheime Wahlen auf. Die letzteren beiden sind die sogenannten Partizipationsrechte (droit de concourir personnellement), die die Demokratie konstitutieren. Grundrechte sagt man immer dann, wenn die Menschenrechte in einer konkreten Verfassung kodifiziert sind. Dann werden gleichsam die Menschenrechte, die postuliert werden, gesetzesförmig in einer politischen, real vorhandenen Körperschaft verankert. Insgesamt ist der Katalog der Menschen- und Grundrechte in der Entwicklung der Moderne offen, nicht abgeschlossen. Man spricht deshalb auch von Generationen von Menschenrechten, wenn noch z. B. die kulturellen Grundrechte hinzutreten, z. B. das Menschenrecht auf den Schutz der eigenen Sprache, d. h. einer Sprachgemeinschaft (Mende 2015) – das sind vor allem Minderheitenrechte in einer Mehrheitsgesellschaft – oder den Schutz der eigenen Kultur, des überlieferten Bekenntnis. Außerdem treten die sogenannten sozialen Grundrechte später hinzu, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Arbeit im Sinne des sicheren Arbeitsplatzes, das Recht auf Wohnung, also sogenannte soziale Leistungs- und Wohlfahrtsrechte für Krisen der Existenz, schließlich eine weitere Generation, das Recht auf saubere Umwelt, das Recht auf Frieden etc. Den Kern der Menschenrechte als modernem Phänomen bilden aber bis in die Gegenwart die zuerst im Kontext der französischen Deklaration präzise genannten verschiedenen Menschenrechte. Alle weiteren Rechte darüber hinaus sind als Menschenrechte eher strittig.

Zum Phänomen selbst gehören oder gehörten neben der rechtlichen Kodifizierung von Beginn an der intellektuelle Diskurs über die Menschenrechte und schließlich die Durchsetzungsmechanismen der Menschenrechte, also erstens die Begründungen, die den Geltungsanspruch der Menschenrechte legitimieren, und zweitens die Gewalt-Instanzen, die ihnen in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit Geltung verschaffen. Begründet werden die Menschenrechte aus der sogenannten ‚Natur‘ des Menschen, also naturrechtlich wie man sagt. Damit ist innerhalb dieses Legitimationsdiskurses, der immer noch zum Phänomen selbst gehört, gemeint, dass die Menschenrechte dem Menschen von Natur aus zukommen, ihm also nicht erst durch die Gesellschaft verliehen werden. Vielmehr muss umgekehrt die Gesellschaft in ihrer Gesetzgebung, im sogenannten gesatzten oder positiven Recht, diese natürlichen Menschenrechte anerkennen und berücksichtigen. Und dass die Menschenrechte den Menschen von Natur aus zukommen sollen, meint außerdem, dass sie ihnen unabhängig davon, welchem Welt- und Menschenbild der jeweilige Mensch in seinem Glauben, in seinem religiösen Bekenntnis folgt, zugehören. Die Menschenrechte sind also im Grundsatz, wie man sagt, überpositiv, das meint das Naturrechtliche, von Natur aus, nicht durch Gesetzgebung entstanden, sondern überpositiv, und sie sind im Kern nicht in einer bestimmten Religion begründet – sie beanspruchen Geltung auch unabhängig von geoffenbarten göttlichen Wahrheiten.

Und wie erwähnt, gehören zweitens zum Phänomen der Menschenrechte die Mechanismen ihrer Durchsetzung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dieser Aspekt ist bereits auch in der französischen Erklärung von 1789, auf die sich meine Argumentation bezieht, ausführlich behandelt, nämlich in der Figur der Souveränität, der Volkssouveränität als Menschenrechtsadressat, d. h. der Befugnis des Volkes, Gesetze mit Bezug auf die Menschenrechte zu setzen und die Abweichler von den Gesetzen und damit von den Menschenrechten gemäß dem Gesetz zu verhaften, festzusetzen, gefangen zu halten und entsprechend der Gesetze zu sanktionieren, sie zu unterwerfen und zu bestrafen (La garantie des droits de l’homme et du citoyen nécessité une force publique/Die Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte erfordert eine öffentliche Gewalt). Zum Phänomen der Menschenrechte gehört also von Beginn an auch das Phänomen des Instrumentariums des volkssouveränen Staates, in erster Linie der Gerichte, an die sich der in seinen Menschenrechten Verletzte wenden kann, Klage erheben kann, und in letzter Hinsicht die Polizei, der Strafvollzug, der die Gewaltmittel gegen die Menschenrechtsverletzer einsetzt, um ihre Geltung in der Wirklichkeit durchzusetzen.

Die Fragen sind: Was wird eigentlich gefordert, wenn man immer erneut und immer inständiger die Geltung einer Vielzahl von „Menschenrechten“ fordert? Und wie lässt sich die unübersehbare Heterogenität, die Verschiedenheit der Menschenrechte systematisch aufklären? Es soll hier nicht um ausgewählt einzelne Menschenrechte gehen, sondern explizit um ihre phänomenale Heterogenität, ihre erstaunliche Vielzahl. Gibt es überhaupt eine Systematik, warum es so viele verschiedene sind, und warum es gerade diese Menschenrechte sind? In welchem Verhältnis stehen ‚Menschenrechte‘ und ‚Menschenwürde‘? Und wie werden ‚Menschenrechte‘ in der gesellschaftlichen Wirklichkeit letztlich eingestückt?

2 Moderne Philosophische Anthropologie als Theorie

Dieses komplexe Phänomen der Menschenrechte will ich aus Sicht der modernen Philosophischen Anthropologie aufzuklären versuchen. Das liegt insofern nahe, als die Menschen-Rechte als Rechte des ‚Menschen‘ postuliert werden und die Philosophische Anthropologie als eine Theorie des Menschen auftritt. Es muss also eine Verknüpfbarkeit geben zwischen einem philosophisch anspruchsvollem Begriff des Menschen und den postulierten Rechten des Menschen. Oder anders gesagt: Kein adäquates Verständnis des Menschen in der Formel ‚Menschen-Rechte‘ ohne eine adäquate Theorie des Menschen.

Wenn ich von Philosophischer Anthropologie spreche, treffe ich innerhalb dieses Terminus für das 20. Jahrhundert eine Unterscheidung: Immer dann, wenn der ‚Mensch‘, die Verhältnisse der Menschen ausdrückliches Thema der Reflexion sind, liegt die philosophische Anthropologie als Disziplin vor (klein geschrieben) (Marquard 1973; Thies 2004); immer dann aber, wenn ein originäres Reflexionsverfahren vorgeschlagen wird, um einen Begriff des Menschen zu erreichen, handelt es sich um die Philosophische Anthropologie (groß geschrieben) als Theorie, als Paradigma vor (Habermas 1958; Honneth und Joas 1980; Rehberg 1981; Fischer 2008, 2009). Auf diese Unterscheidung kommt für die weitere Argumentation alles an. Dieses philosophisch-anthropologische Theorie- und Forschungsprogramm interessiert mich hier als Ausgangspunkt der Aufklärung des Phänomens der Menschenrechte.

Es bildet sich z. B. in den Texten von Max Scheler, Helmuth Plessner, Ernst Cassirer, Arnold GehlenFootnote 2. Was kennzeichnet diese Philosophische Anthropologie als Theorie? Die Pointe dieser modernen Denkrichtung ist, dass sie, um den klassischen Ansprüchen des Idealismus und Humanismus gerecht zu werden, eine tiefe Konzession an die Evolutionsbiologie, an den modernen Naturalismus einbaut. Gerade darin ist die Philosophische Anthropologie als Paradigma modern. Alle genannten Denker akzeptieren Darwins Aufklärungsleistung, den Begriff des Menschen im Durchgang, im Umweg durch eine Theorie des Organischen, eine Theorie des Lebens zu gewinnen, den Menschen als evolutionären Teil der Naturgeschichte zu konzipieren (Illies 2006), aber sie akzeptieren nicht die naturalistische Konsequenz des Darwinismus für den Begriff des Menschen – dass nämlich im menschlichen Lebewesen und in den humanspezifischen Lebensformen bloß die evolutionären Mechanismen der Selbst- und Arterhaltungsprogramme in letzter Hinsicht den Ausschlag geben. Denn dann wären die Leistungen des Menschen im Denken, Fühlen und Verhalten als bloß abhängige Größen von Vitalimpulsen der Selbst- und Generhaltung in der Reproduktion begriffen.

Die philosophisch-anthropologischen Theoretiker wollen im Angesicht des naturalistischen Theorieprogramms die Denkmotive des Humanismus, des Idealismus hinsichtlich von Selbstfindung und Selbstbestimmung des Menschen durchhalten – aber mit der theorietechnischen Raffinesse des Durchganges, des Umweges durch die Biologie, durch die Zone des Organischen. Als Philosophische Anthropologie ist dieser Ansatz per se reflexiv, insofern er angesichts der empirischen und theoretischen Herausforderungslage auf die verschiedenen Schichten im menschlichen Lebewesen reflektiert. Untrüglich lässt sich die philosophisch-anthropologische Theorie bei den genannten Autoren daran erkennen, dass sie immer erstens eine philosophische Biologie des Lebens, der vitalen Natur entwickeln (Grene 1968), um in ihr, aus ihr zweitens eine Sonderstellung des menschlichen Lebewesens in der Naturgeschichte aufweisen zu wollen, die wiederum drittens eine von der Naturgeschichte abgehobene eigenartige Soziokulturgeschichte ermöglicht.

Die Philosophische Anthropologie geht also auf die „Conditio humana“ (Plessner 1983 [1961]), die natürlichen Bedingungen des eigentümlichen Menschseins.Footnote 3 Die Pointe dieses Paradigmas lässt sich im Doppelaspekt des Begriffs des Menschen fassen: der Unterscheidung zwischen Hominitas und Humanitas, wie sie Plessner (1957) eingeführt hat. Hominitas meint die menschliche Sonderstellung in der Naturgeschichte, Humanitas hingegen das, was menschliche Organismen aus dieser Sonderstellung machen. Noch einmal anders: Das, was die Natur einerseits aus dem menschlichen Lebewesen macht, das ist Hominitas, die prekäre Sonderstellung unter den Lebewesen der Evolution. Und das, was diese Lebewesen aus ihrer vitalen Eigentümlichkeit machen, das ist Humanitas, menschliche Lebensgestaltung, Normen und Werte etc. Theorietechnisch ist das so gedacht, dass nicht etwa die Humanitas die Hominitas ablöst, hinter sich lässt, sondern dass die Hominitas als conditio humana immer mitläuft, bis in die modernste Moderne.

Die prägnante Begriffsbildung für diese Art der philosophisch-anthropologischen Verfahrensweise, einen Begriff des Menschen zu erreichen, ist Plessners Kategorie der „exzentrischen Positionalität“ (Plessner 1975 [1928]). Plessner geht dabei den Umweg über die Dinge, die raumzeitliche Positionen haben, hin zu den lebendigen Dingen, die er Positionalitäten nennt. Alle Lebewesen wie Pflanzen und Tiere sind in der Naturgeschichte als grenzrealisierende körperliche Dinge gesetzt, gleichsam anonym ausgesetzt, positioniert, um im Stoffwechsel, (ab den Tieren) in der senso-motorischen Koordination ihrer Grenze, ihre Membran im Austausch mit der natürlichen Umwelt durchzuhalten. Plessners Theoriebildung kennt dann „offene“ und „geschlossene“ Positionalitätsformen, schließlich die Stufe der instinktgesteuerten intelligenten „zentrischen Positionalität“ wie die der Schimpansen. Vor diesem philosophisch-biologischen Hintergrund ist nun ein exzentrisch positioniertes Lebewesen ein von Natur her aufgebrochenes, zeitlich konstitutionell zu früh geborenes („extrauterines Frühjahr“) (Portmann 1962 [1956]) „weltoffenes“ Lebewesen in der Natur (Scheler 1976). „Exzentrische Positionalität“ meint nichts weiter als ‚Abstand im Körper zum Körper‘ in der Natur, auf die dieses Lebewesen verwiesen bleibt. Solche exzentrisch positionierten Lebewesen müssen sich von Natur aus künstlich in einer Kultur, in ihrer vitalen Unmittelbarkeit vermittelt, am natürlich Standort ihrer individuellen Körpers antizipierend und utopisch einrichten, also kraft ihrer Phantasie, ihrer Einbildungskraft über Entwürfe sich situieren. Weltoffenheit bedeutet – wenn man auf die einschlägigen Autoren zurückgeht – für ein exzentrisches Lebewesen eine brisante Öffnung durch die Umweltgebundenheit von Lebewesen hindurch, Durchbrüche zu vier verschiedenen, nicht aufeinander rückführbaren „Welten“ in seiner Lebenswelt: zu einer „Außenwelt“ (zum Sachcharakter der Dinge einschließlich des Körpers des Menschen (Gehlen 1993)); zu einer „Innenwelt“ (die Unergründlichkeit der eigenen Seele); zur Mitwelt (Scheler 2005; das soziale Unergründlichkeitsverhältnis zum Anderen) – was Luhmann mit Parsons „doppelte Kontingenz“ nennt; schließlich zur „symbolischen Welt“ der kulturellen Zeichen und Metaphern. Plessner entwickelt eine Drei-Welten-Theorie von „Außenwelt“, „Innenwelt“, „Mitwelt“ – in genau dieser Reihenfolge – Welten, die je in sich stehen und sich wechselseitig tragen. Da eine „exzentrische Positionalität“ auch ein instinktentbundener „Orientierungswaise“ im Kosmos ist, der auf den „sinnhaften Aufbau“ (Schütz 1976) bzw. die sinnhafte Reduktion von Komplexität angewiesen ist, muss man Cassirers philosophisch-anthropologische Theorie des animal symbolicum hinzunehmen (Cassirer 1990). Dann ist es philosophisch-anthropologisch adäquat, von vier ausdifferenzierten, nicht aufeinander rückführbaren „Welten“ der „exzentrischen Positionalität“ zu sprechen, die sich dem menschlichen Lebewesen öffnen und mit denen es innerhalb seiner Lebenswelt umgehen muss: der Außenwelt, der Innenwelt, der Mitwelt und der Welt der symbolischen Formen (Mythos, Sprache, Kunst, Wissenschaft). Diese vier Welten sind nicht auseinander ableitbar und setzen einander je voraus. So ist der Lebensvollzug exzentrischer Lebewesen in der Außenwelt und in der Innenwelt und in der Mitwelt immer durch symbolische Formen vermittelt, wie allerdings umgekehrt keine symbolische Form ohne die Materialität der Außenwelt und ohne die Resonanz der Innenwelt funktioniert, keine Mitwelt ohne eine in sich stehende Innenwelt, mit deren Unergründlichkeit und Unberechenbarkeit sie fertig werden muss, die Mitwelt wiederum die Außenwelt zu ihrer Aushärtung (in den Artefakten, den architektonischen Baukörpern) elementar voraussetzt.

Das exzentrisch positionierte Lebewesen ist nun gefordert, sein Leben zu führen, also sein Leben von Natur aus anders zu lenken und leiten, als durch die organischen Instinkte, die die zentrischen Positionalitäten, also die Tiere in ihrem Verhalten orientieren (Gehlen 1956; Rehberg 2014). Das menschliche Lebewesen ist eines, das um des Lebens willen statt der immer erneuten „Körperanpassung“ etwas „stattdessen“ tun muss: „Körperausschaltung“ zugunsten evolutionär neuartiger anthropologischer Mechanismen der Lebensgestaltung (Alsberg 1922).

Insofern ist es nicht überraschend, dass die Philosophische Anthropologie bei ihren Schlüsselautoren mit einer Werte-Theorie verbunden ist, also einer phänomenologischen Erschließung der „Werte“, der Orientierungs-Werte, die diese weltoffenen menschlichen Lebewesen für ihre Lebensführung entdecken und erfinden. Der Clou ist dabei, das diese philosophisch-anthropologisch fundierte Wertetheorie immer eine synchrone Pluralität der Werte phänomenologisch aufdeckt: So unterscheidet Scheler als dem menschlichen Lebewesen durch Fühlakte zugängliche Werte verschiedene, nicht aufeinander rückführbare Werte: Nämlich die sinnlichen Werte des Angenehmen, die Vitalwerte des Edlen, die geistigen Werte des Guten, Schönen und Gerechten und von diesen Werte noch einmal den Wert des Heiligen. Als ebenfalls nicht aufeinander rückführbare Grundwerte unterscheidet Nicolai Hartmann in der Nachfolge von Scheler das Gute, das Edle, die Fülle und die Reinheit. Ohne dass er den Begriff des Wertes verwendet, verfolgt Arnold Gehlen in seiner „pluralistischen Ethik“ (Gehlen 1969) ebenfalls eine Pluralität nicht aufeianderrückführbarer Werte, indem er vier „Sozialregulationen“ unterscheidet, und zwar nicht als diachrone Abfolge, sondern als synchrone Anforderungen an den handelnden Menschen: Familienethos, leibnahe Tugenden des Mitleids, Gegenseitigkeitsethos, Institutionenethos oder Staatsethos. Mit dieser realistischen Beobachtung der Pluralität von Orientierungswerten verschafft sich die oft verschmähte philosophisch-anthropologische Werttheorie analytisch den Vorteil, mit Antinomien zwischen Werten zu rechnen, tiefe Konflikte zwischen Normativitäten zu veranschlagen und sie der Aufklärung zuzuführen (Fischer 2018). Der faszinierendste Punkt an den philosophisch-anthropologischen Theorien der Normativität ist, die Pluralität entdeckter oder gesetzter absoluter Werte thematisieren zu können. Realistisch, wie sie angelegt ist, erfasst die Philosophische Anthropologie die in jeweiligen Situationen gegebene aporetische Normativität nicht etwas nur zwischen Gesellschaften, sondern in jeweiligen Gesellschaften (Plessner 2002), Antinomien der Pluralität, denen die jeweiligen individuellen Personen ausgesetzt sind (Landmann 1963, Pezzano 2012).

Um noch einmal die Originalität dieser philosophisch-anthropologischen Theorie zu bündeln – und zwar im Rückbezug auf Kant: Kant kannte ja keine philosophische Anthropologie, aber durchaus eine Anthropologie, und zwar dualistisch die physiologische Anthropologie einerseits, die pragmatische Anthropologie andererseits (Kant 1980, S. 3). Physiologische Anthropologie meint das, was die Natur aus dem Menschen macht; pragmatische Anthropologie das, was der Mensch aus sich selber macht. Philosophische Anthropologie im nachkantischen Sinn verschränkt in der Theorieanlage diesen Dualismus zu einem Doppelaspekt: Sie untersucht in ihrer philosophischen Biologie die hominitas, also wie die Naturgeschichte den Menschen so macht, dass er etwas künstlich aus sich selbst machen muss, und sie untersucht mit Bezug darauf die humanitas – was der Mensch aus selbst macht, allerdings immer im Rückbezug, im Medium seiner Natur, seiner Körperlichkeit, seiner Affekte, seiner Vitalität. „Philosophische Anthropologie“ als „ein Theorie- und Forschungsprogramm in der deutschen Soziologie nach 1945“ hat in diesem Sinn bis in die Gegenwart produktive Rezeptionen gezeitigt (Fischer 2019).

3 Rekonstruktion des Phänomens der Menschenrechte aus Sicht der Philosophischen Anthropologie

Ich wende mich jetzt dem Versuch zu, das Phänomen der Menschenrechte aus Sicht dieser modernen Philosophischen Anthropologie zu rekonstruieren. Dieser Teil 3 führt den Teil 1 des Beitrages, das Postulat der diversen Menschenrechte, mit Teil 2, der Theorie des Menschen, zusammen.

Zunächst ist noch eine Abgrenzung sinnvoll, welche durchaus möglichen Aufklärungspfade bezogen auf die Menschenrechte dieses Vorgehen nicht beschreitet. Es geht nicht um die naturrechtliche Begründung, die die Menschenrechte als von Natur aus den Menschen mitgegebene Rechte begreift, deren Schutz die staatliche Gewalt verpflichtet sei. Die philosophisch-anthropologische Aufklärung wird im Gegenteil zeigen, dass Menschenrechte gerade nicht zur Natur gehören, sondern vielmehr Erfindungen der Menschen angesichts ihrer Natur sind. Es handelt sich auch nicht um eine gesellschaftsgeschichtliche Aufklärung – welche sozialen Gruppen oder Klassen welche vormodernen Anspruchsrechte als Menschenrechte unter welchen Umständen entdeckt bzw. erfunden und ‚erkämpft‘ haben. Die geschichtliche Gewordenheit der sogenannten Menschenrechte in der Moderne ist hier gerade nicht das Thema. Es handelt sich deshalb ebenfalls nicht um eine soziologische Rekonstruktion der Grundrechte im Sinne der institutionellen Aufrechterhaltung sozial ausdiffererenzierter Kommunikationssyteme der modernen Gesellschaft (Luhmann 1965).Footnote 4 Ebenso wird keine religionssoziologische „Genealogie der Menschenrechte“ unternommen (Joas 2011). Es wird auch keine geistesgeschichtliche, texthermeneutische Untersuchung angeboten, welche „Menschenbilder“ sich in den jeweiligen Proklamationen zu den Menschenrechten ermitteln lassen (Krenberger 2008). Und auch wenn sie sich philosophisch nennt, ist nicht die ethische Begründung der Menschenrechte Aufgabe der Philosophischen Anthropologie, sondern eine realistische Aufklärung im Rückbezug auf die „exzentrische Positionalität“ des Menschen. Philosophische Anthropologie im hier verstandenen Sinn gehört nicht in das Gebiet der praktischen Philosophie, die mit ihrer Ethik für die normative Begründung zuständig ist, sondern zum Feld der theoretischen Philosophie mit ihren Kerngebieten der Metaphysik und der Erkenntnislehre. Insofern ist der philosophisch-anthropologische Ansatz der Menschenrechte auch verschieden von dem Capabilty Approach von Nussbaum (2015), der im Rahmen der praktischen Philosophie – im Rückgang auf die antike Philosophie des Aristoteles – kulturenübergreifende Grundbefähigungen des Menschen definiert, um ein gutes Leben zu führen, und dementsprechend Verwirklichungschancen des Individuums als Aufgaben des paternalistischen bzw. maternalistischen Gemeinwesen bestimmt.

Aufgabe der philosophisch-anthropologischen Theorie ist vielmehr, wie Plessner in seinem Handbuchartikel von 1957 erläutert, aus der Struktur des Lebens überhaupt die Conditio humana zu erschließen, also die hominitas, die „Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins“ – „ohne auf einen Sinn von Sein oder ein bestimmtes Menschheitsideal notwendig zu verweisen.“ „Anthropologie darf sich weder in Sachen Ontologie [Plessner meint hier Heideggers Fundamentalontologie] noch in Sachen Ethik als engagiert begreifen.“ (Plessner 1957, S. 411).

Der Beitrag zielt auf folgende vier Aspekte einer so verstandenen modernen philosophisch-anthropologischen Aufklärung der Menschenrechte: 1. Die „Humanitas“ der Menschenrechte als Antwort auf die Problem-Potenziale der „Hominitas“; 2. die gravierende Verschiedenheit der Menschenrechte – ihre antinomische bzw. pluri-nomische Struktur; 3. die gewisse Einheit der Menschenrechte in ihrer Verschiedenheit entlang der vier Welten der menschlichen Lebenswelt im Hinblick auf die „Menschenwürde“; 4. die Realisierung der Menschenrechte durch Praktiken der Macht, der demokratischen Volkssouveränität, des letztlich körperlichen Gewaltvollzuges im Zeichen der Demokratie.

3.1 Die Humanitas der Menschenrechte als Antwort auf die Potenziale der Hominitas

Exzentrisch positioniert erleben und erfahren sich menschliche Lebewesen basal in ihrer Hominitas in zweierlei Hinsicht: Als endliche, verwundbare, verletzungsoffene, leidensfähige Lebewesen einerseits, als Lebewesen mit einem starken Erhaltungsdrang, Entwicklungsdrang und Entfaltungsdrang andererseits: Verletzungsoffenheit einerseits, Ausdrucks- bzw. Darstellungsoffenheit andererseits.

Dabei fällt diesen Lebewesen innerhalb ihrer Hominitas selbst die Differenz zu anderen Lebewesen auf. Obwohl auch diese schmerzempfindlich sind ab einer gewissen Stufe des Organischen, sind Menschen in einem größeren Maße „verletzungsoffen“ (Popitz 1992; Nungesser 2019), nicht nur physisch verstümmelbar – zu denken ist an die Beschneidungen, die bereits männliche und weibliche Kinder an ihren empfindlichsten Genitalstellen stechen und damit ins Kollektiv unterwerfen – sondern auch seelisch kränkbar, geistig demütigbar – man denke z. B. an die Vorhaben der Moderne, überkommenen Kulturen das Recht auf Jahrhunderte alte Traditionen, überlieferte rituelle Beschneidungspraktiken zu verbieten.

Und umgekehrt: Auch wenn an anderen Lebewesen der Drang zur Erhaltung, Entwicklung und Entfaltung unüberseh- und unüberhörbar ist, der Erscheinungsdrang in der jeweiligen Umwelt zum Bauplan der Körper gehört, so fällt den menschlichen Lebewesen in ihrer Homanitas an ihnen selbst die Differenz zu allen anderen Vitalwesen auf: die besondere Antriebsüberschüssigkeit (Gehlen 1993), das unstillbare Begehren nach Mehr an Entwicklung, nach Mehr an Entfaltung und Auffaltung („Mehr-Leben“ und „Mehr-als-Leben“, Simmel 1918, S. 22, 23) und nach unendlicher Durchsetzung der Lebensimpulse.

Man könnte sagen, eine Schlüsselkategorie der Philosophischen Anthropologie, nämlich „Weltoffenheit“ als Spezifikum menschlicher Lebewesen (Scheler 1976), bedeutet einerseits eine kategorial neue Art der Verletzungsoffenheit (Popitz 1992), das Hineinstehen der Welt in diese Lebewesen, und andererseits eine kategorial neuartige Art der Drangoffenheit (Scheler 1976), das Hinausstehen dieser Lebewesen in die Welt.

Die Menschenrechte, die offensichtlich nicht zur Hominitas, sondern zur Humanitas gehören, also was Menschen aus ihrer Sondergestelltheit machen, werden nun auffällig informativ, wenn man sich vergegenwärtigt, was Menschen aus ihrer Hominitas heraus als menschliche Lebewesen einander antun können. Menschen können einander Gewalt antun und zwar weit über die Aggression von Tieren hinaus (Popitz 1992; Sofsky 1997). Sie können sich wechselseitig nicht nur verletzen, sondern foltern, verstümmeln, sich für erlittene Verletzungen rächen (Auge um Auge), einer den anderen vergewaltigen, sie können zueinander grausam sein. Sie können einander unterwerfen, im Sinne der Leibeigenschaft bleibend den Körper des anderen in Dienst nehmen, den anderen versklaven. Sie können einander festsetzen, fesseln, zum Bleiben an einem Ort zwingen, gefangen nehmen. Sie können aber auch die Habe des Anderen entwenden, unterschlagen, rauben, die ihm eigenen Sachen entwenden. Diese permanente Gefahr der Expropriation tritt in den Varianten der Tribute, der oktroyierten Abgaben einschließlich der Steuern auf, der Beschlagnahmung bis hin zur Raubkunst bzw. des Kunstraubes, bis hin zur vollständigen Enteignung. Die Anderen können ihn aber auch an seinem Stammplatz, seiner Behausung heimsuchen, in den Wohn- und Schlafplatz eindringen. Sie können sich einander zu einer ganz bestimmten symbolischen Orientierung zwingen, zu einem Glauben an eine bestimmte göttliche Größe, Menschen zwingen, anderem Glauben abzuschwören, ihren Kult, ihre vertrauten Zeichen und Riten aufzugeben. Menschliche Lebewesen können Geselligkeit und kommunikativen Austausch zwischen konkreten Lebewesen unterbinden, Koalitionen und Versammlungen zwischen solidarischen Partnern untersagen. Das sind alles realistische Möglichkeiten menschlicher Lebewesen untereinander, die sich aus ihrer Sondergestelltheit in der Naturgeschichte ergeben, ihrer Hominitas. Das ist zunächst schlicht realistisch vergegenwärtigt, was nur menschliche Lebewesen menschlichen Lebewesen antun können – ganz dahingestellt, was sie auch anderen Lebewesen antun können. Mit dieser anthropologischen Schätzung, was nur menschliche Lebewesen menschlichen Lebewesen antun können, insofern sie das Potenzial ihrer Hominitas und die Kompetenz haben, andere Menschen der grenzenlosen Gewalt und Kränkung auszusetzen, sie andererseits aber auch in deren grenzenlosen Begehren nach Entwicklung, Entfaltung, Erscheinenwollen zu blockieren, gewinnt man eine Folie, vor der die Menschenrechte als Forderungen von und für einzelne Menschen Sinn annehmen und in ganzen Bevölkerungsgruppen prinzipiell Resonanz auslösen, und zwar unabhängig davon, welche Bevölkerungsgruppe sie erstmals erfunden hat.

Aus diesem skizzierten Potenzial der hominitas wird nachvollziehbar, inwiefern die Menschenrechte für und in exzentrisch positionierten Lebewesen anthropologische Resonanz machen, inwiefern ein Recht auf Leben, ein Recht auf körperliche Unversehrtheit postuliert wird, ein Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung, ein Recht auf Eigentum, ein Menschenrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, ein Menschenrecht auf Freizügigkeit, ein Menschenrecht auf Gewissenfreiheit, ein Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, ein Menschenrecht auf öffentliche Kommunikation der eigenen Meinung, warum es ein Menschenrecht auf Vereinigungsfreiheit, ein Recht auf Versammlungsfreiheit, ein Recht auf einen fairen Prozess, ein Recht auf freie, gleiche und geheime Wahlen der Autoritäten einer Gesellschaft geben kann.

Exzentrische Positionalität bedeutet strukturell, dass menschliche Lebewesen sich ineinander versetzen können – emotional über das Nachfühlen von Lagen und Intentionen des Anderen, kognitiv über das Nachkalkulieren von Interessen der Anderen. Dieses Versetzungsvermögen – was gleichsam in den Begriff der exzentrischen Positionalität eingespeichert ist: nämlich exzentrisch zu sich selbst, versetzt sich ein Subjekt virtuell in das Zentrum eines anderen Subjekts und beobachtet oder fühlt die Verhältnisse von dort – ist eine ganze neutrale Sonderkompetenz des Menschen. Sie ist sowohl die Voraussetzung, einander zu beschämen, einander zu überlisten, einander zu belügen und betrügen, den einen vom anderen abhängig zu machen, aber sie ist auch die Voraussetzung, sich gegenseitig gleiche Rechte zuzubilligen, weil sie als sogenannte Menschenrechte die ständigen Möglichkeiten wechselseitiger Verletzung einerseits und der Blockierung des Entfaltungsdranges zu beiderseitigem Interesse einhegen.

3.2 Die Verschiedenheit der Menschenrechte – ihre antinomische bzw. plurinomische Struktur

Nach dem Aufweis der verschiedenen Menschenrechte als Antworten, als Erfindungen der humanitas auf die Herausforderungen der hominitas komme ich zum zweiten Aspekt der philosophisch-anthropologischen Aufklärung der Menschenrechte. Zum offenen Phänomen der Menschenrechte gehört, dass es nicht ein Menschenrecht gibt, sondern dass außerordentlich disparate Menschenrechte gefordert werden. Das wird durch den einen Leitbegriff der „Menschenwürde“ zunächst etwas verdeckt. Da sie ein wertpluralistisches Theorieprogramm mit sich führt, kann die Philosophische Anthropologie die antinomische Struktur der Menschenrechte beobachten und kann sie aufklären. Es gibt nämlich erhebliche Widersprüche zwischen den einzelnen Menschenrechte – zum Beispiel der erwähnte Widerspruch zwischen dem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und dem Menschenrecht auf freie Ausübung religiöser Konfessionen und Rituale (Beschneidung). Oder Widersprüche überhaupt zwischen den individuellen Menschenrechte und den kollektiven Menschenrechten z. B. von Sprachgruppen (das Recht auf die Sprache der jeweiligen Minorität in den Schulen). Aber auch die Antinomie zwischen dem Menschenrecht auf Schutz der Persönlichkeit (Privatsphäre) und dem Menschenrecht auf Meinungs- und Veröffentlichungs- und Kunstfreiheit.

Das Faktum der disparaten Menschenrechte verdeutlicht insgesamt, dass es nicht den einen absoluten Wert gibt, sondern eine Pluralität absoluter Werte – die Menschenrechte offenbaren insofern die Grenze eines Harmoniepostulats im Begriff des Menschen und der Menschheit. Menschenrechte sind Normen mit universellem Geltungsanspruch, aber eben äußerst disparate Normen mit antinomischen Verhältnissen untereinander, die je nach Situation, Persönlichkeit und Kollektiven von den institutionellen Instanzen, den jeweiligen Menschenrechtsadressaten in ihrem jeweiligen Gewicht gegeneinander abgewogen werden. Der sogenannte Katalog der Menschenrechte, also ihre bloße Aufzählung nacheinander, erweist sich – genau beobachtet – als ein Drama voll erzählbarer Antinomien. Insofern bedeuten Menschenrechte als pauschales Postulat einen Dauerstreit, eine Kollision der Normativitäten, welche dieser Rechte vor anderen in Konfliktsituationen Vorrang haben soll. Oder anders gesagt: Die philosophisch-anthropologische Aufklärung über die antinomische Struktur der Menschenrechte verdeutlicht, dass das Faktum der Menschenrechte in ihrer disparaten Pluralität eine Aufklärung des [Menschen] über sich selbst leistet – nämlich als Mensch eine Complexio oppositorum zu sein, eine exzentrische Positionalität, eine mehrfach zutiefst widersprüchliche Entität in der Natur.

3.3 Die Einheit der Menschenrechte in ihrer Verschiedenheit. Ihre Ordnung entlang der vier „Welten“: Außenwelt, Innenwelt, Mitwelt, symbolische Welt

Nach der Exposition der antinomischen, besser plurinomischen Phänomenalität der Menschenrechte komme ich zum dritten Aspekt der Menschenrechte aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie. Lässt sich eventuell die unübersehbare Heterogenität, die Verschiedenheit der Menschenrechte aber tentativ systematisch aufklären? Gibt es aus Sicht der Philosophischen Anthropologie eine plausible Systematik, warum es gerade diese Menschenrechte, warum es diese verschiedenen Menschenrechte sind? Lässt sich eine Einheit der Menschenrechte in ihrer Verschiedenheit aufweisen, die über ihre bloße Katalogizität hinausreicht?

Ich komme, aus Sicht der Philosophischen Anthropologie, zurück zu den vier Grundstrukturen der Conditio Humana, die ich im zweiten Teil des Beitrages eingeführt habe. Philosophische Anthropologie deckt vier Grundstrukturen, vier Welten, vier Mechanismen der menschenbildenden Situation auf, die sich gegenseitig voraussetzen und verstärken: Die Außenwelt, die Innenwelt, die Mitwelt, die symbolische Welt. Zu diesen Grundstrukturen der menschlichen Konstellation gehören also erstens das Verhältnis zu Dingen einschließlich des eigenen Körpers (das Subjekt-Objekt-Verhältnis), zweitens das Verhältnis des Menschen zu sich selbst (Selbstverhältnis im Leib), drittens das Verhältnis zu anderen Subjekten (Intersubjektivität), viertens das Verhältnis zu den Zeichen und Symbolen, also zu den Bildern und Begriffen, in deren kulturellen Medien menschliche Lebewesen sich und die Welt ordnen (Semiotizität). Die Sonderstellung des Menschen erzeugt, nochmal anders gesagt, eine spezifische Außenwelt, eine spezifische Innenwelt, eine spezifische Mitwelt, eine spezifische Symbolwelt bzw. Kulturwelt. Von der modernen Philosophischen Anthropologie her gibt es kein Primat einer Welt vor den anderen. Und entlang dieser vier Welten der conditio humana lässt sich die Fülle der Menschenrechte aufklärend ordnen. Das ist gleichsam ein erster Versuch, philosophisch-anthropologisch eine gewisse Ordnung der Menschenrechte zu plausibilisieren – wobei sich über die Zuordnung im Einzelnen streiten und reflektieren lässt. Wichtig ist angesichts der unübersehbaren Heterogenität und Plurinomie der Menschenrechte überhaupt den Versuch zu wagen, aus welchen Quellen – eben den vier ausdifferenzierten Welten – die jeweiligen Menschenrechte in den angesprochenen und betroffenen Menschen eine Resonanz erfahren.

Zur Grundstruktur des Verhältnisses zu den materiellen Dingen, also zur Außenwelt, also der ersten Grundstruktur (einschließlich des eigenen Körpers), gehören die Techniken und Gegenstände der Arbeit, das Mobiliar der Lebenswelt, die Gebäude, das Hab und Gut, die Dinge des Konsums, das Geld, soweit es den Wert des Besitzes stellvertretend speichert, den Wert des Eigentums an Sachen stellvertretend speichert. An diesem Grundverhältnis setzen offensichtlich alle Rechte auf Eigentum an, das Recht auf private Verfügbarkeit des persönlich Angeeigneten, wozu auch die Verfügbarkeit über das zu Vererbende, das Recht auf den sogenannten letzten Willen, das Testament, gehört. Insofern gibt es das Menschenrecht auf Rückgabe von geraubter Kunst – auch über Generationen. Da zu den materiellen Dingen, über die der Mensch verfügt, zentral der eigene Körper als Sache, als Leistungsbasis gehört (dessen Arbeit den eigenen Körper in die bearbeiteten Dinge mischt (Locke 1974, S. 22)), schließen an diese Dimension des Subjekt-Objekt-Verhältnisses auch das Recht auf freie Berufswahl an, also wie man gleichsam seine im Körper steckenden Kompetenzen an welcher Stelle einsetzt, aber auch das Recht auf so etwas wie den Verkauf der eigenen Organe, der eigenen Gene.

Zur Grundstruktur des Verhältnisses zu sich selbst, der Innenwelt, gehört die Erfahrung des eigenen Leibes, seiner Schmerzempfindlichkeit, seines Erscheinungscharakters, hinter der sich im Herzen oder im Kopf eine Innenwelt entfaltet mit ihren Phantasien, Kreativitäten und Urteilen, ihren Entwicklungs- und Entfaltungspotenzialen. Und an dieser Dimension setzen ganz offensichtlich die Menschenrechte der körperlichleiblichen Unversehrtheit an, des Rechts auf Leben, des Rechts auf Unantastbarkeit, aber auch das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit, also das Menschenrecht auf das Kriterium der eigenen inneren Entscheidung, aber auch das Recht auf die Freiheit der Entfaltung der Person einschließlich des Rechts auf Freizügigkeit, nämlich Orte und Herkunftskontexte zu verlassen.

Zur anthropologischen Grundstruktur des Verhältnisses zu anderen Subjekte, der Mitwelt, die dritte Dimension, gehören alle zwischenmenschlichen Formen der Wechselwirkung, der Figurationen, das Miteinander der Kooperationen, das Nebeneinander des Duldens, das Gegeneinander des Konflikts, das Weisungsverhältnis, die Stellvertretung etc. Und an dieser Dimension des Verhältnisses zu anderen Menschen setzen offensichtlich das Recht auf Familie und auf Erziehung der Kinder, aber auch die politischen Menschenrechte und die sozialen Menschenrechte an. Also das Recht auf freie Meinung, das ja ein Recht auf freie öffentliche Äußerung der Meinung in der Gruppe, der Partizipation am Meinungsbildungsprozess der Gruppe ist, aber auch das Recht auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung durch die Autorität, das Recht auf Mitwahl der Stellvertretung in einer Gruppe, also der Autorität der Gruppe selbst. Aber auch das Menschenrecht auf soziale Sicherung im Fall von Arbeitsplatz- und Wohnungsverlust, also das soziale Menschenrecht, seitens der Gruppe hinsichtlich der Lebensbedingungen gesichert zu werden.

Und zur Grundstruktur des Verhältnisses menschlicher Lebewesen zur Symbolwelt gehört schließlich die Vertrautheit der kulturellen Zeichen und Bilder, durch die die Welt jeweils in ihrer Nähe und Ferne geordnet, in ihrer Komplexität sinnhaft abgefiltert wird, also die überlieferten Mythen und Religionen, die konkreten Sprachen und Erzählungen. An dieser Dimension setzt offensichtlich das Recht auf Glaubensfreiheit an, das ja das Menschenrecht auf spezifische gemeinsame Bekenntnisse ist; also nicht, dass man nur privat glaubt, sondern dass man diesen Glauben gemeinsam bekennen kann, gemeinsame Bekenntnisse; das Menschenrecht auf ein Festhalten an vertrauten, überlieferten Mustern, das Festhalten an konkreten Sprachen der Vorfahren und Ahnen und an noch älteren Offenbarungssprachen, das Menschenrecht auf kulturelle Differenz, über die sich konkrete Gruppen integrieren. Hierauf, auf diese symbolische Welt, bezieht sich offensichtlich das Menschenrecht kultureller, oft sprachlicher Minderheiten in einer Mehrheitsgruppe, also auf den Schutz und die Bewahrung der Zugehörigkeit, des Schutzes ihrer spezifischen symbolischen Erschließungsweisen.

Durch die philosophisch-anthropologische Theorie lässt sich also die Komplexität der Menschenrechte als Einheit des Verschiedenen versuchsweise aufklären – entlang der nicht aufeinander rückführbaren vier Welten, die durch die Hominitas, die exzentrische Positionalität menschlicher Lebewesen generiert werden. Diese Anlehnung der Menschenrechte in ihrer Fülle an die Ordnung der Stellung des Menschen im Kosmos mit seinen vier Welten manifestiert zugleich die enorme Widersprüchlichkeit innerhalb des aufzählbaren Kataloges der Menschenrechte. Das abgrundtiefe Drama der Menschenrechte ist ein Spiegel der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Stellung menschlicher Lebewesen im Kosmos und kann offensichtlich in den Gesellschaften als Rechtsadressaten nur als eine stabilisierte Spannung Geltung fordern. Hier lässt sich auch das Spannungsverhältnis zwischen ‚Menschenwürde‘ und ‚Menschenrechte‘ verorten. Die ‚Menschenwürde‘ indiziert vermutlich eine Aura des menschlichen Lebewesens als quasi heilige, nicht antastbare Person (Joas 2011) – sie ist ein Realsymbol der Proportion, der Balance der verschiedenen Beanspruchungen, die die je einzelne individuelle Person für ihre Selbstdarstellung in der Gesellschaft mehr oder weniger selbst leisten muss oder die ihr auch ohne persönliche Leistungen per se zukommt (Vgl. die Debatten bei Düwell et al. 2014 und Jörden et al. 2012). Die heterogenenen „Menschenrechte“ nun sind insofern die gesellschaftliche rechtliche Stützung, der Schutz der individuellen Personen, um diese Leistung der „Menschenwürde“ in verschiedensten Situationen aufrechterhalten zu können. Dann könnte man philosophisch-anthropologisch so formulieren: Unter Gewährleistung der ‚Menschenrechte‘ vermag die je biografisch individuelle Person möglicherweise, die stabilisierte Spannung in und zwischen den vier Welten seiner „exzentrischen Positionalität“, ihre humanitas aufrechtzuerhalten.

3.4 Die Realisierung der Menschenrechte durch Praktiken der Macht, der Souveränität, der körperlichen Gewalt

Einen letzten Punkt kann die Philosophische Anthropologie aus ihren Voraussetzungen bezüglich des Phänomens der Menschenrechte beobachten. Dabei gibt die französische Erklärung der Menschenrechte, auf die sich meine Argumentation auch hier bezieht, einen Wink – sie wimmelt von verschiedenen Menschenrechten, also Rechten, die für alle Menschen gelten und einklagbar sein sollen, aber die Deklaration ist im selben Atemzug auch durchsetzt und gesättigt mit Begriffen der Macht, der Gewalt, der Souveränität, der Durchschlagskraft des Gesetzes, der Legitimation zu verhaften und zu strafen mit Erzwingungsmacht (etre accusé, arreté nie détenu). Nämlich dann, wenn gegen die Menschen- und Bürgerrechte von Subjekten durch Subjekte verstoßen wird. Menschenrechte sind eben keine moralischen Imperative, sondern einklagbare Rechte – sie verweisen als Rechte notwendig auf das Verfahren vor entscheidungsbefugten Gerichten und hinter den Gerichtsurteilen im Fall von festgestellten Menschenrechtsverletzungen auf den Strafvollzug, der im Zweifel mit Gewaltmitteln durchgesetzt wird (tout citoyen appelé ou saisi en vertu de la loi doint obéir à instant/jeder Bürger, der kraft Gesetzes vorgeladen oder festgenommen wird, muss sofort gehorchen).

Das kommt für eine Philosophische Anthropologie nicht überraschend, also für die Theorie, die das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper (eine andere Formel für „exzentrische Positionalität“) als ausschlaggebend veranschlagt, eine Theorie, die den Kausalnexus der Naturkraft auch im und durch das menschliche Lebewesen von Beginn an mitbeobachtet. Alle ‚exzentrisch‘ künstlich herausgesetzten normativen Strukturen seiner Lebensführung verlangen nach „Verkörperung“ (Plessner). Die postulierten Menschenrechte sind offensichtlich zu ihrer Realisierung ihrerseits auf die Kraft der verselbständigten, machtakkumulierenden Körperschaften in der Gesellschaft verwiesen. Also das, was man auch die Institutionen nennt, also die schon erwähnten Gerichte, die die Gesetze im Konfliktfall anwenden, vor allem aber auf den körperlichen Gewalterzwingungseinsatz durch Polizeikräfte, durch die Gefängnisse, durch Strafvollzugsbeamte, durch Streitkräfte, um den postulierten Geltungsanspruch der Menschenrechte in einem konkreten Raum faktisch durchzusetzen und aufrecht zu erhalten (Schelsky 1980). Es gibt – darauf macht die Philosophische Anthropologie aufmerksam – keine Geltung heischenden Menschenrechte ohne Verhaftung der Menschenrechtsverletzer durch den Volkssouverän, ohne empfindliche Strafen, Eigentumsstrafen und Freiheitsstrafen im Namen des Volkes, im Namen des demokratischen Volkes. Es gibt keine Menschenrechtsnormen ohne die sie legitimierende Gewalt der Gefängnisse (Alston und Macdonald 2008), ohne eine Menschenrechtserzwingungsnorm.Footnote 5 Das ist der Schatten, den die Menschenrechtspostulate im Lichte der Lichtmetaphorik der Aufklärung werfen, es ist die dunkle Seite der hellen Forderung nach Menschenrechten.

Insofern kann Philosophische Anthropologie als realistische Theorie plausibel machen, dass erst in der demokratischen Moderne, also erst in einem geschichtlichen Zeitraum enormer absoluter Machtakkumulationen durch staatliche Gewalt der Volkssouveränität, die auf disziplinierter, körperlicher Gewaltschulung in Europa beruhte, die Fiktion von universal gültigen Menschenrechten aufkam, die man mit Hilfe dieses demokratisch in Dienst genommenen Monopols physischer Gewaltsamkeit von Zwangsapparaten durchzusetzen glaubte (force publique/öffentliche Macht) Foucault ist vermutlich kein einschlägiger Bezugsautor hinsichtlich des anschwellenden Menschenrechtsdiskurses, aber mit seiner bahnbrechenden Schrift „Überwachen und Strafen“ ein zentraler Denker für alle Praktiken der Durchsetzbarkeit von Menschenrechten (Foucault 1977).