Die sich in der europäischen Neuzeit herausbildende Um- und Neustrukturierung der universitären Wissenschaftsorganisation ist sowohl durch eine Ausdifferenzierung klassischer Disziplinen als auch dem Aufkommen gänzlich neuer Fachwissenschaften gekennzeichnet. Mit diesem Prozess gehen im Laufe der Zeit zunehmend enger gefasste Forschungsorientierungen und differenziertere paradigmatische Zugänge für nunmehr primär fachspezifisch verstandene Probleme und Erkenntnisinteressen einher. Die lange vorherrschende Vorstellung des, typischerweise männlich verstandenen, Universalgelehrten tritt in diesem Entwicklungsprozess zwangsläufig mehr und mehr in den Hintergrund, sie wird abgelöst durch die disziplinäre oder teildisziplinäre Expertise von Fachmenschen, die einen abgrenzbaren Forschungsbereich spezialistisch überblicken. In diesem Sinne versteht sich auch die Soziologie, unter anderem in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zur Biologie (Weingart 2000; Hejl 2000), seit ihrem Aufkommen zunehmend als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, die wohl mit anderen Disziplinen Gegenstandsüberschneidungen aufweist, sich aber über ihr spezifisches Erkenntnisinteresse von Nachbardisziplinen unterscheidet (Morel 2015, S. 383 ff.; Dimbath 2020, S. 34 ff.). Gewonnen wird in diesem disziplinären Differenzierungs- und Abgrenzungsprozess zweifelsohne ein Erkenntnisgewinn in Richtung größerer analytischer Tiefe bei der Problemdurchdringung mittels der Entwicklung immer elaborierterer Theorien und Methoden, vernachlässigt wird dabei aber häufig die Breite, also die Frage nach der möglichen analytischen Bedeutsamkeit einer Inklusion der Erkenntnisse anderer Disziplinen für das eigene Problemverständnis. Im Folgenden soll dieser letzteren Sichtweise verstärkt Rechnung getragen werden, ohne die spezifisch soziologische Fragestellung damit aufzugeben.

Thematisch geht es in diesem Beitrag um die Frage nach dem Zusammenwirken von Normativität und Emotionalität in sozialen Prozessen unter der spezifischen Fragestellung nach einer evolutiv informierten Erklärung dieser Konstellation. Eine dieser Problematik angemessene und die historische Dimension berücksichtigende Erkenntnis- und Theoriestrategie darf sich dabei nicht auf eine funktionale Begründungslogik beschränken, sondern sie muss auf den humangeschichtlichen Entstehungszusammenhang der beiden Vergesellschaftungsmodi und deren Wirkungszusammenhang als einen historischen bzw. soziogenetischen Prozess reflektieren. Der Begriff der Soziogenese zielt in diesem Kontext auf den Natur-Kultur-Übergangsprozess ab, in dem sich aus tierisch-sozietären Organisationsformen neuartige human-soziale gebildet haben. Von Bedeutung ist dabei, der Falle einer einseitig naturalistischen oder einseitig kulturalistischen Argumentation zu entgehen. Um dem zu entsprechen bedarf es zum einen einer Berücksichtigung des Wissensstands aus anderen Disziplinen, zum anderen einer Argumentationsweise, die einer prozessualen Rekonstruktion verpflichtet ist. Dem soll nachfolgend mittels des Einbezugs von anthropologisch-evolutionstheoretischen Überlegungen und Wissensbeständen und unter Bezugnahme auf die historisch-genetische Theorie (Dux 14,15,a, b) Rechnung getragen werden.

Ein derartiger fächerübergreifender Zugang schließt in gewisser Weise an die comtesche Vorstellung eines enzyklopädischen Wissensaufbaus an, der gekennzeichnet ist durch fachliche Spezialisierung und relativer Autonomie neuerer Wissenschaften bei gleichzeitiger Integration des Wissens älterer und anderer Disziplinen mit Ausnahme der Psychologie (Comte 1974; Mikl-Horke 2011, S. 23 f.), eine Perspektive also, die aktuell eher selten verfolgt wird. Eine bekannte Ausnahme ist die an die comteschen Überlegungen anschließende Forderung von Elias (1986, 1987) nach synthetisierenden Prozessmodellen, die mit verschiedenen Integrationsebenen operieren, wodurch er einerseits in der Lage ist, fachfremdes Wissen in soziologische Analysen zu integrieren, ohne andererseits dabei reduktionistisch zu argumentieren. An dem Grundproblem eines disziplinären Partikularismus setzt auch die Kritik von Wallerstein (1995, S. 41 ff., 1999, S. 15 f.) an, wenn er beispielsweise auf die epistemologische Bedeutung der Forschungen von Prigogine zu dissipativen Strukturen für die Sozialwissenschaften hinweist oder für die Soziologie eine historische Perspektivierung einfordert (Wallerstein 2000). Ähnlich äußerte sich auch Massey (2002) in seiner Presidential Address, wenn er zum einen eine historische Perspektive einfordert, zum anderen die Betonung der Rationalität in soziologischen Arbeiten auf Kosten der Emotionalität kritisiert.

Seit einiger Zeit gibt es allerdings auch wieder Bemühungen in Richtung eines stärkeren interfachlichen Austauschs, die unterschiedlichen Motiven entspringen. Auf der einen Seite wird etwa im Projektbereich und bei Forschungsanträgen inneruniversitär wie auch wissenschaftspolitisch ein starker Druck in Richtung einer inter- und transdisziplinär angelegten Forschungslandschaft aufgebaut, auf der anderen Seite haben sich Nachbardisziplinen den theoretischen und methodologischen Zugängen der Soziologie geöffnet und machen sich diese in ihren eigenen Forschungen zu Nutze. Im letzteren Fall steht aber wohl mehr die problemspezifische Inkorporation und Nutzbarmachung fachfremden Wissens im Vordergrund (‚Steinbruchmentalität‘) und weniger das Interesse an einem systematischen Diskurs zwischen den Disziplinen (Müller 2003; Jüttemann 2014). Dies gilt jedoch auch in umgekehrter Richtung. So ist es wenig überraschend, dass soziologische Arbeiten, die im Sinne von Wallerstein fachfremde Erkenntnisse in die eigenen Theoriemodelle einzuarbeiten und diese perspektivisch im Sinne einer evolutionären Soziologie zu erweitern suchen (Runciman 1989, 2009; Turner 2003, 2007; Turner und Maryanski 2008; Turner und Abrutyn 2017; Turner und Machalek 2018; Takács 2018), vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen bzw. Folgen für die allgemeine Theorieentwicklung zeitigen. Nur relativ selten kommt es zu intensiveren Diskussionen beispielsweise über den Versuch einer Fruchtbarmachung und möglicher Integration darwinistischer und soziobiologischer Prämissen in soziologisches Gedankengut (Sanderson 2001, 2007; Niedenzu et al. 2008) oder, um ein anderes Beispiel anzuführen, über die soziologische Bedeutung der Forschungen von Tomasello (2011, 2013; Mollenhauer 2015; Albert et al. 2016). Viel häufiger wird die mögliche Relevanz fachfremden Wissens für die Soziologie ignoriert oder gar von vorne herein plakativ (‚Psychologisierung‘, ‚Biologisierung‘, ‚Naturalisierung‘ etc.) in Frage gestellt, ohne sich jedoch inhaltlich vertiefend damit auseinanderzusetzen. Umgekehrt gilt das aber auch für andere Disziplinen, die ihre eigene Erkenntnisstrategie durch eine ‚Soziologisierung‘ bedroht sehen und ihrerseits soziologisches Wissen weitestgehend ausklammern. Im hier vorgelegten Band zeigen dies die Beiträge von Patrick Wöhrle am Beispiel des Würdekonzepts für die Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften sowie von Christian Dries am Beispiel der Diskussion um die Begründung menschlicher Urteilskraft in Psychologie und Philosophie auf.

Das hier verfolgte Thema der Soziogenese von Normativität und Emotionalität steht genau in diesem Spannungs- und Konfliktfeld. Ungeachtet der unterschiedlichen paradigmatischen Ausrichtungen gibt es in der Soziologie vermutlich keine Position, die die Zentralität des Normativen für soziologische Analysen des Sozialen grundsätzlich bestreiten würde, auch wenn dem Normativen in den diversen Theorieansätzen unterschiedliches Gewicht zugemessen wird. Nun reklamieren aber auch andere Disziplinen von der Philosophie über die experimentelle Wirtschaftsforschung bis hin zur Evolutionsbiologie für sich, wichtige Einsichten in die Genese, die Struktur und die Wirkungsweise des Normativen gewonnen zu haben und Erklärungen liefern zu können. Noch schwieriger wird es bei der Frage nach der Rolle des Emotionalen für die soziologische Analyse des Sozialen, wo andere Wissenschaften wie insbesondere die mehrheitlich naturwissenschaftlich ausgerichtete Psychologie und die Lebenswissenschaften die Deutungshoheit für sich in Anspruch nehmen (Schwab 2004). Diesen Herausforderungen und Monopolansprüchen innerhalb eines wenig harmonischen ‚Konzert der Wissenschaften‘ (Meleghy et al. 1997) bzw. zwischen unterschiedlichen Wissenskulturen (Scherke 2009, S. 40 f.) gilt es sich zu stellen. Dies ist umso mehr erforderlich angesichts einer Situation, in der die Soziologie ungeachtet verschiedener Emotionskonzepte (Flam 2002) bislang noch über keinen in sich widerspruchsfreien sozialtheoretischen Entwurf verfügt, der die in den soziologischen Paradigmen übliche starke Konzentration auf die kognitive (normative) Dimension mit der emotionalen in konsistenter Art und Weise zusammenführen würde (Schützeichel 2006, S. 13 ff.).

Als Versuch der Erarbeitung eines Disziplinen verschränkenden Brückenkonzepts zwischen themenrelevanten Disziplinen kann die Programmatik der Philosophischen Anthropologie verstanden werden, die als ihren Ausgangspunkt den Anspruch vertritt, das geistes- und naturwissenschaftliche Wissen über den Menschen für ein umfassenderes Verständnis des Menschen zusammenzuführen. Diesem Grundanliegen entsprechend möchte ich im Folgenden, unter zwangsläufig nur sehr selektiver Berücksichtigung der Forschungsergebnisse anderer Disziplinen, aber unter einer strikt soziologischen Perspektive, die die soziale Interdependenz in den Vordergrund rückt, Normativität und Emotionalität als basalen Bausteinen des Humansozialen nachspüren. Im Vordergrund steht dabei der Versuch einer evolutionstheoretisch informierten prozessualen Rekonstruktion der Soziogenese von Normativität und Emotionalität. Paradigmatisch orientiere ich mich dabei an der von Günter Dux in seinem umfangreichen Oeuvre vertretenen historisch-genetischen Theorie (zuletzt Dux 2017a; Bohmann und Niedenzu 2020) sowie an eigene daran anschließende Arbeiten (Niedenzu 2012, 2014; Boczy und Niedenzu 2021)Footnote 1. In Erweiterung derselben verfolge ich dabei die These, dass Normativität und Emotionalität in anthropologisch-evolutiver Perspektivierung gleichursprüngliche und strukturell miteinander verbundene Modi der Weltzuwendung sind, die jeder humanen Sozialität bzw. humansozialen Organisationsform zu Grunde liegen. Insofern soll hier der Versuch gewagt werden, über die verschiedenen bereits vorliegenden Emotionstheorien mittlerer Reichweite, die wohl die wechselseitige Verknüpfung von Normen und Emotionen herausarbeiten, in aller Regel diese Verbindung aber nur mit sozialisationstheoretischen und nicht mit evolutionären Überlegungen zusammendenken, hinauszugehen. Nur indem man die Perspektive auf die gattungsgeschichtliche Genese erweitert, wird es möglich sein, dem vorherrschenden ‚kognitivistischen Bias‘ der Sozialtheorie, aber auch der Philosophischen Anthropologie (Lenk 2013, S. 109), entgegenzutreten und dadurch zu einem realistischeren Verständnis humangesellschaftlicher Lebensweise zu gelangen. Gleichzeitig würde damit auch eine gewisse Leerstelle in der duxschen Theorie behoben, in der das Thema der Emotionalität als unterbelichtet erscheint.

Die folgenden Ausführungen verstehen sich vor diesem Hintergrund primär als einen konzeptionell-programmatischen Versuch, einen Weg zu weisen, wie die sozialtheoretischen Grundlagen des Faches in Bezug auf die aufgeführte Fragestellung neu expliziert und konzipiert werden müssten, um dem aktuellen Wissensstand hinreichend Rechnung tragen zu können. In diesem Sinne geht es mir in diesem Beitrag auch nicht um eine ausführlichere Literaturaufarbeitung und -diskussion, sondern nur sehr selektiv um die Darstellung sowie das Ausweisen möglicher Defizite rezenter Verständnisse von Normativität und Emotionalität aus einer sozialtheoretisch-evolutiven Perspektive. Anders ausgedrückt steht die gattungsgeschichtlich-soziogenetische Frage im Zentrum. Beginnen werde ich mit einigen wenigen einleitenden Bemerkungen zur Normativität, bevor ich mich in einem zweiten Schritt etwas ausführlicher dem Stellenwert des Emotionalen in soziologischen Analysen zuwende. Im abschließenden dritten Schritt geht es dann, wiederum auf einer rein programmatischen Ebene, um die Skizze eines Lösungsvorschlags, wie der Soziogenese von Normativität und Emotionalität als einem strukturell gekoppelten Vorgang in weiteren Forschungen nachgespürt werden könnte.

1 Normativität

Die sowohl in historischer als auch in rezenter Perspektive offensichtliche Vielfalt der uns bekannten soziokulturellen Organisationsformen und kognitiven Weltinterpretamente humaner Gesellschaften hat schon die soziologischen Klassiker Comte, Marx, Spencer und Durkheim veranlasst, nach grundlegenden Ordnungs- und Entwicklungskriterien sowohl der Strukturformen des Sozialen als auch deren Veränderung zu suchen, was sich bei ihnen bekanntlich in diversen Gesetzesannahmen und Entwicklungsmodellen niedergeschlagen hat. Einen anderen Weg haben die Klassiker der Philosophischen Anthropologie Scheler, Plessner und Gehlen eingeschlagen, die nach kategorialen Wesensmerkmalen des Menschen gesucht haben und von diesen ausgehend zu Erklärungsversuchen des Sozialen gekommen sind. Wenn man beiden Erklärungsrichtungen einen heuristischen Erkenntniswert zuerkennt, erfordert das den Versuch, in der folgenden Argumentation soziologische Strukturanalyse und anthropologisches Wissen gleichermaßen einzubringen und miteinander auszubalancieren.

Bezogen auf den hier verfolgten Kontext sind alle uns bekannten Gesellschaftsformen empirisch durch wenigstens zwei Strukturmerkmale gekennzeichnet, die mithin als konstitutionelle Bedingungen der humanen Lebensform angesehen werden müssen. Diese universalen Gestaltungsmerkmale des Gesellschaftlichen sind Macht und Normativität, über die, ungeachtet ihrer jeweils spezifischen historisch-konkreten Ausgestaltungen, seit Beginn der Humangeschichte die sozialen Austauschverhältnisse geregelt worden sind. Der Begriff der Universalität wird hier nicht in einem soziobiologisch-reduktionistischem Sinne einer ultimaten Ursache für ein gesellschaftliches Phänomen verwendet, sondern er bezieht sich an dieser Stelle ausschließlich auf die historisch-empirisch nachweisbare Strukturdurchgängigkeit dieser Merkmale in allen uns bekannten Gemeinschafts- und Gesellschaftsformen. So hat es in der Humangeschichte keine Organisationsform gegeben, in der Interaktionsstrukturen und systemische Verhältnisse machtfrei gewesen wären und nicht auch, neben anderen Mechanismen, durch moralische und konventionelle Normen stabilisiert worden wären. Darüber hinaus darf die Universalität von Merkmalen nicht im Sinne von vorgegebenen ahistorischen Wesensformen und somit metaphysisch verstanden werden, sondern auch sie unterliegen konstruktiven Prozessen (Acham 2001; Hejl 2001). Macht und Normativität als basale Strukturformen humaner Lebensweise wie auch in ihren Formen sind ihrerseits selbst emergente Resultate eines langen evolutiv-gattungsgeschichtlichen Prozesses (Dux 2017a, S. 194 ff.), der erst den Übergang von der Naturgeschichte zur (Kultur‑)Geschichte ermöglichte (Niedenzu 2014, 2016). Gleichzeitig unterliegen sie einem quasi phänotypischen Wandel, was ihre jeweilige Ausprägungsform in historisch unterschiedlichen soziokulturellen Organisationsmodellen betrifft.

Je nach verfolgtem Erkenntnisinteresse lässt sich der Bereich des Normativen unterschiedlich aufschlüsseln. So unterscheidet Heinrich Popitz (1980, S. 34 ff.) bei normierten Verhaltensregelmäßigkeiten zum einen bezüglich ihrer sozialen Verbindlichkeit klassifizierend zwischen Sitten- und Rechtsnormen; zum anderen differenziert er bezüglich der sozialen Reichweite der Normativitätsstruktur zwischen Allgemeinen Normen sowie reziproken und nichtreziproken Partikularnormen als universal vorfindbaren Kernelementen oder grundlegenden normativen Bausteinen einer jeden gesellschaftlichen Organisationsform. Des Weiteren finden sich überall Normen, die die Zuständigkeit für die Nachwuchspflege betreffen, sowie Grenz- und Sanktionsnormen. Darüber hinaus hat er (Popitz 2006, S. 187 ff.) versucht, Strukturmerkmale der ersten Vergesellschaftungsformen, das ‚primäre soziale Gehäuse‘, zu bestimmen. Ralf Dahrendorf (1969) wiederum geht seinerseits vom normativen Verpflichtungsgrad und damit verbunden der Sanktionswahrscheinlichkeit aus, wenn er zwischen Muss‑, Soll- und Kann-Erwartungen unterscheidet. Beide Autoren rücken damit aufschlussreiche strukturelle Merkmale des Normativen in den Vordergrund ihrer Analyse. Nicht in Ersetzung, sondern in Ergänzung dieser Sichtweisen möchte ich hier eine weitere analytische Differenzierungsmöglichkeit einbringen, die sich mehr an der sozialstrukturellen Genese der Facetten des Normativen orientiert; ungeachtet der immer nur analytischen Unterscheidbarkeit soll im Folgenden primär zwischen moralischen, konventionellen und/oder gesatzten Normen differenziert werden. Mit dieser zusätzlichen Perspektive lassen sich das prozessuale Moment, der soziale Entstehungsort und die dynamische Unterscheidung in der sozialen Reichweite von Moralität und Normativität, also sozial-emotionaler Nahbereich (‚natürliche Tugenden‘) versus sozialer Fernbereich (‚künstliche Tugenden‘) (Hume 1996; Niedenzu 2012, S. 188 ff.), sowie daraus resultierende Folgeprozesse meines Erachtens besser erfassen.

Wie konnte sich bei Menschen, ganz generell und erst einmal absehend von den oben getroffenen Unterscheidungen, der Modus des Normativen als solcher überhaupt als ein evolutionär gesehen neues Strukturierungsprinzip im Prozess der Re-Organisation vorhuman-sozietärer zu einer nachfolgenden sozial-humanen Lebensweise gattungsgeschichtlich herausbilden? Nach derzeitigem Wissensstand kennen Tiere wie beispielsweise Schimpansen, Bonobos, viele Affenrudel, Wölfe, Hyänen, Löwen, Erdmännchengruppen etc., die in sozialen Strukturen mit einigermaßen klaren Konturen zusammenleben, schließlich keine tentativ-normativ erfolgende Strukturierung ihrer sozialen Austauschverhältnisse, sondern deren Strukturformen folgen weitestgehend organisch-biologischen Vorgaben und ökologischen Anpassungsnotwendigkeiten.

Der Versuch einer Beantwortung führt auf unsichereres Terrain, auf dem evolutionsbiologische, evolutionspsychologische und ethologische Zugänge und Verständnisse mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Sichtweisen, die sich ihrerseits zusätzlich noch disziplinintern nach dem jeweils verfolgten Paradigma unterscheiden, um die Deutungshoheit konkurrieren. Dabei kommen grundsätzliche Bruchlinien zwischen den Wissenskulturen zum Vorschein. Während die naturwissenschaftliche Seite mehrheitlich dazu tendiert, evolutionäre Kontinuitäten insbesondere in der Primatenlinie hervorzuheben und damit die prinzipielle Unterscheidbarkeit von Tieren und Menschen eher als gradualistische Abstufung in Fähigkeiten und Fertigkeiten und nicht als etwas qualitativ neu Emergiertes anzusehen (stellvertretend für diesen Diskussionsstrang Sommer 2007, 2008, 2009), geht die sozialwissenschaftliche Seite nach wie vor implizit oder explizit von einer ‚Sonderstellung‘ des Menschen im Vergleich zu den Tieren und damit einem qualitativen Bruch aus. Auf das Normativitätsverständnis übertragen beinhaltet das die Frage: Gibt es Vorläuferstrukturen, die nur weiter entwickelt worden sind, oder handelt es sich bei Normativität um ein evolutionär völlig neues Gestaltungsprinzip des Sozialen?

Brückenkonzepte zur Überwindung der unterschiedlichen Verständnisse sind rar. Stellvertretend für diese Versuche seien die Arbeiten von Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, Heinrich Popitz und Günter Dux im Kontext der Philosophischen Anthropologie genannt (Fischer 2014). Vom Anspruch her versuchen die genannten Autoren wohl, biologisches und sozial- und kulturwissenschaftliches Wissen über den Menschen systemisch zusammenzuschließen, aber die konkreten Ausführungen sind, zumindest aus evolutionsbiologischer Perspektive, zum Teil wiederum einseitig kulturalistisch. Dieser Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt, weil die organisch-biologische Komponente oft nur als Ausgangspunkt oder Unterscheidungsmerkmal, nicht aber als kontinuierlich einzubeziehende Komponente in die Erklärungssysteme des Sozialen einfließt. Trotz dieser Kritik ist festzuhalten, dass gerade die genannten Autoren in ihren Ausführungen gezielt versuchen, sich dem kulturalistischen Vorwurf zu entziehen, um so eine der größten Disziplinbarrieren in der Wissenschaft überwinden zu können. Denn weder kulturelle noch biologische Ansätze können jeweils für sich allein genommen das Spektrum menschlicher Entwicklung, des Verhaltens und der gesellschaftlichen Organisationsformen ausreichend erklären. So spricht etwa der Wissenschaftsphilosoph John Dupré (2005, 2012) bezüglich der Strukturen des Lebens von einem indeterministischen Kompatibilismus; mit diesem Begriff will er darauf hinweisen, dass weder die genetische Organisation noch die Kultur jeweils für sich allein genommen das Verhältnis der beiden Seiten zueinander und deren Strukturen hinreichend erfassen können. Vielmehr bedarf es eines dynamisch-prozessualen Verständnisses eines offenen Verhältnisses der beiden Momente zueinander, welches erst noch der Formung bedarf. In etwas anderer Terminologie und primär bezogen auf Sozialisationsprozesse finden wir diese Sichtweise einer Aufeinanderbezogenheit des konkreten Verhältnisses von Organischem und Kulturellem bereits bei Berger und Luckmann (1980, S. 192 ff.).

Der Disput zwischen den Wissenskulturen um die richtige Erklärungsstrategie betrifft ganz zentral das Sinnproblem und dessen evolutive Begründbarkeit. Zweifelsohne werden Normen in der Soziologie als variable geistig-sinnhafte und damit primär kognitive Elemente angesehen. An diesen orientieren sich einerseits menschliche Verhaltensweisen, andererseits dienen sie der Absicherung und Begründung menschlicher Sozialstrukturen. Unzweifelhaft handeln Menschen, zumindest in den allermeisten Situationen, offensichtlich sinnorientiert im Rahmen der gesellschaftlichen Bedingtheiten und nicht nach angeborenen Programmen. Nach soziologischem Verständnis bedarf es deshalb einer anderen Begründungsstruktur für gesellschaftliche Phänomene, welche am Sinnphänomen ansetzen muss. Sinnhaft bedeutet dabei natürlich nicht, dass beispielsweise Normen immer Ergebnis und Manifestation intentional gewollten Handelns sind; nur zu oft sind sie unintendierte Folgen ganz anders ausgerichteter Handlungsintentionen. Diese Erklärung menschlicher Handlungen und humansozialer Strukturbildungen transzendiert aber – sofern man nicht bereit ist, die Inhalte mentaler Prozesse reduktionistisch als Epiphänomene rein physiologischer Prozesse anzusehen – den naturwissenschaftlichen Erklärungsanspruch, der erst einmal am Genommaterial und (epi)genetischen Prozessen ansetzt. Nicht die Anerkennung der Bedeutung des Sinnhaften als solches ist allerdings der Streitpunkt, denn zweifelsohne verfolgen auch nichtmenschliche Tiere mit Handlungen durchaus einen Sinn, wie ja zahlreiche Studien und Experimente beispielsweise mit Primaten, Ratten, Rabenvögeln etc. aufzeigen konnten und die sich in biologischen Rastern als ‚ökologische Intelligenz‘ als Oberbegriff für Umweltintelligenz und für soziale Intelligenz interpretieren lassen (Miersch 2003). Vielmehr geht es primär um die grundsätzlichere Frage, ob es bei der Sinnsphäre einen systematischen Unterschied zwischen Tieren und Menschen gibt, der ein rein naturwissenschaftliches Verständnis prekär werden lässt. Bezogen auf ihren sinngebundenen Charakter stoßen wir mit dem Normativen hier jedenfalls auf eine mögliche Bruchstelle, welche die naturwissenschaftliche Kontinuitätsvorstellung (‚Gradualismus‘) zur Disposition stellt.

So prekär auch der Tier-Mensch-Vergleich als Ausgangspunkt sein mag, unterschlägt er doch sämtliche Differenzierungen und Abstufungen (welche Tierart ist eigentlich unser ‚Bezugstier‘: Der gemeine Schimpanse? Die Bonobos? Primaten im Allgemeinen? Für eine prozessual-evolutive Perspektive macht es ja einen Riesenunterschied, welche Sozialstruktur man als sozietär-vorhumane Gruppenstruktur zum Ausgangspunkt der humanen Entwicklung wählt …; vgl. de Waal 2006, S. 19), so haben wir es doch rein phänomenbezogen und ausschließlich Grosso modo betrachtet mit zwei unterschiedlichen handlungssteuernden Prinzipien des Zusammenlebens im vorhumanen und im humanen Bereich zu tun (Niedenzu 2012, S. 304 ff.). Im vorhumanen Bereich stehen die Handlungsmöglichkeiten und die jeweilige artspezifische Organisationsform der sozietären Lebensweise in ihren formativen Prinzipien als solche nicht zur Disposition der Akteure. Auch wenn spätestens bei höheren Primaten eine gewisse Plastizität durchaus in Rechnung zu stellen ist (de Waal 1997, 2006, S. 304 ff.), beruhen Handlungen und sozietäres Zusammenleben doch weitestgehend auf naturalen, genetisch kodierten Voreinstellungen im Sinne von vorgegebenen Programmen. Wohl wissen wir, wie gerade angedeutet, mittlerweile, dass auch einige Tiere in unterschiedlicher Ausprägung lernfähig sind und zumindest ansatzweise sinnhaft-reflexiv handeln können und somit nicht nur vorprogrammierten Handlungssequenzen folgen. Nichtsdestotrotz lässt sich aber auf Grundlage der derzeitig zur Verfügung stehenden Forschungsmethoden und dem darauf aufbauenden Wissensstand keine normative (Re‑)Strukturierung ihrer sozietären Strukturen nachweisen. Was wir bislang forschungsmäßig gesichert vorfinden ist einzig eine gewisse Plastizität des Verhaltens sowie eine Kenntnis von Verhaltensregeln innerhalb der Eigengruppe. Diese Regelkenntnis bleibt aber selbst im Falle neu kreierter Gruppenregeln im protonormativen Bereich stecken; es gibt keinen nachgewiesenen Fall, dass Tiere in der Lage wären, die Grundstrukturen ihrer sozietären Organisation grundlegend zur Disposition zur stellen und normativ zu reorganisieren (Niedenzu 2010, S. 193 ff.). Das würde voraussetzen, dass ein abstraktes Kommunikationsmedium wie etwa eine abstrakt-begriffliche Sprache anstelle einer nur gering manipulierbaren Signal- und Lautsprache zur wechselseitigen Verständigung über Inhalt, Situationsbezogenheit und Legitimität der Normen zur Verfügung stände. Konstruktiv generierte Normen müssten als allgemein gültig angesehen werden und unabhängig von der eigenen Betroffenheit und eigenen Interessen durchgesetzt werden, d. h. normabweichendes Verhalten also auch von unbeteiligten Dritten sanktioniert werden. Schließlich müsste auch eine kognitiv-emotionale Selbstbindung des Verhaltens an diese Normen gegeben sein, mithin das Verhalten auch bei nicht gegebenem Sanktionsrisiko infolge der Abwesenheit Dritter beibehalten werden. Schlussendlich müssten sich auch Mächtigere (= physisch Stärkere) an dieses Normgerüst gebunden fühlen. Normgeleitetes Verhalten und Handeln ist also wesentlich voraussetzungsvoller als regelhaftes, gewohnheitsmäßiges, imitierendes oder über individuelle Lernprozesse erweitertes Verhalten.

Demgegenüber ermöglicht der auf geistig-sinnhaften Prozessen basierende Modus des Normativen angesichts des ‚Schwindens naturaler Schaltkreise‘ (Dux 2017a, passim) direkt und indirekt die (Neu)Strukturierung, Konsolidierung und Weiterentwicklung von Handlungsmöglichkeiten, Sozialbeziehungen und Gesellschaftsformen. Kraft normativer Orientierungen erweitert(e) sich damit der Spielraum für Handlungen und für den Aufbau und Umbau gesellschaftlicher Organisationsformen. Dieser normativen Orientierbarkeit begegnen wir nach bisherigem Wissen nur beim Menschen. Hier könnte man also mit Bezug auf das naturale Substrat des Menschen von einer weitgehenden biologischen ‚Entrahmung‘ sprechen. Dieser, von Arnold Gehlen (1993, 1961) so bezeichneten, ‚Weltoffenheit‘ muss mit kulturellen Ersatzrahmungen, nämlich Normierungen und sozialen Institutionen, entgegengetreten werden, um das soziale Zusammenleben überhaupt erst zu ermöglichen.

Das Normative scheint also einen wirklichen unhintergehbaren Unterschied zwischen vorhumanen und humanen Bereich auszumachen. Damit ist die Streitfrage, inwieweit evolutive Kontinuität oder Bruch oder aber die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch, jedoch noch nicht entschieden. Vor dem Hintergrund unseres neuzeitlich-modernen Wissenschaftsverständnisses ist es für die Klärung erforderlich, das Aufkommen von Normativität, also die Normativitätsgenese, als einen über Sinn prozessierenden und strukturgebenden Modus menschlicher Sozialorganisation und gleichzeitig als Alleinstellungsmerkmal des Humanbereichs nicht metaphysisch-spekulativ, sondern evolutionstheoretisch zu begründen. Ich werde im Schlussteil darauf zurückkommen.

2 Emotionalität

Während die Problematik des Normativen als eines wesentlichen Bestandteils einer kognitiven Handlungssteuerung die Soziologie seit ihren Anfängen umtreibt, man diesbezüglich von einer Dominanz von Rational- oder normativen Handlungsmodellen sprechen kann (Schützeichel 2006, S. 11 f.), ist der sozialtheoretische Stellenwert des Emotionalen, der bei den Vertretern der schottischen Moralphilosophie im thematischen Konnex mit dem Normativen von so großer Bedeutung war, sehr viel unklarer. Wohl kommen alle Klassiker des Faches in spezifischen Kontexten und Fragestellungen auf Affekte, Emotionen und Gefühle, wobei die begriffliche Abgrenzung durchaus variiertFootnote 2, zu sprechen, aber die Beschäftigung mit dieser Thematik bleibt, bezogen auf die Theorieentwicklung im Sinne der großen Paradigmen des Faches, doch weitgehend marginal (Gerhards 1988a, S. 24 ff.). So weist beispielsweise Durkheim wohl einerseits darauf hin, dass sozial generierte Vorstellungen (‚Kollektivbewusstsein‘) Gefühle als ‚soziale Tatsachen‘ erzeugen bzw. erstere immer von bestimmten Emotionen begleitet werden. Symbole, Werte, Überzeugungen einer Gruppe bedürfen demnach einer affektiv-physiologischen Verankerung in den Akteuren, um soziale Ordnung generieren und stabilisieren zu können. Gedankenkategorien sind mithin gefühlsmäßig besetzt und erst über diese Verbindung finden Wirklichkeitskonstruktionen statt (Flam 2002, S. 76 f. und S. 83; Neckel 2006, S. 124; von Scheve 2011, S. 213 f.). Andererseits kommt beim ihm, analytisch-theoriebezogen betrachtet, der kognitiv-normativen Seite das Primat bei der Erklärung der sozialen Ordnung zu. Für Weber konnte die Prädestinationslehre erst vor dem Hintergrund einer ‚Angst vor der Verdammnis‘ ihre Wirkung entfalten, wobei hier die wechselseitige Verbindung von Emotion und Idee offensichtlich wird (Flam 2002, S. 51). Das affektuelle Handeln bleibt jedoch gegenüber den anderen idealtypisch unterschiedenen Motivlagen für Handlungsorientierungen als Gefühlslage eine Residualkategorie. Am ausführlichsten hat sich wohl Georg Simmel (1968; Flam 2002, S. 16 ff.) mit der Rolle von Emotionen und Gefühlen als Bindungs- und Stabilisierungskräften des Sozialen auseinandergesetzt. Für ihn gehören Emotionen wie beispielsweise Liebe und Hass als unabhängige Variablen zur Natur des Menschen. Als basale Bindungskräfte ermöglichen sie überhaupt erst Interaktionen (Wechselwirkungen) und die Erfahrung miteinander geteilter Sozialität, wobei aus diesen wiederum neue und andere Gefühle resultieren können (Neckel 2006, S. 125 f. und S. 129). Parsons schließlich hat darauf hingewiesen, dass die Bindung von Akteuren an Normen einer Besetzung derselben mit positiven Affekten bedarf (Flam 2002, S. 109). Die Thematik des Emotionalen ist den Klassikern also gewärtig, aber als Erklärungskomponente bleibt sie in ihren Theoriekonstruktionen letzten Endes mehr oder weniger unterbelichtet, was auch mit dem Bestreben einer disziplinären Eigenstellung der Soziologie zu tun haben mag.

In der nachklassischen Periode geht die Thematik menschlicher Emotionalität weitgehend unter und gewinnt erst seit Beginn der 1970er-Jahre mit dem Aufkommen einer Vielzahl spezifisch soziologischer Emotionstheorien, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden soll, erneut an Relevanz (Flam 2002; Scheve 2009, S. 35 ff.). Thematisch stehen dabei die soziale Entstehung sowie die sozialen Wirkungen von Gefühlen im Vordergrund, während Syntheseversuche zwischen diesen beiden Zugängen seltener sind (Scherke 2009, S. 58 ff. und S. 108 ff.). Mit dieser Re-Thematisierung gerät auch die emotionale Vergesellschaftung, neben der in der Soziologie betonten rationalen normgestützten Vergesellschaftung, wieder mehr in den Fokus (Schützeichel 2006, S. 8 f.; Flam 2006). Es sind nicht zuletzt in Rational-Choice-Ansätzen, aber auch generell in normorientierten Analysen aufgetretene Erklärungsprobleme, die mit Hilfe der Figur des ‚Emotional Man‘ bzw. der stärkeren Berücksichtigung von Emotionen für Handlungserklärungen gelöst werden sollten. Stellvertretend kann auf Arbeiten von Jon Elster (1991, 1999, 2007) verwiesen werden, für den die Wirksamkeit sozialer Normen letztlich in der psychisch-emotionalen Struktur des Menschen verankert ist. In neueren konstruktivistischen Ansätzen treten Momente des impression managements, der Emotionsinterpretation, der emotionalen Dissonanz, des Emotionsmanagements und der Performanz in den Vordergrund (Goffman 1956; Hochschild 1990; Wouters 1999; Flam 2002, S. 129 ff.; von Scheve 2009, S. 52 f. und S. 299 ff.). Emotionen werden dabei als Kulturprodukte bzw. als Produkte sozialer Strukturen, mithin als abhängige Variablen, verstanden. Als normierte Emotionen dienen sie der Aufrechterhaltung der sozialen und normativen Ordnung, gleichzeitig sichern Emotionen die Funktionalität von Normen ab, indem sie zur Befolgung und Aufrechterhaltung derselben beitragen (von Scheve 2009, S. 288 ff., S. 329 f. und S. 335, 2011, S. 215 ff.; Elster, in von Scheve 2009, S. 317 ff.). Ein beliebtes Beispiel für die damit einhergehende Selbst- und Fremdkontrolle mit Bezug auf die normative Ordnung ist das Schamgefühl (Elias 1989, S. 397 ff.; Flam 2002, S. 150; Neckel, in Flam 2002, S. 155 f.; von Scheve 2009, S. 62 ff.). Die Anerkennung der Bedeutung von Emotionen als Handlungsmotiv für die Analyse von Handlungen und sozialer Ordnung hat aber zu keinem allgemein anerkannten Modell für das von Emotionen beeinflusste Handeln geführt (Flam 2006, S. 217).

Von besonderer Bedeutung erscheint hier wiederum die Position der Philosophischen Anthropologie, die um einen Körper und Geist vermittelnden Zugang bemüht ist. Bei Arnold Gehlen (1993) und Helmuth Plessner (1981) erfolgt die phänomenologische Bestimmung des Menschen über eine Vergleichsheuristik, in der versucht wird, das Humanspezifische in Abgrenzung zu tierischen Existenz- und Lebensweisen herauszufiltern. Die strukturell gegebene Gedoppeltheit menschlicher Lebensweise als Natur- und Kulturwesen soll dadurch herausgearbeitet werden und zu einer ganzheitlichen Sichtweise des Menschen führen. Dabei wird das kategorial Unterschiedliche in den Vordergrund gerückt, welche sich in den bekannten Begriffen wie Weltoffenheit, Plastizität und exzentrische Positionalität widerspiegelt. In der Folge führt das aber dazu, dass die fehlende Unmittelbarkeit des Weltbezugs, damit zu den eigenen Lebensverhältnissen, das naturale Nicht-Festgestelltsein, der Hiatus zwischen organischer Antriebsstruktur und Handlung, in diesem Verständnis mittels der Sphäre des Geistigen als primären Medium überbrückt wird und soziale Ordnungsstrukturen inklusive Moralität und Normativität generiert werden. In gewisser Weise wird damit insbesondere bei Gehlen aber der Ausgangspunkt eines systemischen Zusammenspiels von morphologischen und geistigen Fähigkeiten kulturalistisch aufgelöst. Dies findet seinen Niederschlag nicht zuletzt in seiner Behauptung, dass zwischen instinktivem und intelligentem Verhalten eine Tendenz gegenseitiger Ausschließung besteht (Gehlen 1993, S. 24) und die Affektstruktur kulturell-institutionell gebändigt werden muss, andernfalls droht eine Re-Primitivisierung des Menschen (Gehlen 1961, S. 59 ff.). Sozialtheoretisch gewendet beinhaltet das aber, dass die Thematik des Affektiven und Emotionalen eher negativ als Hindernis der Kulturalisierung verstanden wird, damit deren eigenständig-konstruktive Rolle für die Generierung sozialer Ordnungsstrukturen erklärungsmäßig in den Hintergrund tritt und den Höheren Funktionen/den geistbasierten Führungssystemen nachgeordnet wird.

Stärker als Gehlen hat Helmuth Plessner (1982) insbesondere in seinen Überlegungen zur menschlichen Expressivität immer wieder die Verklammerung von organisch-natürlichen und geistig-kulturellen Komponenten betont. Dabei postuliert er, dass ein Verhalten, mithin auch ein affektiver Ausdruck, nicht als emotionaler Ausdruck wahrgenommen werden könne, ohne nicht zumindest ansatzweise gedeutet zu werden. Insofern fallen Ausdruck und Ausdruckverstehen nicht systematisch auseinander, das Verhalten sei „sowohl psychophysisch als auch bildhaft-sinnhaft indifferent“ (Plessner 1982, S. 83 f.). Dieser direkte Mitteilungsweg ohne Differenz zwischen Organischem (Form; Leibgestalt) und Geistigem (Inhalt; Sinngehalt) (Meuter 2006, S. 96) betrifft den körpergebundenen mimisch-natürlichen Ausdruck, während der konventionell-sprachliche Ausdruck keine unmittelbare Bindung an den Affekt aufweist; die Mitteilung kann kontextgelöst und nur indirekt über den gemeinten Sachverhalt erfolgen (Plessner 1982, S. 255 f.; Meuter 2006, S. 92 f.; Honneth und Joas 1980, S. 77). Der natürliche Ausdruck präsentiert demzufolge einen an die konkrete Ausdrucksform gebundenen Sinn, während der sprachlich-konventionelle Ausdruck eine Bedeutung bzw. Gegenstand oder Sachverhalt repräsentiert (Meuter 2006, S. 94). Konventionelle körpergebundene Gesten wiederum bedienen sich natürlicher emotional-expressiver Ausdrucksmuster. Für unseren Kontext können wir daher festhalten, dass Plessner mit dem natürlichen Ausdruck insbesondere Basisemotionen (Affektivität) wie Angst, Freude, Wut, Überraschung etc. im Blick hat, während mit konventionellen Gesten eher die kulturgebundenen Sekundäremotionen wie z. B. das Schämen gemeint sind. Indem aber letztere, etwa im Falle von Normverletzungen, gestisch an basalen Ausdrucksformen anknüpfen, stellen sie damit gleichzeitig Orientierungspunkte für das Verstehen zur Verfügung, ohne dass damit schon Missverständnisse ausgeschlossen wären (Meuter 2006, S. 96 ff.). Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität kann der Mensch seine Expressivität als Medium des Verhaltens einsetzen, er verfügt über seine Emotionen, kann diese eigenständig und gestalterisch einsetzen (Meuter 2006, S. 124 f.). Mittels des Einsatzes konventioneller wie auch mimischer Ausdrucksformen kann der Mensch auf diese Weise den Erfordernissen einer kulturellen sinnbasierten Lebensweise gerecht werden. Die von Plessner analysierte dritte Ausdrucksform des Lachens und Weinens findet demgegenüber keine eindeutigen Orientierungspunkte in der Umwelt. Ihm zufolge reagiert hier der Mensch im Sinne eines Überwältigt Werdens einfach auf Situationen, zu denen er sich in keine eindeutige Beziehung mehr setzen kann; angesichts derartiger Situationen verliert er gewissermaßen seine Selbstbeherrschung, ist desorientiert (Plessner 1982, S. 275).

Im Anschluss an diese letzteren Überlegungen geht es im Folgenden darum, die stets präsente Rolle der Emotionalität als kategorial eigenständigen Weltaneignungs- und Weltdeutungsmodus im Rahmen der conditio humana für die Konstituierung des Sozialen näher zu betrachten. Dabei wird, Jürgen Gerhards (1988a, S. 72 ff.) folgend, hier davon ausgegangen, dass die Überbrückung des Hiatus zwischen Reiz und Handlung gleichermaßen kognitiv wie auch emotional vorgenommen wird, wobei die beiden Modi wechselseitig miteinander verschränkt sind. Diese Behauptung beinhaltet die Vorstellung, dass symbolisch-kognitive Prozesse immer mit den die innere und äußere Umwelt simultan bewertenden Emotionen assoziiert sind und umgekehrt, dass die selektive Funktion von Emotionen ihrerseits nicht unabhängig von kognitiven Begleitprozessen ist. Somit wird Emotionalität hier nicht als ein rein biologisch bedingter körperlich-physiologischer Ausdrucksmodus verstanden, sondern ist genauso wie die Kognition Ausdruck eines bewusstseinsmäßig zugänglichen und modulierbaren konstruktiven Prozesses. Bei Gerhards, der sich an Parsons orientiert, steht die Interpretation sozialstruktureller Bedingungen und kultureller Deutungsmuster als Entstehungsfaktoren von Emotionen im Vordergrund, während der Organismus wohl diffuse Erregungen generiert, die aber immer sinnhaft bearbeitet werden müssen, um als Emotion erlebbar zu werden (Gerhards 1988b, S. 188 ff.). Emotionen sind diesem Verständnis nach, unabhängig von der Frage nach den organismischen Auslösern, also dem Bewusstsein zugängliche historisch-kulturell variable Sinneinheiten. Beide Modi, der kognitive wie auch der emotionale, haben eine naturale Grundlage in den körperlichen Gegebenheiten, prozessieren aber ansonsten unabhängig von diesen eigenlogisch, sind nicht organisch determiniert. Dabei ist die emotionale Sphäre mehr an die Körperlichkeit gebunden als die kognitive Dimension. Gerhards (1988a, S. 86 f.) hat es folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „der fühlende Akteur deutet sich selbst als Erlebender, der denkende als Handelnder“, wobei die „symbolisch-kognitive Orientierung einer Fundierung in einer emotionalen Orientierung“ bedarf. Dieser Gedankengang findet sich zumindest rudimentär, wie gesehen, schon bei den Klassikern.

In der soziologischen Emotionsliteratur bleiben die physiologische Untermauerung, die mögliche Eigenlogik des Emotionalen sowie das Zusammenspiel von Kognition und Gefühl weitgehend unausdiskutiert (Flam 2002, S. 135 ff.). Hier stoßen wir auf die Problematik affektiver Verhaltensweisen, die in der Regel im Unterschied zu kulturell und sozialbedingten Sekundäremotionen als rein organisch (instinktiv) ausgelöste universelle Basisemotionen (Ekman) verstanden werden, die unmittelbar mit organisch kodierten automatischen Expressionen verbunden sind (von Scheve 2009, S. 72, 2010, S. 349). Eine kulturell distinkte ex post-Deutung dieser Vorgänge ist offensichtlich möglich, aber kann in diese Affektstruktur auch kognitiv eingegriffen werden, ist sie also kulturell manipulierbar und damit sozial-konstruktiv zugänglich?

Nun kann es keinen Zweifel geben, dass allen somatischen und psychischen Erregungszuständen, also sowohl evolutiv älteren Affekten (‚Basisemotionen‘) als auch den soziokulturell gebundenen Sekundäremotionen, biotische Prozesse zugrunde liegen, die als energetisch-physiologische Erreger und ‚Auslöser‘ von Gefühlszuständen angesehen werden müssen (Lenk 2013, S. 103). In der Neurobiologie wird allerdings zusätzlich die These vertreten, dass Emotionen nur schwerlich von Kognitionen beeinflusst werden können; vielmehr wären sie in letzter Instanz für die Selektion und Umsetzung von Handlungsoptionen zuständig. Dieser reduktionistischen ‚Naturalisierung der Emotionen‘ (Schützeichel 2006, S. 10) steht aber einem Verständnis entgegen, welches Emotionen neben ihrer physiologischen Komponente eine soziale Verortung und damit verbunden eine auf die innere oder äußere Umwelt des Subjekts bezogene Intentionalität merkmalsmäßig zuerkennt, sehr offensichtlich etwa beim kulturell evozierten Schamgefühl (Elias 1989, S. 397 ff.; Schützeichel 2006, S. 14) oder auch im Falle des Emotionsmanagements (Goffman 1956; Hochschild 1990). Insofern lässt sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht festhalten, dass Emotionen, zumindest in den meisten Fällen und ungeachtet ihrer biotischen Rückbindungen, erst aufgrund von bestimmten kulturell-situativen Deutungsmustern aktiviert werden.

Im Vordergrund der rezenten soziologischen Emotionsforschung stehen wie beschrieben bislang Fragen nach der Funktion und Wirkungsweise von sozialen Emotionen für die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Die Problematik der evolutiven Entwicklung von Emotionalität als Modus, deren biologische und physiologische Grundlagen, das Zusammenspiel von Affekt, Emotion und Kognition und damit einhergehend auch die Rolle von Emotionen für die Entstehung sozialer Ordnung ist demgegenüber vernachlässigt worden (von Scheve 2009, S. 66 ff.).

In einer ausführlichen Arbeit hat sich Christian von Scheve (2009) mit den physiologischen Grundlagen der Emotionalität sowie deren Rolle für die Genese und Reproduktion sozialer Ordnung auseinandergesetzt. In den soziologischen Emotionstheorien wird in der Regel zwischen Affekten oder Basisemotionen einerseits und Sekundäremotionen bzw. sozialen Emotionen unterschieden, wobei erstere als instinktnahe Prozesse eingestuft werden und somit aus dem soziologischen Forschungsfokus mehr oder weniger herausfallen (von Scheve 2009, S. 40 ff.). Anstelle von angeborenen und universalen Basisemotionen wird auch von angeborenen Affektprogrammen gesprochen, die unbewusst und automatisch bestimmte Affekte als Komponenten einer jeden Emotion, ob angeboren oder sozial erlernt, produzieren und diese damit an die Körpersphäre zurückbinden (von Scheve 2009, S. 77 f.). Versteht man Gefühle als bewusst erlebte Repräsentationen von Erregungszuständen, dann erfassen und differenzieren wir diese Gefühle mittels (teils genetisch verankerter, teils habituell gelernter, teils kulturell und sozial konventionalisierter Provenienz) eingespielter Schematisierungen. Es ist also erst die Deutungsebene und damit eine kognitive Struktur, die dem Menschen Affekte als Emotionen bzw. als Gefühle erfahrbar und der weiteren Differenzierung zugänglich macht (Lenk 2013, S. 110 ff.). Durchaus diesem Verständnis entsprechend setzen sich auch bei Norbert Elias Gefühle aus körpernahen Affekten, erlernten Reaktionsformen, kulturellen Deutungen und Bewertungen zusammen, die sich aus sozialstrukturellen und situativen Erfahrungen speisen (Neckel 2006, S. 129).

Als Empfindungen werden Emotionen mitsamt ihrer biologischen Rückkoppelung jedenfalls subjektiv erfahren, kognitiv repräsentiert und sprachlich-merkmalsmäßig weiter ausdifferenziert (von Scheve 2009, S. 76 ff.). Soziologisch von Interesse ist jetzt, dass auch das komplexeren Emotionen zugrundeliegende rudimentäre subkortikale und vorbewusst arbeitende Affektsystem (= neuronales Korrelat der Affektprogramme) mittels kortikaler Hirnareale korrigierenden und regulierenden sozial-konstruktiven Eingriffen zugänglich ist. Anders ausgedrückt ist auch das Affektsystem in einem gewissen Rahmen über ontogenetische Anpassungsprozesse an die soziale Umwelt strukturierbar. Selbst basale affektive Reaktionen weisen mithin soziale Plastizität auf, können nicht als ausschließlich biologisch determiniert verstanden werden, sondern unterliegen sozialen Konstruktionsprozessen. Die von der Philosophischen Philosophie behauptete ‚Weltoffenheit‘ betrifft in gewissem Ausmaße also auch das Affektsystem.

Die Emotionsentstehung umfasst also nicht nur die bewusste Ebene, sondern betrifft auch unbewusste Affekte (von Scheve 2009, S. 86 ff., S. 332 f., S. 337). Für die Argumentation der evolutiven Genese menschlicher Emotionalität beinhaltet dies aber unausweichlich, dass neben neuropsychologischen Erklärungen immer auch soziologische herangezogen werden müssen. Elias (1987, S. 58 f.) hat einmal von der psychischen Selbststeuerungsmöglichkeit des Menschen gesprochen, aber die kann aufbaumäßig eben nur im Einklang mit einer sozial rückgekoppelten entsprechenden Kognition erfolgen. Dieser Erklärungsanspruch wird durch neurowissenschaftliche Untersuchungen zum Verhältnis von Emotion und Kognition noch weiter abgestützt. Die Untersuchungen zeigen, dass Affekt und Kognition als Informationsverarbeitungssysteme nicht mittels separater, unabhängig voneinander prozessierender neuronaler Systeme erfolgen, sondern diese in erheblichem Maße miteinander interagieren (von Scheve 2009, S. 106). Menschliche Emotionen entstehen zu einem großen Teil aus komplexen kognitiv verarbeiteten Erfahrungen (Erwartungen, Interpretationen, Bewertungen etc.) und lassen sich mithin nicht ausschließlich biologisch über affektive Reaktionen erklären (von Scheve 2009, S. 108). Emotionen wiederum verursachen indirekt über ihre Einflussnahme auf Kognition und Physiologie Handlungs- und Verhaltenstendenzen; sie strukturieren alltagsrelevante Kognitionen und tragen zu deren Handlungswirksamkeit bei (von Scheve 2009, S. 339, S. 345). Sie sind somit, neben Rationalität und Normativität, ein weiterer zentraler Faktor in der Genese und Reproduktion von Interaktionsstrukturen und sozialer Ordnung (von Scheve 2010).

3 Soziogenese von Normativität und Emotionalität

Die vorausgegangenen Überlegungen haben zweierlei Resultate gezeitigt: Zum einen kennzeichnet Normativität als Modus der Sozialorganisation nach derzeitigem Wissensstand ausschließlich die humansoziale Lebensform; zum anderen unterliegen bereits organisch-programmbasierte Affekte (Basisemotionen), insbesondere dann aber der Modus der Emotionalität im engeren Sinne, dem konstruktiven Vermögen des Menschen. Die Frage, ob auch Tiere Affekte im Sinne von Emotionen erfahren, können wir hier ausklammern. Im Sinne einer gradualistischen Argumentation wäre hier vermutlich von einer Grauzone auszugehen. Eine punktualistische Argumentation, die auch Brüche im evolutiven Prozess in Rechnung stellt, würde dem vermutlich entgegenhalten, dass Tieren exzentrische Positionalität abgeht und die menschliche Erfahrung der Emotionalität als ein emergent völlig neu entstandenes Vermögen zu betrachten ist. Die Frage, ob beide Sichtweisen miteinander vereinbar sind, werde ich am Schluss noch einmal aufgreifen.

Für die hier verfolgte Argumentation ist jetzt entscheidend, dass Normativität und Emotionalität in einem doppelten Sinne miteinander verklammert sind: soziale Normen generieren und strukturieren Emotionen und deren Expressionen; sozial bearbeitete Emotionen sorgen ihrerseits über die Inkorporation im Sinne einer körperlichen Entsprechung bzw. einer körpergebundenen evaluativen Besetzung von Normen für die innere Selbstbindung an und Selbstverpflichtung auf Normen. Die Wirkungsweise des Normativen lässt sich mithin nicht rein kognitiv auflösen, sondern bedarf einer Rückbindung an die Körperzone (die Affektstruktur; Gehlens ‚Antriebsüberschuss‘) bzw. darauf aufbauende sozial rückgebundene emotionale Strukturen. Sieghard Neckel (2006, S. 132 ff.) hat diesen Zusammenhang folgendermaßen beschrieben: „… das Bedeutungsvermögen des menschlichen Körpers [ist] nicht rein individuell, sondern intersubjektiv konstituiert … Gefühle sind vielmehr leiblich vermittelte Bewusstseinszustände, in denen sich die sinnhaften Deutungen der erlebten sozialen Wirklichkeit dokumentieren“ (132) … „‚verkörpern‘ sie buchstäblich den moralisch-praktischen Sinn, den Akteure ihrer alltäglichen Erfahrung zumessen. Gefühle repräsentieren somit grundlegende normative Bedeutungsdimensionen in den kulturellen Lebensformen sozialer Gruppen“ (134) … „Emotionen sind Bindeglieder zwischen Akteur und Gesellschaftsstruktur, und dies in doppelter Weise … Emotionen entstehen somit als integraler Teil sozialer Figurationen, auf die sie selbst wiederum aber auch einen gestaltenden Einfluss nehmen“ (135 f.). In der Emotionssoziologie wird dieser Interdependenz deutlich stärker Rechnung getragen als in den mehrheitlich kognitiv-normorientierten zentralen Paradigmen des Faches.

Die Deskription des Zusammenhangs von Normativität und Emotionalität ist eine Sache, die Frage nach dessen gattungsgeschichtlichen Genese eine ganz andere. Im neuzeitlichen Weltbild können weder Normativität noch Emotionalität wie auch deren systemischer Zusammenhang nicht einfach als Kennzeichen humaner Sozialorganisation begründungslos vorgegeben werden, indem sie etwa einem metaphysisch gedachten Ursprung zugeschrieben oder einfach als Wesenszug hingenommen werden. Vielmehr bedarf es einer evolutionär angelegten Argumentation, die die Soziogenese von Normativität und Emotionalität als evolutiv entstandene integrale Bestandteile des Menschwerdungsprozesses begreift. Programmatisch durchaus in der Tradition der Philosophischen Anthropologie stehend, indem sie heuristisch am Tier–Mensch–Vergleich und damit an Unterschiedlichkeiten ansetzt, überwindet eine so angelegte Argumentation gleichzeitig das kategoriale Differenzdenken derselben durch die Rekonstruktion des evolutiven Prozesses, der zu einem neuartigen Organisationsmodus des Sozialen geführt hat.

Es bietet sich an, für die Rekonstruktion des Prozesses auf die historisch-genetische Theorie und dabei insbesondere auf das 2017 erschienene Buch von Günter Dux: Die Evolution der humanen Lebensform als geistige Lebensform. Handeln – Denken – Sprechen, zurückzugreifen (Bohmann und Niedenzu 2019). Dabei möchte ich versuchen, die bei Dux praktisch ausgesparte Dimension des Emotionalen in seine Grundargumentation zu integrieren und diese als weiteren wesentlichen Modus der Weltaneignung neben dem Geistigen verständlich zu machen. Das hier verfolgte Anliegen beinhaltet mithin den Versuch einer theoriebezogenen Erweiterung des Ansatzes von Dux um die Dimension der Emotionalität.

Der duxschen Theorie liegen etliche Prämissen zugrunde (Bohmann und Niedenzu 2020). Für den hier verfolgten Gedankengang ist dabei zum einen die Abgrenzung von Natur- und Kulturgeschichte von Bedeutung, zum anderen der Begriff der konstruktiven Autonomie. Wie schon angesprochen folgt die Entwicklung der Lebensformen für Dux, und hier durchaus im Sinne eines erweiterten darwinschen Ansatzes, primär nichtgeistigen biochemischen Mechanismen (Mutation, Gen-Rekombination, Variation mit daran ansetzender Sexueller Selektion und Umweltselektion), was zu problembezogenen organismischen Weiterentwicklungen wie auch zufällig erfolgenden organismischen Neukonstruktionen führen kann. Im Falle sozietärer Lebensweise von Tieren ist die soziale Organisation weitestgehend organismisch gebunden und kann auch durch Lernprozesse und individuelle Eigenschaften nur marginal beeinflusst werden. Demgegenüber unterliegt die Dynamik der Kulturgeschichte, damit auch die Entwicklung der Normativitätsformen und der sozialen Organisationsformen, nicht einem gengebundenen Prozess, sondern einem sinnbasierten geistig-kulturellen Mechanismus, der an das konstruktive Vermögen des Menschen, seine ‚konstruktive Autonomie‘, rückgebunden ist und keinerlei organismische Umbauten mehr erfordert. Über Handeln sichert der Mensch sein individuelles und soziales (Über‑)Leben. In diesem Fall sind es naturale oder organische Bedürfnisse, kulturell gebundene Interessenlagen und interaktive Machtrelationen, die das Soziale strukturieren. Diese emergent entstandene Möglichkeit einer konstruktiv vonstattengehenden Ausbildung und Gestaltbarkeit der eigenen Lebenswelt muss im neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis als ‚Anschlussorganisation‘ aus evolutionär-naturalen Vorgaben heraus argumentierbar sein. Dieser neue sozialorganisatorische Modus stellt mithin einen Bruch mit dem biochemischen Modus dar, d. h. die Kulturgeschichte entsteht wohl aus der Naturgeschichte, ist aber wegen des Moduswechsels in der Entwicklung nicht ungebrochene Fortschreibung des bisherigen Entwicklungsprinzips. Und trotzdem bleibt das Handeln natürlich immer an den Organismus rückgebunden (Dux 2018, S. 84 f. und 141 ff., 2017b, S. 37 ff.).

Während die idealtypische analytische Unterscheidung unterschiedlicher Mechanismen empirisch gesichert und einsichtig sein dürfte, bedarf die Genese des konstruktiven Vermögens, medial an Denken und Sprache gebunden, als Ermöglichungsbedingung normativ-kulturell variierender Organisationsmodi des Sozialen einer vertiefenden Erklärung.

Die Entwicklung der geistig-kulturellen Lebensform des Menschen wäre ohne die Gehirnentwicklung und die später erfolgende Ausbildung der Sprechwerkzeuge als organische Grundlagen nicht denkbar gewesen. Mit der Evolution des Gehirns kristallisiert sich eine anthropologische Konstellation heraus, die Dux (2017a, S. 40 f.; Bohmann und Niedenzu 2020, S. 9 ff.) mit den drei systemisch miteinander verbundenen Merkmalen ‚Öffnen der Welt‘ (vormals Weltoffenheit), ‚Schwinden der organischen Schaltkreise des Verhaltens‘ (vormals Instinktreduktion) und dem ‚Erwerb der konstruktiven Kompetenz zum Aufbau der Welt‘ kennzeichnet. Mit diesen Prozessen geht eine Destabilisierung im Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt einher, die durch den Erwerb einer überlebenssichernden Handlungskompetenz überwunden werden muss (Dux 2017a, S. 52 ff.). Diese Kompetenz ist unabdingbar mit der Ausbildung von ‚Geist‘ verbunden. Vor dem Hintergrund vielfacher Handlungsmöglichkeiten lassen sich nur über kognitive Prozesse überlebensförderliche Praxisformen konstruktiv ausbilden, die den durch das Zurückweichen organischer Verhaltensprogramme auftretenden Hiatus zur Umwelt adäquat und realitätsangemessen zu überbrücken vermögen (Dux 2017a, S. 115 ff.). Als empirischen Beleg rekonstruiert er die Genese intentionalen planvollen Handelns materialiter anhand der Werkzeugentwicklung seit dem Homo rudolphensis.

Auch wenn die individuengebundene Ontogenese einerseits, die Gesellschafts- und Wissensentwicklung andererseits unterschiedlichen Entwicklungslogiken folgen (Dux 2017b, S. 268 f.; Bohmann und Niedenzu 2020, S. 17 ff.), so weist uns der ontogenetische Prozess doch den Weg zum Verständnis dessen, was die anthropologische Konstellation im Übergang von vorhumanen sozietären Gemeinschaften zur sozialen Organisation humaner Gemeinschaften und Gesellschaften ausgelöst hat. Wenn die konstruktive Kompetenz nicht biologisch bereits als Fähigkeit, sondern nur als Kapazität zur Ausbildung normativer, linguistischer, ästhetischer usw. Kompetenzen vorgegeben wird, kann sie nur ontogenetisch, und das immer schon innerhalb eines sozietär-sozialen Kontextes, ausgebildet bzw. realisiert werden. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass das auch schon für die Übergangsphase von vorhumanen sozietären Gruppierungen zum Humansozialen gilt.

Wenn man nun wie Dux dieser Überlegung entsprechend eine auch gattungsgeschichtlich immer schon gegebene kulturelle Nulllage aller Neugeborenen postuliert heißt das nichts anderes, als dass mit der ontogenetisch erfolgenden Ausbildung von Handlungskompetenz und den mit diesem Prozess verbundenen Denk- und Handlungsformen sich unweigerlich auch die bewusste Erfahrung eigener Körperlichkeit erst aufbaut. Dux (2017b, S. 69 ff.) spricht hier von der Ausbildung einer kulturell verfassten Innenwelt bzw. inneren Natur (‚Subjektbildung‘), was er wiederum als einen primär kognitiven Prozess versteht. Subjektivität meint für ihn Reflexivität in der Praxis der Lebensführung. Wenn man davon ausgeht, dass exzentrische Positionalität ein Prozessergebnis und keine anthropologische Vorgabe ist (Dux 1994, S 99 ff.), dann geht mit dem Aufbau einer reflexiv angelegten Kognition gleichursprünglich auch die reflexive Einholung der eigenen Körperlichkeit und Affektivität einher. Diese Integration von Natur und Kultur in der Innenwelt formuliert Dux (2017b, S. 75) folgendermaßen: „Zur kulturellen Innenwelt gehört das organische Substrat, dem sie eingebildet ist, zur inneren Natur die kulturellen Formen, in denen sie organisiert ist“. Auf die hier verfolgte Thematik übertragen bedeutet das aber auch, ohne dass Dux das ausführlicher kommentiert hätte, dass die entstehende Kognition immer schon auch affektiv-emotional besetzt ist, wobei die eigene Affektivität dem sich ausbildenden Handlungssubjekt zunehmend kognitiv als Emotionalität zugänglich wird. Beide Sphären sind also von vorneherein unbewusst oder bewusst miteinander verwoben, wobei diese Verbindung als wechselseitige Einflussnahme von Dux nicht weiter ausbuchstabiert worden ist. Durch die Schwerpunktsetzung auf die Ausbildung der Kognition und damit einhergehend der exzentrischen Positionalität bzw. sich aufbauender Reflexivität rückt einerseits die Möglichkeit, dass die beiden Modi menschlicher Welterfahrung strategisch getrennt eingesetzt werden können, in den Vordergrund. So sind Menschen, anders als Tiere, zumindest teilweise in der Lage, bewusst erfahrene Emotionen und deren Expressionen zu kontrollieren und beispielsweise nur kognitiv-sprachlich darzustellen oder sie gänzlich nicht nach außen sichtbar werden zu lassen. Umgekehrt können sie Gedachtes aber auch nonverbal und expressiv als emotionale Befindlichkeit mitteilen. Die affektive Eigenlogik, die bei Plessner einen eigenständigen Stellenwert hat, erscheint andererseits in dieser Sichtweise als unterbelichtet.

Moralität und Normativität bzw. moralische, konventionelle und gesatzte Normen als sozial verpflichtende abstrakte Konzepte wurzeln als sinnbasierte geistige Größen im konstruktiven Vermögen. Aufgrund seiner kulturellen Nulllage werden sie von jedem Weltneuling über welterschließende Handlungen in der Ontogenese erst konstruktiv ausgebildet und in Denkstrukturen und Handlungspraktiken überführt. Genaugenommen handelt es sich bei beiden Normarten analytisch betrachtet erst einmal um (obwohl emotional rückgekoppelt) kognitive Erwartungen und Sollvorgaben an Andere bzgl. Handlungen und Einstellungen sowie reziprok dazu um deren Erwartungen an mich, also um Erwartungserwartungen. Angesichts der Ermangelung von angeborenen Verhaltensprogrammen geht es dabei um das Grundproblem, relative Handlungssicherheit vor dem Hintergrund der Anerkennung eigener Bedürfnisse und Interessen zu erreichen. Je stärker eigene Interessen als gefährdet erscheinen, desto eher wird versucht werden, kognitive Erwartungen in normativ abgesicherte zu überführen (Luhmann 1969, S. 36; Morel 1986, S. 23 f.). Dass dabei Machtpotentiale sowie die Möglichkeit abweichenden Verhaltens immer gegenwärtig sind, braucht nicht eigens betont zu werden (Dux 2017a, S. 194 ff.). Allerdings finden wir im vorhumanen Bereich zumindest bei höheren Primaten, vermutlich aber auch bei anderen Tieren, ebenfalls ‚Erwartungen‘ und darauf bezogene Handlungen vor. Im Anschluss an Mead (1995, S. 115 ff., 1980, S. 217; Niedenzu 2012, S. 283 ff.) handelt es sich in diesen Fällen aber wohl meistens um evolutionär entstandene und stabilisierte Verknüpfungen von Handlungen und Handlungssequenzen, deren objektiver Sinn den beteiligten Tieren nicht geistig gegenwärtig und reflexiv zugänglich ist.

Angesichts der rein theoretisch denkbaren Handlungsmöglichkeiten und der damit gegebenen vielfältigen Möglichkeiten der Überbrückung des Hiatus zwischen Organismus und Umwelt bedarf es zweier Notwendigkeiten: neben der bereits angesprochenen Realitätsangemessenheit müssen Handlungen auf den immer schon vorgegebenen sozialen Kontext hin orientiert sein, um überhaupt stabile Austausch- und Interaktionsverhältnisse generieren zu können. Angesichts von unterschiedlichen Situationen, Erwartungen, Interessenlagen und Machtpotentialen bedarf es normativer Strukturen, um spezifische Handlungsformen als gesollte Formen zu stabilisieren und damit Erwartungsenttäuschungen entgegentreten zu können. Dux argumentiert die soziale Verbindlichkeit von Normen, ihre Geltung, aus ihrem sozialen Entstehungskontext heraus; die Gemeinschaft nehme das Sollen als einen Versuch der Regulierung potenziell konfliktträchtiger Handlungsbezüge wahr und evaluiere entsprechende Handlungsmuster positiv (Dux 2017a, S. 196 f.; Bohmann und Niedenzu 2020, S. 11 ff.). Ob diese auf kognitiven Konsens abhebende Interpretation der Normativitätsgenese realitätsangemessen ist, sei hier einmal dahingestellt. Offen bleibt jedenfalls die Frage der Selbstbindung an die Normen, die bei Dux rein auf Reflexivität als Einsicht in die Notwendigkeit und wechselseitige Vorteilhaftigkeit für den sozialen Zusammenhang abhebt.

Moralische Normen, die intrinsische Selbstbindung an und Selbstverpflichtung auf diese sowie das damit verbunden personale Vertrauen, bilden sich primär im Kontext überschaubarer emotional durchsetzter familialer und intimer Face-to-Face-Beziehungsstrukturen aus (Dux 2017a, S. 200 f.). Die allen Interaktionsbeziehungen immanente Machtkomponente ist in intimeren/familiären Gemeinschaften gleichsam depotenziert, wenn auch nicht außer Kraft gesetzt (Dux 2017a, S. 204). Schon David Hume (1996) sah in diesem Nahbereich ein quasi natürliches Mitgefühl und Interesse am Wohlergehen der anderen begründet (‚Sympathie‘). Aus struktureller Perspektive kennzeichnete Émile Durkheim (1988, S. 128) die relative moralische und soziale Strukturfestigkeit dieser Kleingemeinschaften vor dem Hintergrund eines mit allen anderen geteilten Kollektivbewusstseins als ‚mechanische Solidarität‘. Über beide hinausgehend sieht Dux in der ontogenetischen Ausbildung von Moralität jedoch bereits auch eine reflexive Einsicht mitausgebildet, dass Verhaltenserwartungen sowohl als Ermöglichungsbedingung sozialer Interaktion als auch zur Wahrung der eigenen Interessenlage der Absicherung durch moralische (und in Folge auch durch konventionelle) Normen bedürfen (Dux 2018, passim; Niedenzu 2012, S. 316 ff.).

Die Ausbildung moralischer Normen verbindet sich durch das emotional-familiale Setting unmittelbar mit dem Affektsystem bzw. der eigenen zunehmend bewusst werdenden Emotionalität. Wenn dem nicht so wäre, wären moralische Normen sehr viel oberflächlichere Phänomene, derer man sich jederzeit entledigen könnte. Es ist diese sozial rückgebundene ‚Inkorporierung‘, die moralische Normen innerhalb intimer Kleingemeinschaften relativ stabil und sozial wirksam werden lässt.

Aus dem Gesagten ergibt sich daher, dass Normativität als Teilelement kognitiver Prozesse und damit als eine sinnhafte Struktur von vorneherein mit Emotionalität verbunden ist; erst die konkrete emotionale Besetzung von Norminhalten erklärt letzten Endes auch die Selbstbindung an Normen, lassen sich doch rein kognitiv viele Handlungen nicht hinreichend erklären oder verständlich machen. Das von Dux postulierte konstruktive Vermögen als Ausgangspunkt der Erklärung der Genese der geistigen humansozialen Lebensform bedarf mithin einer Erweiterung seiner Wirkungsweise auf die Sphäre des Affektiven bzw. Emotionalen, kann nicht auf die Ausbildung des systemischen Verbundes von Handeln, Denken und Sprache beschränkt bleiben.

4 Conclusio und Ausblick

Wenn man die vorgebrachten Argumente und Überlegungen zusammenführt, ergibt sich folgendes Resümee: In einem langen gattungsgeschichtlichen Übergangsprozess haben sich aus vorhumanen Sozietäten humane Organisationsformen entwickelt, wobei der Entwicklungsmechanismus einer gengetriebenen Dynamik von einer geistbasierten und zunehmend reflexiven Handlungsform als neuer Triebkraft abgelöst worden ist. Das dem Menschen eigene konstruktive Vermögen muss in jeder Ontogenese aufs Neue realisiert werden, also als Kompetenz ausgebildet werden. Das geschieht immer schon in Interaktion und sozialer Interdependenz mit Anderen. In diesem Prozess werden die Umwelt, die Sozialwelt und die Innenwelt strukturiert und dem Individuum reflexiv zugänglich (Plessners exzentrische Positionalität). Aus der anthropologischen Ausgangslage heraus ersetzt die unbewusste oder bewusste Generierung moralischer und normativer Regeln und Strukturen mit der Zeit die zurückweichenden organischen Verhaltenssteuerungen (Gehlens Führungssysteme). Regeln aber betreffen unausweichlich immer auch schon die eigene Körpersphäre, und das in doppelter Hinsicht. Zum einen betreffen sie unmittelbar das affektive System und dessen Expressionismus; erst das Bewusstwerden der Affekte als Emotionen oder Gefühle kann diese in Relation zu Regeln setzen. Umgekehrt müssen Regeln dem Affektsystem inkorporiert werden, sonst wären ein reflexives Handeln und die Ausbildung stabiler Interaktionsstrukturen nicht denkbar. Regeln und Regelbefolgung wären in diesem Fall rein situativ-oberflächlich beispielsweise durch Machtverhältnisse bestimmt, ohne dass sich eine innere Selbstbindung und -verpflichtung ausbilden würde. Dass in das Affektsystem kognitiv eingegriffen werden kann, haben die oben angeführten Ergebnisse der Recherchen von Christian von Scheve gezeigt. Diese Tatsache wie auch die aufkommende kognitive Handlungssteuerung ist ein Indiz dafür, dass Normativität und Emotionalität sich nicht nur wechselseitig stützen, was insbesondere in der Emotionssoziologie thematisiert wird, sondern sie verdanken sich auch demselben soziogenetischen Ursprung; beide wurzeln in der konstruktiven Autonomie, beides sind kognitive Strukturen und beide sind, um es mit Elias auszudrücken, eingebettet in Interdependenzgeflechte.

Wieweit trägt diese Erklärung? Entgeht dieser Begründungsversuch von Normativität und Emotionalität als unauflösbaren systemischen Zusammenhang, der hier nur als Heuristik, nicht aber am empirischen Material dargestellt wurde, der Falle eines einseitigen Naturalismus bzw. einseitigen Kulturalismus? Gerät die organische Grundverfassung nicht zu sehr oder gar ausschließlich unter die Maxime kultureller Steuerung? Was ist mit spontanen affektiven Reaktionen unserer Körper, was Plessner teilweise mit der Kategorie des natürlichen Ausdrucks bezeichnet hat, aber auch die Ausdrucksform des Lachens und Weinens betrifft? Auch wenn sie wahrgenommen und nachträglich gedeutet werden können, sind sie nicht unbedingt immer kulturell-situativ normiert. Soziale Normen wiederum können rein aus situativ-machttaktischen Überlegungen befolgt werden, während sie emotional abgelehnt werden, also im negativen Sinne inkorporiert werden. Zudem kann ein relativ stabiler Zusammenhang von Emotionen und Normen degenerieren, in Krisensituationen anomisch werden. Ein historisches Beispiel dafür wäre die Große Hungersnot in Irland in den 1840er-Jahren. Aufgrund der damaligen lebensbedrohlichen Umstände erodierte die vorher emotional positive Besetzung des Tötungsverbots und guter Nachbarschaft, so dass es schlussendlich auch zu durch die Hungersituation verursachten Nachbarschaftsmorden kam (ARTE 2020). Ähnliches zeigt sich im Zusammenhang mit der aktuellen COVID-Pandemie: So häufen sich die Berichte, dass es fallweise angesichts der Diskussionen um das Pro und Contra einer Impfung sowie um die den Alltag einschränkenden Vorgaben (Maskenpflicht; Testzertifikate; Absonderungsbescheide etc.) zu Zerwürfnissen zwischen vorher normativ und emotional einander verbundenen Personen gekommen ist. Innerhalb von Familien untergräbt das die Moralität wechselseitiger Verpflichtung und emotionaler Nähe, in beruflichen Kontexten erodiert die Norm eines sachlich-kollegialen emotional positiv besetzten Umgangs miteinander. Inwieweit diese abstrakten normativ-emotionalen Erwartungen überhaupt realitätsangemessen und lebbar sind, ist dabei natürlich eine ganz andere Diskussion. Hier ging es ausschließlich um das Aufzeigen der potenziellen Instabilität von Normativität und Emotionalität, was immer einer soziologischen oder allgemeiner einer sozialwissenschaftlichen Detailanalyse bedarf.

Um dem angesprochenen Dilemma zwischen Naturalismus und Kulturalismus zu entgehen ist es meines Erachtens erforderlich, Organisches und Geistiges begründungsmäßig nicht gegeneinander auszuspielen oder als antipodisch zu betrachten (Gehlen), sondern das naturalistische und das kulturalistische Verständnis menschlicher Normativität und Emotionalität vielmehr als ein systemisches Zusammenspiel verschiedener Komponenten zu begreifen. In evolutiver Perspektive könnte man diesbezüglich von der Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch sprechen. So wie es im menschlichen Gehirn verschiedene Bereiche gibt, die zeitlich hintereinander entstanden sind, so kann doch nicht behauptet werden, dass das jüngere Großhirn die alleinige Steuerungsmacht innehätte. Vielmehr werden basale organische Prozesse von entwicklungsgeschichtlich älteren Teilen mitgesteuert. Steuerungsmäßig hat sich also mit den jüngeren Gehirnteilen wohl eine neue Qualität aufgetan (Bruchperspektive), gleichzeitig sind ältere Teile deswegen nicht wirkungslos geworden (Kontinuitätslinie). Hier sei noch einmal auf das eliassche Modell verschiedener Integrationsebenen verwiesen, welches beide Perspektiven zu integrieren sucht. Auf das Soziale übertragen bedeutet das, dass das Affektsystem sich immer wieder eigenlogisch zur Geltung bringen kann, auch wenn die Beherrschung der Emotionalität als kulturelles System meistens im Vordergrund steht. Genauso beherrscht Normativität in aller Regel unsere sozialen Verhaltensweisen und organisiert die soziale Organisation; andererseits gibt es Bereiche, die normativ nicht gelöst sind, etwa im bekannten Beispiel von vier Autos, die gleichzeitig an einer ungeregelten Kreuzung eintreffen und wo jeder rechts zu einem der anderen steht. Das kann in Analogie entsprechend zu einer protonormativen Regel gelöst werden (‚der PS-Stärkere setzt sich durch‘), oder aber durch Bezugnahme auf einen höheren Wert, etwa Höflichkeit und Zurückhaltung.

Als Fazit kann daher festgehalten werden, dass die historisch-genetische Theorie die Soziogenese von Normativität und Emotionalität als einen gattungsgeschichtlich gleichzeitig vonstattengehenden und vermengten Prozess beschreiben kann, da dieser Prozess sich derselben Ausgangslage verdankt, der Notwendigkeit einer handlungsmäßigen Erschließung von Welt im Rahmen der menschenmöglichen konstruktiven Autonomie. Unterbelichtet erscheint aber das phylogenetische Erbe, welches sich in der sozialen Realität immer wieder eigenlogisch zur Geltung bringt. Das vorhuman Entstandene (z. B. phylogenetisch ältere Steuerungsmechanismen, evolutionär stabile Strategien) wird auf diese Weise nicht zur wirkungslosen Vorgeschichte herabgestuft. Die duxsche Konzentration auf die Sinnebene, den ‚Geist‘, die Kognition überdeckt tendenziell diese Konstellation zweier Erklärungsebenen. In der Diskussion um naturalistische und kulturalistische Erklärungsmodelle geht es daher aus meiner Sicht nicht um die Frage: Kontinuität oder Bruch, sondern wir benötigen ein Modell der Gleichzeitigkeit von Kontinuitäts- und Bruchperspektive, naturwissenschaftlich ausgedrückt von Gradualismus (‚evolutives Erbe‘) und Punktualismus (‚Emergenz eines neuen Mediums/Modus‘). Soziologisch gewendet bedeutet das: Wir insistieren auf der Eigenlogik soziokultureller Prozesse, aber die weiterbestehende Rahmung durch ältere Logiken wird nicht negiert. Im Sinne von Norbert Elias könnte man hier an ein Balancemodell denken, wo der kulturellen Seite zunehmend mehr Erklärungskraft zukommt, deswegen aber das phylogenetische Erbe nicht gegenstandslos wird. Es geht um Vermittlung und Zusammendenken dieser beiden Steuerungsebenen. Auf der Theorieebene erfordert das die Erarbeitung eines prozessual verstandenen Modells differenter miteinander interagierender Steuerungsebenen, die ihrerseits an vorwegliegende Bedingungslagen rückgebunden sind (Niedenzu 2012, S. 331 ff.). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Soziogenese sozialer Ordnung immer ein machtdurchsetzter krisenoffener Prozess ist, was noch einmal auf den Indeterminismus zwischen Emotionen und Normen verweist. Diesen multiplen Sichtweisen muss sich die sozialwissenschaftliche Forschung stellen, soll sie auf sozialtheoretischer Ebene nicht mittel- und langfristig das Nachsehen im ‚Konzert der Disziplinen‘ haben. Dem steht allerdings, zumindest in den Sozial- und Kulturwissenschaften, die facheigene und mit der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften entstandene Strategie entgegen, eher auf paradigmatische Tiefe, perspektivische Spezialisierung und disziplinäre Abgrenzung denn auf Kooperation und fachlichen Austausch zu setzen. Ob die eingangs aufgezeigten sich verändernden Rahmenbedingungen der Forschung daran substantiell was ändern werden bleibt abzuwarten.