Im von der Soziologie fast völlig aufgegebenen Stollen der Rationalitätstheorie wurden in den letzten Jahrzehnten glänzende Einsichten zu Tage gefördert, die allerdings bisher kaum das Licht der Fachöffentlichkeit erreichten. Die vor allem in der Philosophie entwickelten Innovationen eröffnen eine neue Möglichkeit, die Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns und Sprechens zu verstehen und menschliche Rationalität als normatives Phänomen zu entschlüsseln. Gemeint ist insbesondere das Zwillingsprojekt aus normativer Pragmatik und inferentieller Semantik von Robert Brandom (Brandom 1994, 2008). Brandoms Untersuchungen sind mittlerweile allgemein als ein Meilenstein der Theoretischen Philosophie anerkannt und markieren ein neues Niveau der pragmatistischen Bedeutungstheorie. Sie statten uns mit einem neuen theoretischen Instrumentarium aus, mit dessen Hilfe wir über Themen wie das Lernen von Bedeutungen, das Wesen menschlicher Rationalität und die Normativität menschlicher Praxis nachdenken können. Ausgerechnet diese Denkbewegung, die man als Pragmatisierung, Situierung, ja sogar Soziologisierung der Bedeutungsproblematik bezeichnen könnte, ist allerdings bisher in den Gesellschaftswissenschaften eher zögerlich aufgenommen worden (siehe aber: Heath 2001; Vogd 2006; Reichertz 2010; Pritzlaff 2012; Reitz 2014; Fossen 2014; Kibble, 2014; Law und Pepperell 2017; Biagi 2018). Die eher zögerliche Resonanz ist von einem wissenschaftssoziologischen Standpunkt aus nicht besonders verwunderlich. Die durch disziplinäre Differenzierung anwachsende Kluft zwischen Soziologie und Philosophie schafft wechselseitig intransparente Fachvokabulare und Argumentationsstile und erschwert es dadurch, Innovationen in der einen auf die Problemstellungen der anderen Disziplin zu übertragen. Darüber hinaus ist Brandom ein stilistisch durchaus technischer Fachphilosoph mit einem besonderen Interesse an Logik und einer Neigung, sich statt an die Soziologie an Hegel zu wenden, wenn er etwas über die Gesellschaft sagen will. Gleichwohl wird im Folgenden argumentiert, dass die Soziologie in ihrem Rationalitäts- und Normativitätsverständnis einiges zu gewinnen hat, wenn sie nach Anknüpfungspunkten zur neueren pragmatistischen Bedeutungstheorie sucht.

Es soll gezeigt werden, dass sich im selektiven Rückgriff auf theoretische Möglichkeiten von Brandoms normativem Pragmatismus eine sozialtheoretische Fortschrittsgeschichte erzählen lässt.Footnote 1 Diese Fortschrittsgeschichte betrifft die Rekonstruktion der Soziogenese personaler Rationalität – also die Fähigkeit der Soziologie, personale Rationalität ausgehend von sozialen Interaktionen und Kommunikationsprozessen zu rekonstruieren. Sie läuft über die Stationen von Meads Theorie des Selbst, Habermas sprachpragmatische Transformation des Mead’schen Ansatzes und schließlich Robert Brandoms möglichen Beitrag zu einer leistungsfähigen und theoretisch sparsamen Rekonstruktion individueller Rationalität. Rationalität wird dabei in einem weiten Sinne verstanden. Sie bedeutet für die Autoren, sich in einem Raum von Gründen orientieren zu können. Rationale Akteure reagieren nicht bloß auf Reize; ihre Reaktionen sind, weil sie sich in einem symbolischen Raum der Gründe bewegen können, Antworten. Eng verbunden mit dem Begriff der Rationalität ist bei Mead, Habermas und Brandom der Begriff der Autonomie, der die Fähigkeit bezeichnet, das eigene Handeln an selbstgewählte Gründe binden zu können. Die drei Ansätze lassen sich deshalb im Rahmen eines theoretischen Fortschrittsnarrativs verknüpfen, weil sie von einer geteilten theoretischen Grundfigur ausgehen: Sie rekonstruieren die Entstehung personaler und sozialer kognitiver Kapazitäten (Rationalität) aus der sprachlich vermittelten Kommunikationspraxis. Die Antwort auf die Frage, „Was ist Rationalität?“ ist daher abhängig von der Antwort auf die Frage „Was ist Kommunikation?“. Individuelles Denkvermögen resultiert aus der Teilnahme an Kommunikationsprozessen. Wegen dieses Primats der Kommunikation können theoretische Fortschritte in der Sprach- und Kommunikationstheorie Licht auf unser Verständnis personaler Rationalität und Handlungskompetenz im Allgemeinen werfen. Hier liegt eine entscheidende Schnittstelle zwischen Soziologie und kontemporärer Sprachphilosophie. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich im Durchgang von Mead über Habermas zu Brandom die Aufgabe der Rekonstruktion menschlicher Rationalität immer schärfer definieren lässt und die theoretischen Mittel zu ihrer Bearbeitung leistungsfähiger werden.

1 Meads Problemstellung

Meads Ansatz eröffnet für die moderne Soziologie einen rekonstruktiven Zugang zu den Problemen der personalen Identität und der Handlungsrationalität. Statt von sinnhaft handelnden und rational orientierten „Subjekten“ auszugehen, die soziale Ordnungen erzeugen, thematisiert Mead den Erwerb von Identität und Handlungsfähigkeit in sozialer Interaktion. Die Begriffspaare von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, Denken und Handeln, Identität und Rollenkonformität werden dabei in ein gegenüber individualistischen Erklärungen umgekehrtes Verhältnis gebracht. Erst dadurch, dass ich von anderen wahrgenommen werde, nehme ich mich selbst wahr, erst durch das Handeln lerne ich Denken, erst durch die Annahme sozialer Rollen erwerbe ich eine individuelle Identität. Diese Grundfigur, die Mead von Hegel übernimmt und mit den Einsichten Darwins versöhnen will (Aboulafia 2002, 2007), konturiert bis heute den soziologischen Zugang zum Thema Individualität und Personalität: Es ist der Einstieg in die moderne soziologische Sozialisationstheorie.

In diesem Aufsatz wird Mead in dem spezifisch zweischneidigen Luhmann’schen Sinn als „Klassiker“ behandelt, insofern man an seinem Ansatz zwar ablesen kann, „was zu leisten wäre; aber nicht mehr: wie es zu leisten ist“ (Luhmann 1988, S. 19 f.). Während Meads Fragestellung aktuell bleibt und seine Theorie die paradigmatische Form möglicher Antworten vorgibt, dient die Theorie selbst nur der Veranschaulichung von Problemen, die auf dem aktuellen Stand theoretischen Auflösungsvermögens anders zu lösen sind. Meads genetische Problemstellung ist zweigleisig angelegt: Phylogenetisch muss geklärt werden, wie das Phänomen genuin menschlicher Interaktion entstehen konnte. Mead will aus einer evolutionstheoretisch inspirierten Perspektive erklären, wie aus instinkthaft interagierenden Organismen kommunizierende Akteure werden konnten. Ontogenetisch stellt Mead die Frage, wie soziale Interaktion Akteure so formt, dass diese zu verantwortlichen Mitgliedern einer bereits bestehenden Kommunikationsgemeinschaft werden und eine soziale Identität erwerben (Mead 1995, S. 174).

Die ontogenetische Ausgangssituation dieses Erklärungsprogramms ist die Sozialisation eines zwar reaktions- aber noch nicht voll interaktionsfähigen Kindes in sozialen Kommunikationsprozessen. Das Kind lernt erst durch die an das eigene Verhalten anschließenden Reaktionen der anderen, welche Bedeutung sein eigenes präreflexives Tun hat. Ego kann nicht nur Symbolbedeutungen, sondern auch Identitätszuschreibungen von Alter internalisieren und sich gleichsam mit dessen Augen sehen. Die Übernahme dieses Blickes von außen ist dem Selbstbewusstsein bei Mead prinzipiell vorgelagert:

Der Einzelne erfährt sich – nicht direkt, sondern nur indirekt – aus der besonderen Sicht anderer Mitglieder der gleichen gesellschaftlichen Gruppe oder aus der verallgemeinerten Sicht der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer, zu der er gehört (Mead 1995, S. 180).

Dem heranwachsenden Kind wird im Verlauf der Ontogenese vonseiten der ‚Anderen‘ ständig Handlungsabsicht, Normverstoß oder sinnhafte Kommunikation gespiegelt, wo bloßes „Sich-Verhalten“ (Weber) war. Die Reaktion hat also einen Sinnüberschuss gegenüber der Handlung (paradigmatisch: einer Lautgeste). Dieser Sinnüberschuss kann vom Kind internalisiert werden. Die Reaktion der anderen ist dabei systematisch in drei Hinsichten informativ: Sie offenbart erstens die Funktion und damit die pragmatische Bedeutung der verwendeten Symbole, zweitens zeigt sie normenkonformes oder -abweichendes Verhalten durch Ego an (Sanktionen), drittens erlaubt sie Rückschlüsse auf die soziale Identität von Ego als jemandem, auf den in bestimmter Weise reagiert wird, und ist damit Keimzelle des Selbst. Sozialisation ist für Mead also vereinfacht gesagt die schrittweise Internalisierung des Bedeutungsüberschusses von Fremdreaktionen.

Diese Grundfigur muss freilich genauer ausbuchstabiert werden, um erklären zu können, wie bestimmte Formate sozialer Interaktion die Internalisierung bestimmter Kompetenzen ermöglichen. Typischerweise ist dabei eine Stufenfolge einfacher und komplexer Fähigkeiten vorausgesetzt, wobei der Fortgang von Stufe zu Stufe durch Internalisierungsprozesse bei der Teilnahme an zunehmend komplexen Interaktionsformaten erklärt wird.

Die einfachste von Mead analysierte Form der Interaktion ist das nachahmende Rollenspiel („play“, Mead 1995, S. 192 ff.). Auf der Stufe von Play ist eine einfache Form von Selbstbewusstsein erreicht, die darin besteht, dass das Kind sich auf sich selbst als Rollenträger beziehen kann, ohne dabei über eine begriffliche Vorstellung der Rolle zu verfügen. Das Selbstverhältnis, das sich auf dieser Stufe ergibt, ist eine unverbundene Abfolge verschiedener Rollen: „Das Kind ist im einen Moment dieses, im anderen jenes. Was es in diesem Moment ist, entscheidet nicht darüber, was es im nächsten Moment sein wird“ (Mead 1995, S. 201). Was also auf der Stufe des einfachen Rollenspiels fehlt oder nur schwach ausgebildet ist, ist die Integration verschiedener sozialer Perspektiven zu einem Ganzen – es fehlt ein Begriff der funktionalen Bezogenheit verschiedener (d. h. nicht bloß dyadisch-komplementärer) Rollen aufeinander und mithin die Einsicht, dass auch Briefträger einkaufen gehen und auch Lehrer Strafzettel bekommen und über verschiedene Rollenzusammenhänge hinweg als ein und dieselbe Person adressierbar bleiben.

Die Perspektive der Gemeinschaft, aus der sich der funktionale Sinn partikularer Rollen im Rahmen einer gemeinschaftlichen Praxis erschließt, kann erst mit dem Übergang von Play zu Game eingenommen werden. Auf dieser Stufe der regelgeleiteten Kooperation im Zuge eines Wettkampfspiels (Game), erwirbt das Kind die Fähigkeit, die Perspektive der gesamten Gemeinschaft oder Gruppe einzunehmen. Dies wird erforderlich, wenn das Kind sich in Interaktionszusammenhängen mit mehreren aufeinander bezogenen Rollen bewegt. Beispiele dafür sind Spiele mit festen Regeln wie z. B. Fußball. Auf der Stufe von Game werden die Rollen in Beziehung zueinander gesetzt und in der sozialen Identität des Individuums integriert. Die Identität des Einzelnen bildet sich also nicht mehr, wie noch auf der Stufe von Play durch die Organisation partikularer Verhaltenserwartungen signifikanter Anderer, „sondern auch durch eine Organisation der gesellschaftlichen Haltungen (…) der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer“ (Mead 1995, S. 200, Hervorh. F. A.). Das Kind lernt so, Ziele und Verhaltensnormen und damit letztlich sich selbst aus der Perspektive einer sozialen Gruppe insgesamt zu beurteilen. Es denkt und handelt dann in Meads Terminologie aus der Perspektive des „verallgemeinerten“ bzw. „generalisierten Anderen“ (Mead 1995, S. 196). Die Internalisierung von Gruppenzielen bedeutet dabei nicht nur verinnerlichten Zwang, sondern auch einen Zuwachs individueller Kontrollmöglichkeiten. Das Individuum versichert sich seiner selbst, indem es den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem es steht, durchschaut und so den sozialen Sinn der Normen internalisiert. Mit der Internalisierung von Gruppenzielen und -normen bildet sich auch ein einfaches Moralbewusstsein als Vorstellung von Recht und Unrecht, das freilich das moralisch Gebotene blind mit den regelmäßig befolgten Normen der Gemeinschaft identifizieren muss (vgl. Mead 1995, S. 204).

Um kurz zu rekapitulieren: Mead rekonstruiert die personale Ontogenese also im Durchgang durch verschiedene Formate von Sozialität, die die Chance auf die Internalisierung eines bestimmten sozialen Selbstbezugs bieten. Weil Fremdreaktionen in komplexeren sozialen Zusammenhängen (Game) sozial strukturiert sind und im Zusammenhang mit der gemeinschaftlichen Praxis stehen, nimmt ihr Informationsgehalt mit der Komplexität der normativen Struktur der Gemeinschaft zu. Die (mögliche) Komplexität des Selbst ist damit eine Funktion der Komplexität der sozialen Verhältnisse, in denen ein menschlicher Organismus aufwächst: Nur komplexe Gesellschaften gebären Individuen mit raffinierten Identitäten. Das Individuum nimmt im Laufe der Ontogenese zu immer größerem Ausmaß an immer komplexeren Interaktions- und Kommunikationsformaten teil und internalisiert deren soziale Bedeutung. So lässt sich schlüssig nachvollziehen, wie Individuen im Rahmen einer sozialen Gemeinschaft eine Identität erwerben und sich das konventionelle Moralbewusstsein einer Gruppe aneignen. Eine Herausforderung stellt für Mead allerdings der Fall der modernen, sich gerade über die Abgrenzung zur und Verschiedenheit von der Gemeinschaft ausbildenden individualistischen Identität mit postkonventionellem Moralbewusstsein und Selbstverwirklichungsanspruch dar. Auch wenn Ansprüche auf Individualität mittlerweile zum kulturellen common sense mindestens okzidentaler Gesellschaften gehören und Standardvorlagen konsum- und karrierebezogener ‚Selbstverwirklichung‘ verbreitet sind (Meyer 1986; Luhmann 1993), muss eine anspruchsvolle Theorie individueller Selbststeuerung zumindest die Möglichkeit postkonventioneller, nicht auf partikulare Gruppenzugehörigkeiten zurückführbarer Identitätsentwürfe erklären können. Dies ist für primär kommunikationstheoretische Ansätze ein Problem. Wenn die Entstehung der Person über die Internalisierung sozialer Strukturen gedacht werden muss: Wie ist es dann möglich, dass sich Individuen aus dem sozialen Zusammenhang lösen können, aus dem sie hervorgehen und dem sie (fast) alles verdanken? Dieses Grundproblem kommunikationstheoretischer Theorien der Ontogenese wollen wir als das Problem der Autonomie bezeichnen.

Mead führt zwei Ideen zur Lösung dieses Problems an: Erstens weist er auf die Arbeitsteilung als Prinzip der Besonderung hin (Mead 1995, S. 248 ff.), zweitens scheint er davon auszugehen, dass die Erfahrung der Generalisierbarkeit des sozialen Bezugspunkts der Rollenübernahme, die Individuen etwa im Übergang von play zu game machen, Individuen mit einer Fähigkeit zur Ausweitung der Bezugsgruppe ausstattet, deren internalisiertes Urteil die Stimme der Moral im Individuum ist. Mit der Erfahrung der Generalisierung vom partikularen Anderen (Verhältnis zu einer Bezugsperson) zum generalisierten Anderen (Verhältnis zu einer Gemeinschaft) im Rücken, soll sich das Individuum schließlich an eine Gemeinschaft aller Menschen (Verhältnis zum universalisierten Anderen) wenden können, vor der die Vernünftigkeit und Legitimität eines moralischen Anspruchs beurteilt werden können (vgl. Mead 1995, S. 245). Diese nur angedeutete und eher schemenhaft ausgearbeitete Lösung (so auch Honneth 1994, S. 140) verlässt jedoch den Rahmen einer sozialpsychologischen oder gar behavioristischenFootnote 2 Theorie der Ontogenese, die Personalität aus den Kommunikationsverhältnissen begreift. Mead kann kein soziales Format benennen, in dem Individuen die Perspektive des universellen Anderen erwerben. Man kann nicht de facto mit ‚der Menschheit‘ interagieren, weshalb eine kommunikationstheoretische Erklärung der Genese eines postkonventionellen Moralbewusstseins, die Entwicklung neuer Theorien oder die Erfindung neuer Mittel des Selbstausdrucks sich in Meads zu einfach angelegten sozialtheoretischen Grundbegriffen nicht schlüssig rekonstruieren lassen. Dazu kommen sprachtheoretische Probleme, die Repräsentationsfunktion der Sprache adäquat zu fassen oder die besondere Leistung eines propositional gegliederten Sprachsystems für die menschliche Ontogenese zu berücksichtigen. Auch wenn klar ist, dass Mead zwischen der Internalisierung von Symbolbedeutung und der Verinnerlichung sozialer Normen unterscheiden möchte, wird dieser Unterschied im kompakten Begriff der gestenvermittelten Interaktion verwischt. Individuell rationales Handeln wird unweigerlich an moralisch richtiges Handeln nach dem Maßstab einer partikularen Interaktionsgemeinschaft angeglichen, so dass Fälle, in denen unterschiedliche Formen der Rationalität auseinanderfallen (z. B. instrumentell rationales aber unmoralisches Handeln) für Mead schwer denkbar sind.

Meads Begrifflichkeiten und die sprach- und bedeutungstheoretischen Ansätze sind überholt, aber seine Problemstellung ist nach wie vor aktuell. Mead schreibt der Soziologie die Aufgabe ins Stammbuch, zu erklären, wie durch die Teilnahme an Kommunikationspraxen sukzessive rationale Akteure entstehen können. Insofern Problemstellungen mögliche Antworten präformieren, ist auch die Form, die kommunikationstheoretische Erklärungen der Ontogenese annehmen müssen, bei Mead bereits weitgehend vorgezeichnet. Einerseits muss das ontogenetische Explanandum definiert werden, indem bestimmte Stufen individueller Kompetenz (etwa Normbewusstsein oder Selbstbewusstsein) unterschieden werden. Das Explanans, also die eigentliche Theorie, besteht aus einer Fusion von drei Teiltheorien: Es besteht erstens aus einer Theorie der Kommunikation, die es erlaubt, verschiedene ‚Formate‘ der Kommunikation zu definieren (bei Mead: Theorie der Gestenkommunikation sowie die Unterscheidung von Play und Game), zweitens aus Annahmen zur ‚Grundausstattung‘ der sozialisierten Organismen, also jener primitiven Fähigkeiten, die sie zum Erwerb komplexerer Fähigkeiten in Stand setzen (bei Mead finden sich dazu wenig klare Festlegungen, es werden aber offensichtlich rudimentäre Fähigkeiten zur Interpretation von Alters Reaktionen und eine zeitliche Entbundenheit von unmittelbaren Reaktionszwängen unterstellt). Drittens besteht die Theorie aus einer Spezifikation des Mechanismus der Umwandlung sozialer Strukturen in individuelle Kompetenzen qua Internalisierung (bei Mead: der Mechanismus der Perspektivübernahme und die sukzessive Generalisierung des Bezugspunkts der Perspektivübernahme).Footnote 3 Diese Grundstruktur dient im Folgenden als Blaupause für unsere sozialtheoretische Fortschrittsgeschichte.

2 Habermas

Inwiefern löst die Theorie des kommunikativen Handelns einige von Meads Problemen besser, als dieser es selbst zu seiner Zeit vermochte? Zunächst ist festzustellen, dass die Theorien in hohem Maße kompatibel sind: Habermas übernimmt fast alle wichtigen Grundgedanken der Identitätstheorie von Mead und zieht sie in der dialektischen Figur der „Individuierung durch Vergesellschaftung“ zusammen (Habermas 1988). Der Einzelne erwirbt Individualität, indem (und nicht: obwohl) er durch Sozialisation Mitglied einer Gesellschaft wird (vgl. McCarthy 1989, S. 527). Über Mead hinaus gelangt Habermas durch sein an der formalen Semantik und der Sprechakttheorie geschärftes Verständnis dafür, was es bedeutet, an einer sprachlich strukturierten Praxis teilzunehmen. Auch wenn Mead die Sprache voraussetzt, fehlt ihm eine Theorie der Sprache, die über bloßen Symbolgebrauch hinausgeht (vgl. Hinkle 1992).

Habermas stellt also die Frage, welche Identitätsstrukturen ermöglicht werden, wenn man im Unterschied zu Mead von Interaktionszusammenhängen des kommunikativen Handelns statt von solchen der Gestenkommunikation ausgeht. Was ändert sich also, wenn man das Problem der Ontogenese in einen Kontext des kommunikativen Handelns versetzt, und von einem Kind ausgeht, das in eine Lebensform sozialisiert wird, welche bereits über eine propositional strukturierte Sprache mit den drei Geltungsansprüchen von Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit verfügt? Durch diese Umstellung des kommunikationstheoretischen Teils der Erklärung erweitert sich auch das Explanandum: Während sich Mead primär für den Erwerb der Fähigkeit, Normen zu folgen und Rollen einzunehmen, interessiert, betont Habermas die gleichzeitig erworbene Fähigkeit, die Welt deskriptiv zu erfassen und sich selbst auszudrücken. Weil Sprecher gemäß der Theorie der Geltungsansprüche mit jedem Satz, den sie sprechen, eine Beziehung zur Welt der Tatsachen (Wahrheit), der Welt der Normen (Richtigkeit) und der inneren Welt des eigenen Erlebens (Wahrhaftigkeit) erheben (vgl. Habermas 1984, S. 588), können die individuierenden, sozialisierenden und kognitiven Funktionen des Zeichengebrauchs, die bei Mead im Begriff der Symbolgeste in komprimierter Form angelegt waren, begrifflich entfaltet werden. Habermas’ grundbegriffliche Modifikation besteht also vor allem in der Zusammenführung der Mead’schen Identitätstheorie mit der Theorie sprachlicher Geltungsansprüche und den kommunikativen Reflexionsformen (Diskurse, Argumentationen), auf die sie verweisen. Sehr vereinfacht gesagt, geht Habermas statt von Play von Talk und statt Game von Arguing aus – und verschiebt durch diese scheinbar kleine Transformation die Grundarchitektur der Theorie.

Durch die Einführung einer expliziten Theorie der Sprache ändern sich sowohl der Blick auf Kommunikation als auch das Bild von (kommunikativer) Rationalität. Der wichtigste Unterschied zwischen gestenvermittelter und sprachlich strukturierter Interaktion ist das erweiterte Negationspotential der Sprache in Bezug auf Gründe. In symbolvermittelter Kommunikation wie etwa einem religiösen Ritual haben die Adressaten nur die Option, dem imperativischen Sinn einer symbolischen Handlung zu entsprechen oder die durch das Symbol geforderte Handlung zu verweigern – und zwar indem sie selbst handeln: Man trinkt aus dem dargebotenen Kelch oder lässt es sein. Gegenüber einer Sprechhandlung hat das Individuum jedoch wesentlich mehr Reaktionsmöglichkeiten. Die in jedem Sprechakt mitlaufenden Geltungsansprüche ermöglichen – zumeist ganz entgegen der Sprecherabsicht – eine nach Geltungssphären differenzierte Ablehnung des Sprechakts. Statt performativ durch Konformität oder Nonkonformität reagieren zu müssen, ergibt sich durch die Trias der Geltungsansprüche (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) eine dreifache Ablehnungsmöglichkeit: Das ist nicht wahr, das darfst Du nicht und außerdem ist es Dir damit wohl nicht ganz ernst! Aus Ablehnungen können wiederum Rechtfertigungsversuche beim Proponenten erwachsen, die eine Reflexion auf lebensweltlich verfügbare Gründe erzwingen – Gründe die in der eigenen Person, in der Welt oder in unseren sozialen Verpflichtungen liegen (Habermas 1987b, S. 115). Bis zur endgültigen Annahme oder Ablehnung des Geltungsanspruchs bleibt die symbolische Handlungskoordination in einem solchen Krisenfall ausgesetzt – es werden Gründe für mögliche Handlungen getauscht, nicht, wie in Meads Modell der Gestenkommunikation, symbolische Handlungen vollzogen. Erst durch Sprache wird es also möglich, Überzeugungen unabhängig von Handlungsdispositionen zu bearbeiten – man kann in klärender Absicht über etwas reden, ohne jede der erwogenen Optionen direkt zu vollziehen. Diese Distanzierung – wenn man so will: eine sprachlich gesteigerte Exzentrizität der Positionalitäten – ist für Habermas die soziale Grundlage individueller Autonomie, denn Autonomie erfordert die bewusste Wahl von Handlungsmöglichkeiten, die nicht durch blinde Gewohnheit oder den normativen Konsens einer engen Gemeinschaft vorgegeben sein dürfen. Das schon bei Mead gesehene Problem der Autonomie wird so teilweise gelöst, indem die Bedingung der Möglichkeit relativer Freiheit in der Reflexionsmöglichkeit des kommunikativan Handelns auf seine Gründe festgemacht wird. Der zweite Schritt zu einer umfassenden Lösung besteht darin, zu erklären, wie Individuen diese soziale Struktur internalisieren können und so die Fähigkeit zu einer ‚hypothetischen Einstellung‘ erwerben. Analog zu Meads Play und Game stellt Habermas dem ‚einfachen‘ kommunikativen Handeln das komplexere kommunikative Format der Argumentation gegenüber (vgl. Habermas 1971, S. 115).

Beibehalten wird dabei die Idee, dass der Prozess der Internalisierung über die Übernahme von in der Handlungspraxis selbst verankerter Fremdperspektiven zu denken ist. Die Struktur des argumentativen Gesprächs nötigt die Teilnehmer dazu, sich als zurechnungsfähige Wesen zu behandeln (vgl. Habermas 1988, 2006, S. 232). Es ist eine pragmatische Präsupposition des argumentativen Gesprächs, dass die andere Person ihre eigenen Präferenzen und Meinungen von Gründen abhängig macht und insofern rational mündig ist. Akteure, die sich wechselseitig Mündigkeit und die Fähigkeit, Gründe zu prüfen, unterstellen, bieten sich wechselseitig Perspektiven, in der sich das Individuum selbst wiedererkennen kann. Erst dadurch, dass das Individuum durch andere als jemand behandelt wird, der begründet Ja oder Nein sagen kann, lernt es sich selbst als an Gründen orientiertes und rationales Wesen kennen. „So erkennt im kommunikativen Handeln jeder im anderen die eigene Autonomie“ (Habermas 1988, S. 230).

2.1 Vorteile der Habermas’schen Kommunikationstheorie

Wie bei Mead kann also nicht nur die Fähigkeit zu denken, sondern auch die Fähigkeit, sich selbst als denkendes Wesen wahrzunehmen, aus der Fähigkeit zu kommunizieren rekonstruiert werden (und nicht etwa umgekehrt). Meads Annahme eines mehrfachen sozialen Bedeutungsüberschusses der erwidernden Geste eines alter ego wird dabei aufgegriffen und über die Theorie der Geltungsansprüche systematisiert: Antworten auf den von Ego gesprochenen Satz können explizit Verbindungen zu latenten Richtigkeits‑, Wahrheits- oder Wahrhaftigkeitsansprüchen herstellen und sind damit für Ego informativ für die normative Orientierung, Wissen oder Selbstwahrnehmung. Über etwas nachzudenken bedeutet demnach, sich selbst gegenüber die Rolle eines kritischen Dialogpartners einzunehmen und die Geltungsansprüche der eigenen Überzeugungen dadurch zu prüfen, dass man innerlich auf die eigenen Einwände antwortet. Das ‚monologische‘ Denken in bloßen Propositionen ist ein daraus bloß abgeleiteter Fall. Es ist also die Struktur der Praxis des expliziten Gebens und Nehmens von Gründen, der sich individuelle Autonomie – und damit der Kern nicht nur moralischer, sondern auch epistemischer Rationalität, sowie das Moment der Wahl eines nichtkonventionellen Identitätsentwurfs – begreifen und ontogenetisch rekonstruieren lässt (siehe Anicker 2019, S. 160 ff.).

Es lohnt sich nochmals hervorzuheben, was durch den Übergang von einer Theorie der symbolischen Interaktion zu einer sprachtheoretisch informierten Kommunikationstheorie gewonnen wird: Wenn man mit Habermas davon ausgeht, dass die Struktur sozialer Interaktion nicht bloß symbolisch, sondern sprachlich vermittelt ist, lässt sich auch das Problem individueller Autonomie, an dem Mead scheitert, lösen bzw. auf eine neue Stufe heben. Mit der Theorie der Geltungsansprüche ist Kontexttranszendenz in die Grundstruktur der Sprache eingebaut. Habermas entdeckt den bei Mead ortlosen „universellen Anderen“ in der Allgemeinheit sprachlicher Geltungsansprüche. Es ist in die praktische Grammatik der Verhandlung von Geltungsansprüchen eingeschrieben, dass Ansprüche auf Wahrheit und Richtigkeit als wahr und richtig für jedermann erhoben werden. Dies gilt nach Habermas auch für moralische Urteile: Wer die Tötung neugeborener Mädchen moralisch ächtet, behauptet implizit, dass dies auch für Angehörige fremder Kulturen gilt. Und wer „ich“ sagt, kann laut Habermas nicht anders, als in seinen Sätzen performativ die Rolle einer unvertretbaren Person zu übernehmen, so dass Habermas auch für die post- oder antikonventionelle, auf Einzigartigkeit angelegte moderne Individualität eine sprachpragmatische Basis ausweisen kann (Habermas 1988, S. 226).

Die Explikation dieser beiden Momente der Kommunikations- und Argumentationspraxis – erstens die oben skizzierte Struktur von Argumentationen als soziale Basis von Autonomie und zweitens die Pluralität der Geltungssphären als sprachliche Basis universalistischer aber nach Art der Gründe differenzierter Urteilsfähigkeit – ermöglicht Habermas, eine sachlich adäquate Rekonstruktion des sozialen Möglichkeitsraums, der schließlich die moderne Individualität und personale Rationalität gebiert. Es handelt sich um die in ihrem Anspruch vielleicht ehrgeizigste aber auch in ihren Prämissen voraussetzungsreichste Entwicklungstheorie menschlicher Personalität. Sie reicht von den Ursprüngen menschlichen Denkens bis zu der Rekonstruktion von Identitätsproblemen moderner Individuen. Diese Leistungsfähigkeit ist allerdings, wie im Folgenden zu zeigen ist, mit hohen theoretischen Betriebskosten erkauft. Wie im Folgenden zu zeigen ist, bezahlt Habermas seine differenzierte Rekonstruktion der menschlichen Ontogenese mit einer statischen Vorstellung der Sprache und einer deshalb teleologischen Theorie der Phylogenese.

2.2 Probleme der Universalpragmatik für eine Theorie der Phylogenese

Das ontogenetische Problem der Erklärung der Genese von kompetenten Akteuren setzt die Lösung des phylogenetischen Problems (die Erklärung der Entstehung spezifisch menschlicher Kommunikationsformen im Laufe der Hominisation) voraus. Während bezüglich der phylogenetischen Problematik schon der Übergang von gestenvermittelter zu symbolvermittelter Interaktion bei Mead Fragen aufwirft (Schneider 2008, S. 186; Renn 2013, S. 141 ff.), besteht bei Habermas ein deutlicher Bruch zwischen symbolisch vermittelter und sprachlicher Kommunikation. Dieser Bruch resultiert aus der Universalisierung der geltungstheoretischen Sprachauffassung. Während es für kontemporär sozialisierte Individuen durchaus plausibel ist, anzunehmen, dass diese sich in einer nach Geltungssphären differenzierten Lebenswelt wiederfinden, in der von der eigenen Befindlichkeit nicht auf Wahrheit und von wahren Aussagen nicht auf moralische Gebote geschlossen werden darf, ist dies bei der Kommunikation in frühen Stammesgesellschaften keineswegs der Fall. Wie Habermas selbst betont, sind Geltungsansprüche in praktisch allen vormodernen Gesellschaften miteinander verschmolzen. Statt klinisch voneinander geschiedener Diskurse findet man in Stammesgesellschaften ein zunächst performativ (Ritus) und narrativ (Mythos) integriertes kulturelles Bezugssystem, in dem Weltdeutung, Moral und ‚persönliche‘ Erlebnisse (Träume, Visionen) ineinander fließen. Auch in vormodernen Hochkulturen sind die Sphären zwar teilweise getrennt, letztinstanzlich werden das Wahre, Schöne und Gute jedoch in diffusen metaphysischen Letztbegriffen fusioniert (vgl. Habermas 1987b, S. 69 ff.). Habermas begegnet diesem Sachverhalt mit einer problematischen Transzendentalisierung und Enthistorisierung der Sprache. Habermas glaubt, mit der Formalpragmatik die transkulturell und überzeitlich gültige Struktur der Sprachpraxis expliziert zu haben, so dass die Sprache unsere moderne Trennung der Diskursarten über das System der Geltungsansprüche immer schon als Möglichkeit enthalten habe (vgl. die Darstellung bei Krämer 2001, S. 74 ff.; und die Beiträge in Krämer 2002). Die „strukturell mögliche gesellschaftliche Rationalisierung“ (Habermas 1987a, S. 328, Herv. i. O.) ist durch das System der Geltungsansprüche vordefiniert (kritisch schon McCarthy 1989, S. 567 ff.). Kulturelle Entwicklung erscheint dann als Entfaltung von immer schon qua Sprache vorgegebener Möglichkeiten. Alle vormodernen empirischen Kommunikationsprozesse orientieren sich bereits implizit an dieser sprachlichen Tiefenstruktur, so dass die Diskursgeschichte wie auf Gleisen zur modernen Konstellation einer Unterscheidung von Wahrem, Richtigem und Wahrhaftigen hingleitet.

Dieser teleologische Zug ist in der Theorieform selbst angelegt und hat mit dem Weg zu tun, auf dem Habermas seine Theorie des kommunikativen Handelns als eine allgemeine Theorie der Kommunikationspraxis entwickelt. Habermas orientiert sich für seine Ausarbeitung einer universalen Pragmatik der sprachlichen Kommunikation an der formalen Semantik und dem dort verfolgten Projekt, eine Bedeutungstheorie über allgemeine Kriterien der korrekten Verwendung von Sätzen bei der Bezeichnung von Sachverhalten zu entwickeln (vgl. Habermas’ Verortung in dieser Tradition in Habermas 1986, S. 353 ff.). Habermas bewundert an der formalen Semantik, dass sie über eine allgemeine Theorie der Bedeutung verfügt (Man versteht die Bedeutung eines Satzes, wenn man seine Wahrheitsbedingungen kennt), und dass Bedeutung und Geltung eng zusammengedacht werden (vgl. ebenda, S. 354), aber er kritisiert, dass Sätze in der formalen Semantik nicht als Teil von Kommunikation, sondern als Repräsentationen von Tatsachen gesehen werden. Die Sprechakttheorie hat demgegenüber den Vorteil, darauf aufmerksam zu machen, dass man mit Sätzen nicht nur Sachverhalte repräsentieren, sondern etwas tun kann (z. B. jemanden heiraten), aber Habermas findet die Sprechakttheorie im Vergleich zur formalen Semantik zu konkretistisch. Die Bedingungen, unter denen man mit einem Satz z. B. jemanden heiraten kann, variieren zwischen verschiedenen Kontexten und es war bisher nicht gelungen, eine allgemeine Theorie der praktischen Bedeutung von Sprechhandlungen aufzustellen. Er sucht deshalb nach einer Theorie, mit der man nach dem Vorbild der formalen Semantik die Bedeutung aller Sätze (nicht nur der Aussagen über Sachverhalte) allgemein explizieren könnte. Sprachphilosophisch überträgt Habermas einige Werkzeuge der semantiktheoretischen Analyse von Aussagen (Bestimmung von Wahrheitsbedingungen; Präsuppositionenanalyse) auf alle Arten von Sprechhandlungen. Semantische Wahrheitsbedingungen werden zu pragmatischen Akzeptabilitätsbedingungen generalisiert, so dass ein Äquivalent zur formalsemantischen Bedeutungstheorie geschaffen wird – man versteht einen Sprechakt, wenn man weiß, was ihn „akzeptabel macht“ (Habermas 1987a, S. 168). Ferner wird die Figur der semantischen Präsupposition auf implizite pragmatische Unterstellungen übertragen: Dies ist die Geburtsstunde des „Geltungsanspruchs“. Damit soll nicht nur die Sprechakttheorie ein allgemeines theoretisches Fundament erhalten, sondern auch der Gegenstandsbereich der formalen Semantik in eine allgemeine, pragmatische Bedeutungstheorie überführt werden. Habermas entwickelt also eine allgemeine Bedeutungstheorie aus einem allgemeinen Begriff der Sprachpraxis. Diese Allgemeinheit ist hochabstrakt und in ihrem Geltungsbereich universell: Der Sinn aller sprachlichen Kommunikation, soll immer, in jedem historischen oder gegenwärtigen kulturellen Kontext, in dem Erheben von Geltungsansprüchen zum Zwecke der Verständigung bestehen und die Kommunikation wird ausnahmslos dann verstanden, wenn Hörer wissen, was diese Geltungsansprüche „akzeptabel macht“. Dass Sprechakte eine allgemeine Bedeutung haben, ist im Rahmen dieses Theoriemodells also nur über die Allgemeinheit der Strukturen der Kommunikationspraxis sicherzustellen. Die Struktur der Theorie des kommunikativen Handelns und die mit ihr verknüpften Ziele verbieten es also, Entwicklung auf der Ebene der ‚formalen‘ Kommunikationspraxis selbst zu verorten, sonst müsste Habermas sein Programm in ‚Partikularpragmatik‘ umbenennen und könnte auch keinen Anspruch mehr auf eine allgemeine Bedeutungstheorie erheben.

Habermas arbeitet deshalb phylogenetisch mit einer Rückprojektion der modernen, nach Geltungssphären differenzierten Sprache, um die kulturelle Entwicklung der Menschheit als selektive Verwirklichung dieser immer schon in der Sprache angelegten Möglichkeiten zu interpretieren. Er nennt dies selbst sehr treffend ein „etwas halsbrecherische[s] Modell“ (Habermas 1987a, S. 328). Habermas’ Theorie der Phylogenese erbt damit bekannte Schwierigkeiten teleologischer Erklärungen, wie sie in der Soziologie vor allem am Fall der Modernisierungstheorie diskutiert wurden (siehe zuletzt Pollack 2016). Phylogenetisch wird die kulturelle Entwicklung als ein sukzessives Ausfüllen eines präexistenten Rasters gedeutet – oder eben: als das Ent-wickeln dessen, was vorher in eingewickelter Form schon da war. Das erschwert es ungemein, die historische Evolution der Sprache selbst zu reflektieren, da man sowohl ihr Ziel (unser „dezentriertes Weltverständnis“ im Rahmen differenzierter Lebenswelten, vgl. Habermas 1987b, S. 467) als auch die Grundstruktur, die den Weg dorthin ermöglicht (das System der Geltungsansprüche), immer schon kennt. Der Grad der intersubjektiven Verbindlichkeit von Geltungsansprüchen und damit die Reichweite der Sprache ist dann keine historische Variable, sondern ein in der Sprache selbst verkörpertes Potenzial, das dieser als zeitlose Eigenschaft innewohnt. Gleichzeitig wird das Ende der Entwicklung – unsere moderne, nach Geltungsansprüchen differenzierte Diskurslandschaft – zum Telos und Endpunkt der Sprache stilisiert: Sind die drei Welten einmal auseinandergetreten, ist das sprachliche Rationalitätspotenzial voll entfaltet und die Entwicklungsgeschichte der Rationalität ist im Wesentlichen an ihr Ende gelangt.

3 Von Mead über Habermas zu Brandom

Habermas musste für die Entwicklung des Begriffs des kommunikativen Handelns eine tiefe Kluft zwischen Pragmatismus und Semantikanalyse überwinden. Die beeindruckende Syntheseleistung und Weiterentwicklung der Sprechakttheorie nach dem Vorbild der formalen Semantik importiert allerdings, wie gesehen, in die Theorie der Sprachpraxis die statische Vorstellung der Sprache als ein festes System von Aussagemöglichkeiten (Sprechakttypen), die unter bestimmten Randbedingungen wahr (akzeptabel) sind, was gerade in der phylogenetischen Rückprojektion zu unplausiblen Annahmen zwingt.

Mittlerweile sind die Gräben zwischen Sprachpragmatik und Semantik, die Habermas noch durch gewagte Abstraktionsleistungen überbrücken musste, schmaler und seichter geworden. Pragmatismus und Semantikanalyse sind insbesondere im Werk von Robert Brandom zu komplementären, sich wechselseitig erläuternden Projekten geworden. Er setzt derart tief an, dass die Ahnherren der formalen Semantik – bis hin zu Frege, Hegel und Kant – als Vorläufer eines pragmatischen Ansatzes in der Sprachphilosophie gelesen werden können. Die analytischen Stärken der formalen Semantik müssen daher nicht auf die Pragmatik übertragen werden; stattdessen können semantische Kompetenzen selbst als anspruchsvolle Handlungen und also pragmatisch verstanden werden. Die Dualität von sprachlichem Sinnsystem und Handlungspraxis wird zugunsten einer ‚flachen‘ Ontologie der diskursiven Praxis aufgelöst – der Anlage nach also durchaus im Sinne von kontemporären soziologischen und philosophischen Versuchen, Sozialität als durchgängig pragmatisch fundiert zu denken (Schatzki et al. 2001; Rouse 2007; Schäfer 2016; Hui et al. 2016; Schmidt 2017).

Ich werde im Folgenden zunächst Robert Brandoms Begriff der diskursiven Kommunikationspraxis vorstellen. In einem nächsten Schritt wird gezeigt, wie sich Meads Theorie des Symbolerwerbs mithilfe dieser theoretischen Werkzeuge rekonstruieren und klären lässt. Schließlich wird untersucht, inwiefern sich die pragmatische Funktion von Geltungsansprüchen im Vokabular der diskursiven Praxis rekonstruieren lässt und an welchen Stellen Brandoms Theorie der Habermas’schen überlegen sein könnte.

3.1 Brandoms Begriff der Kommunikationspraxis

In Making it Explicit (Brandom 1994, dt. Expressive Vernunft, 2000) entwickelt Brandom das Programm einer normativ-pragmatistischen Bedeutungstheorie. Das Grundmodell der Sprachpraxis, von dem er dabei ausgeht, ist stark durch Wittgensteins Vorstellung von „Sprachspielen“ geprägt, in denen Sätze ihre Bedeutung nicht aus ihrer Position in einem abstrakten System möglicher Aussagen, sondern aus ihrer pragmatischen Funktion im Sprachspiel schöpfen. So wie bei Mead der Sinn der Drohgebärde nicht das „Äußern einer Drohabsicht“ ist, sondern einfach im Erschrecken des Gegenübers besteht, ist bei Wittgenstein der Sinn des Ausrufs „Platte!“ auf der Baustelle keine Behauptung über die Existenz von Platten, sondern die Aufforderung, eine Platte zu bringen. Sätze werden zunächst nicht als Träger von Bedeutungen, sondern als Werkzeuge der Praxis – als Zeug im Heidegger’schen Sinne (Brandom 1997) – verstanden. Erst durch den Umgang wächst potenziellen Sinnträgern eine Bedeutung zu: „[W]hat confers conceptual content on acts, attitudes, and linguistic expressions is the role they play in the practices their subjects engage in“ (Brandom 2019, S. 3). Trotz des primären Fokus auf Semantik und speziell Logik wird ein „dichter“ Begriff der Praxis vorausgesetzt: Praxen bestehen nicht nur aus Akteuren und Sprache, sondern involvieren Objekte und Ereignisse, die von den Akteuren in ihrem Handlungsvollzug „inkorporiert“ werden (Brandom 2008, S. 178). Anders als Wittgenstein, der in den Philosophischen Untersuchungen jede theoretische Verallgemeinerung meidet, und eher wie Mead sieht Brandom jedoch theoriefähige Gemeinsamkeiten aller Sprachspiele: Er geht davon aus, dass sich eine konsistente Gebrauchstheorie der Bedeutung aufstellen lässt, die in einem normativen Vokabular formuliert werden kann. Im Zentrum von Brandoms Theorie der diskursiven Praxis stehen praxisimplizite Normen. Handlungen in sozialen Praxen werden als orientiert an solchen impliziten Normen und insofern als regelgeleitet verstanden. Das setzt jedoch kein explizites Regelbewusstsein bei den Akteuren voraus, sondern die praktische Fähigkeit, unter gewissen Umständen angemessen zu reagieren und mit den eigenen Reaktionen angemessene Folgen zu verknüpfen. Um es mit Heidegger zu sagen: Das know how des „besorgenden Umgangs“ kommt vor dem know that der „Vorhandenheit“ (Heidegger 2006; siehe auch Dreyfus 1992). Der Gehalt impliziter Normen wird in der Praxis sozial stabilisiert, indem unrichtige Performanzen negativ sanktioniert werden (Brandom 2000, S. 77 ff.), während an normativ richtige Performanzen mit positiven Sanktionen oder komplementären Anschlusshandlungen angeschlossen wird, die als implizite Billigung fungieren. Beispielweise kann ein Gruß durch einen Gegengruß als solcher gebilligt werden oder man erkennt eine gebaute Hütte als solche an, indem man in ihr übernachtet (Brandom 1997, S. 538). Die impliziten Normen, die eine soziale Praxis konstituieren, sind historisch kontingent. Was bei Austin und Searle über relativ feststehende Bedingungen des Glückens oder Fehlschlagens eines Sprechakts gedacht wird, wird bei Brandom also dynamisiert: Das Glück oder Unglück des Sprechakts ist situativ; es hängt von implizit sanktionierenden oder akzeptierenden Anschlussreaktionen ab. Um eine spezifisch sprachliche Praxis handelt es sich dann, wenn die Normen sich nicht nur auf angemessene Verhaltensweisen, sondern auch auf den Gebrauch von Ausdrücken und Sätzen in Zusammenhängen beziehen, in denen eine sprachliche Performanz als Grund für oder gegen eine andere sprachliche Performanz zählen kann (vgl. Brandom 2000, S. 15, 2001a, S. 26, 2001b). Schlüsselbedeutung kommt in diesem Zusammenhang Brandoms Theorie der Aussage zu: Statt die Aussage als privilegierte Trägerin von Wahrheitsbedingungen zu fassen, ist sie jene sprachliche Form, in der wir konzeptuelle Gehalte in ihrer Funktion als Gründe explizit machen können (vgl. Heath 2001, S. 162) – Aussagen sind deshalb das wichtigste Vehikel der expressiven Vernunft.

Der pragmatische Inferentialismus versteht die Bedeutung eines Symbols oder eines Satzes also aus den (impliziten) normativen Verpflichtungen, die man auf sich lädt, wenn man bestimmte Laute äußert und dadurch eine bedeutungsvolle Handlung in der Praxis vollzieht. Wer z. B. unter geeigneten Umständen den Satz „Kommt doch morgen zum Tee“ äußert, berechtigt die Hörer dazu, auf den Satz als Einladung zu reagieren und verpflichtet sich selbst darauf, im Fall der Akzeptanz tatsächlich morgen Tee zu servieren – d. h. der Sprecherin wird von anderen eine normative Festlegung zugeschrieben. Gleichzeitig nimmt die Sprecherin die Berechtigung in Anspruch, eine solche Einladung auszusprechen und der Erfolg ihrer Sprechhandlung hängt davon ab, dass diese Berechtigung akzeptiert wird (wenn z. B. wegen einer globalen Pandemie gerade strenge Kontaktbeschränkungen gelten, könnte sie als zu dieser Einladung nicht berechtigt behandelt werden). Das Verstehen einer sprachlichen Handlung ist für Brandom daher in Begriffen des „Score keeping“ (diskursive Kontoführung) zu dechiffrieren. Akteure werden als wahrnehmungs- und aktionsfähige Zurechnungspunkte von normativen Berechtigungen und Verpflichtungen konzipiert, die wechselseitig voneinander registrieren, wer sich auf welche Aussagen festlegt und infolgedessen auch auf andere Aussagen und Handlungen festgelegt oder zu weiteren berechtigt ist (vgl. Brandom 2000, S. 818).

Das sprachliche Handeln ist einerseits in genau derselben Weise ein normativ verankertes know how wie nichtsprachliches Handeln, denn implizite Normen regeln auch den richtigen Gebrauch und das Verständnis von Ausdrücken und Sätzen. Das Sprechen eröffnet aber gleichzeitig eine neue Dimension des Selbstbezugs und des pragmatisch-normativen Selbstbewusstseins: Es wird als ein Explizit-Machen von impliziten Berechtigungen und Verpflichtungen verstanden. Mit der Sprache können wir sagen, und später auch denken, was wir sonst nur tun könnten.Footnote 4

Im Folgenden soll geprüft werden, inwiefern sich mit Brandoms Theorie jene ontogenetischen Probleme lösen lassen, die die Ansätze von Mead und Habermas erschließen. Brandom selbst besitzt weder eine eigene Theorie der Onto- noch der Phylogenese, die sozialwissenschaftlich anschlussfähig wäreFootnote 5 und insofern mit den Entwürfen von Habermas und Mead konkurrieren könnte. Statt also Brandoms Ansatz als ein eigenständiges Theorieprogramm vorzustellen, soll im Folgenden untersucht werden, ob man mit dem Brandom’schen Wörterbuch die Geschichten von Mead und Habermas auf erhellende Weise neu erzählen kann. Die Aufgabe besteht darin, sprachtheoretisch auszuweisen, welche kommunikativen Strukturen die Internalisierungen von Bedeutungen, Selbstbild, Normen und Reflexionsfähigkeit ermöglichen.

Dabei kann man drei speziellere Probleme auseinanderhalten:

  1. 1.

    Problem der Kommunikation: Kann die Vielgestaltigkeit der Sprachfunktionen und zugehöriger Rationalitätstypen sprachtheoretisch rekonstruiert werden? Konkret: Können sowohl die Differenzen von kausaler und sinnhafter Reaktion (analog zu Meads Kommunikationstheorie) als auch die unterschiedliche Funktionsweise von Wahrheits- und Richtigkeitsdiskursen und ästhetischer/therapeutischer Kritik (analog zu Habermas’ Kommunikationstheorie) sprachtheoretisch eingeholt werden?

  2. 2.

    Problem der Autonomie: Können wir mit Brandoms Theorie der diskursiven Praxis jene Strukturen der Sprachpraxis identifizieren, die die Bildung autonomer und einzigartiger Persönlichkeiten ermöglichen?

  3. 3.

    Problem der Evolution der Sprachpraxis: Ist das sozialtheoretische Vokabular offen genug, um starke und soziologisch wenig plausible Annahmen zur überzeitlichen Grundstruktur der Sprache zu vermeiden und echte Entwicklung auf Ebene der Sprachpraxis zuzulassen?

Diese Probleme dienen als Leitfaden für die problembezogene Rekonstruktion von Brandoms Ansatz. Die folgenden beiden Kapitel beschäftigen sich mit dem Problem der Kommunikation. Abschn. 3.2 fragt, ob Brandoms Sprachtheorie sich für eine Bestimmung der Natur/Kultur-Schranke (und mithin der von Mead bekannten Differenz von kausalen und sinnhaften Reaktionen auf „Reize“) eignet. Abschn. 3.3. untersucht, ob sich mithilfe von Brandoms Sprachphilosophie das Habermas’sche System der Geltungsansprüche als letztendlich normative Infrastruktur der Kommunikationspraxis rekonstruieren ließe. Mit der Kommunikationstheorie zusammen hängt das Problem der Autonomie, denn die sprachtheoretisch angeleitete Kommunikationstheorie muss jene Ressourcen explizieren können, die die sozialen Voraussetzungen individueller Autonomie bilden. Abschn. 3.4 untersucht, inwiefern sich Brandoms Ansatz dafür eignet. Das Problem der Evolution der Sprachpraxis können wir im Rahmen dieses Artikels nicht ausführlich untersuchen, in der Darstellung sollte aber die im Vergleich zu Habermas größere Flexibilität von Brandoms Bedeutungstheorie für historische Kontingenzen der Sprachpraxis deutlich werden, so dass zumindest die Hypothese einer größeren Anschlussfähigkeit des Ansatzes an nicht-teleologische und insofern genuin evolutionstheoretische Perspektiven auf die Entwicklung der Sprachpraxis gerechtfertigt ist.

3.2 An der Nahtstelle von Natur und Kultur: Brandom und Mead

Brandoms normative Praxistheorie ist an einer entscheidenden Stelle anders konstruiert als die Theorie von Mead: Nach Mead liegt die Bedeutung einer Lautgeste zunächst in der empirisch-typischen Reaktion; in Brandoms normativer Praxistheorie liegt die Bedeutung einer Lautgeste in der normativ gebotenen Reaktion – d. h. jener Reaktion, zu der Sprecher und Hörer in der Folge ihrer Äußerung berechtigt oder verpflichtet sind. Dies liegt an einer je unterschiedlich angesetzten Schwelle, ab der Performanzen Sinn zugesprochen wird: Für Mead ist jede Reaktion auf eine Lautgeste (z. B. auf das Knurren eines drohenden Hundes) eine sinnhafte Interpretation (Schneider 2008, S. 182 ff.). Aber mit welchem Recht wird das Zurückweichen des bedrohten Hundes eine Interpretation genannt? Wieso versteht (interpretiert!) Ego die Reaktion von Alter als Interpretation (und kann daraus Rückschlüsse über das Symbol und sich selbst ziehen)?Footnote 6 Das Zurückweichen des bedrohten Hundes klassifiziert offensichtlich die Lautgeste, indem die Reaktion gezeigt wird. Aber wenn man jede Klassifikation bereits eine Interpretation nennt, müsste man dann nicht einem Stück Eisen, das seine nasse Umgebung in gewisser Weise als „nass“ klassifiziert, indem es rostet, ebenfalls zugestehen, dass es seine Umgebung interpretiert (vgl. Brandom 2000, S. 149, 2009)? Wo genau liegt die Grenze zwischen kausaler Reaktion und sinnhafter Interpretation?

Es ist die große Stärke des normativen Inferentialismus, hier ein scharfes Unterscheidungskriterium anzubieten. Eine Bedeutung haben Lautgesten und andere Verhaltensweisen erst, wenn ihr Äußern normative Berechtigungen oder Verpflichtungen nach sich zieht. Es ist etwas anderes, bei Kälte zu frieren, als eine Umgebung „kalt“ zu nennen, denn letzteres zieht normative Verpflichtungen nach sich (man darf dieselbe Umgebung z. B. nicht im Folgesatz „warm“ nennen, obwohl man physisch an der Äußerung eines solchen Urteils durch nichts gehindert würde). Bedeutung ist für Brandom also kein natürliches, sondern ein durch und durch soziales und normatives Phänomen: Es gibt keine vordefinierte Welt, in der Gegenstände wahrnehmbare Eigenschaften oder Reaktionen signifikante Bedeutungen hätten, sondern Bedeutungen entstehen erst, wenn Akteure ihre Reaktionsweisen praktisch als zu weiteren Reaktionen berechtigend oder verpflichtend behandeln (vgl. Brandom 2000, S. 120–22). Die Bedeutung einer Handlung ergibt sich aus den normativen Festlegungen, die sie berechtigen, und jenen, die aus ihr folgen (welche Festlegungen dies genau sind, kann umstritten sein). Nicht alle Reaktionsweisen sind Interpretationen, sondern nur solche, die normative Konsequenzen nach sich ziehen. Um eine Performanz als Handlung zu interpretieren, ist es natürlich nicht nötig, explizit zu sagen, dass jemand sich auf etwas verpflichtet hat, sondern die Zuschreibung eines normativen Status kann sich auch implizit im Handeln zeigen. Beispielsweise könnte sich ein zurückweichender Hund implizit auf die Akzeptanz eines niedrigeren Status in der Rangordnung verpflichten, und dass dies so ist, könnte man beispielsweise daran festmachen, dass der drohende Hund durch das Zurückweichen in Zukunft dazu berechtigt wurde, ohne erneutes Drohen als erstes zu fressen.Footnote 7 Der normative Inferentialismus vermeidet also einige Ambivalenzen des Mead’schen Symbolbegriffs. Während Mead eine empirisch-behavioristische Theorie und eine normative Theorie zur Entstehung von Bedeutung nebeneinander stellt und die symbolisch signifikante Handlung schon von sich aus mehrere Bedeutungsdimensionen aufweist, entschlüsselt Brandom Bedeutung als ein durch und durch normatives Phänomen. Gleichzeitig geht von Meads Einsichten zur Aneignung komplexerer sozialer Zusammenhänge nichts verloren: Play und Game lassen sich als soziale Rollenzusammenhänge vollständig in einem normativen Vokabular formulieren (klassisch dazu: Dahrendorf 1959), so dass man Brandoms bedeutungstheoretische Einsichten ohne theoretische Kompromisse um Meads Überlegungen zur Wichtigkeit des normativen Gehalts sozialer Interaktionsformate für die Bildung des Selbst erweitern kann.

3.3 Brandom und Habermas I – Das Problem der Kommunikation oder: Lassen sich Geltungsansprüche als soziale Verpflichtungen rekonstruieren?

Im Verhältnis von Brandom zu Habermas lautet die entscheidende Herausforderung für Brandoms Ansatz, ob es ihm gelingt, sprachtheoretisch Eigenschaften der Kommunikationspraxis zu definieren, die erklären, wie die Teilnahme an Kommunikation den Erwerb komplexer Kompetenzen ermöglicht. Wenn Brandoms Theorie ähnliche differenzierende Funktionen für den kognitiven Gehalt der Kommunikationspraxis erfüllen kann wie Habermas’ Unterstellung eines pragmatisch wirksamen Systems von Geltungsansprüchen sowie der Kommunikationsformate von kommunikativem Handeln, Argumentation und Diskurs, und diese Leistung aber auf weniger voraussetzungsreichen theoretischen Annahmen erbringt, ist sie möglicherweise die überlegene Ausgangsbasis für eine entwicklungsgeschichtliche Rekonstruktion von Phylo- und Ontogenese menschlicher Rationalität.

Oberflächlich betrachtet sieht es vielleicht zunächst so aus, als müsste man Habermas’ Kritik an Mead auf Brandom übertragen: Handelt es sich bei Brandoms Version der diskursiven Praxis nicht um einen normativ verengten Begriff von Sozialität und Sprache, der die unterschiedlichen Geltungsmodi von Wahrheits‑, Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsansprüchen nicht fassen kann? Doch während sich Mead tatsächlich vor allem dafür interessiert, wie Individuen gemeinschaftliche Normen im engeren Sinne internalisieren, ist bei Brandom die Normativität jene grundlegende Dimension, von der aus sich sämtliche Sinndimensionen erschließen lassen: Nicht nur Identität und Gesellschaft, sondern auch Bedeutung, Wahrheit und Referenz erschließen sich erst aus den praktisch instituierten inferentiellen Normen:

Although Habermas regards the lifeworld as holistically structured, Brandom is a more thoroughgoing holist here. Distinctions such as that between theoretical and practical reason, even the debate over the priority of the individual or the community, are themselves the result of articulation, of making it explicit. It does not make sense to treat them as distinct prior to articulation. (Fultner 2002, S. 129)

Von entscheidender Bedeutung ist also die Frage, ob Ansprüche auf objektive Wahrheit und subjektive Wahrhaftigkeit sich tatsächlich als pragmatische soziale Verpflichtungen gegenüber anderen Sprechern analysieren lassen und sich die Trennung dieser Dimensionen prinzipiell als Resultat eines phylogenetischen Prozesses der Entwicklung der diskursiven Praxis darstellen lassen könnte.

Da die Geltungsansprüche von Habermas als Referenzen auf pragmatisch im kommunikativen Handeln unterstellte Welten eingeführt werden, scheint es naheliegend, die drei „Welten“ der objektiven Sachverhalte, der normativen Richtigkeit und der subjektiven Sphäre im Sinne Brandoms als eine Explikation von unterschiedlichen, sozial instituierten, inferentiellen Mustern zu deuten. Der pragmatische Sinn der Rede von im Sprechen unterstellten „Welten“ ist ja gerade, auszudrücken, dass es nicht richtig ist, von Aussagen über nichtnormative Sachverhalte auf normative Pflichten oder von subjektiven Wünschen auf objektive Tatsachen zu schließen – es handelt sich laut Habermas bei den drei Welten nicht um Sphären, die unabhängig von sozialen Kommunikationsprozessen Bestand haben könnten, sondern vielmehr um ein „in Kommunikationsprozessen unterstelltes Bezugssystem“ (Habermas 1987a, S. 126).Footnote 8 Offenkundig gehört eine bestimmte Art von linguistischer Kompetenz dazu, die Grenzen zwischen den Diskursarten richtig zu ziehen, wobei Fehlleistungen sehr wohl möglich und überall außer unter Experten für richtiges Schließen an der Tagesordnung sind. Es ist im Alltag völlig normal von „Der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlagen der Menschheit“ auf „Wir müssen den Klimawandel aufhalten“ zu schließen. Offenkundig kann die Folgerung von der einen auf die andere Aussage als ‚Fehlschluss‘ kritisiert werden (man ist in bestimmten Kontexten dazu berechtigt), aber man kann dies nur mit Verweis auf andere bereits anerkannte Muster richtigen Schließens tun und auf Kohärenz mit den bestehenden Spielregeln pochen. Was läge nach dieser Beschreibung also näher, als Geltungsansprüche als normative Ansprüche und die Trennung von Geltungssphären mithin als soziale Institution zu begreifen? Mehr noch: Wenn Habermas die unterschiedlichen Sprechakttypen in ihrer Verknüpfung zu Geltungsansprüchen erläutert, greift er selbst auf ein normatives Vokabular zurück, um die unterschiedlichen Arten der Verbindlichkeit zu explizieren, die die Akzeptanz eines Sprechakts für Sprecher und Hörer jeweils schafft:

Handlungsverpflichtungen gelten beispielsweise im Falle von Befehlen und Anweisungen in erster Linie für den Adressaten, im Falle von Versprechungen und Verträgen symmetrisch für beide Seiten, im Falle von normativ gehaltvollen Empfehlungen und Warnungen asymmetrisch für beide Seiten. Anders als bei diesen regulativen Sprechhandlungen ergeben sich aus der Bedeutung konstativer Sprechakte Verbindlichkeiten nur insofern, als sich Sprecher und Hörer darüber einigen, ihr Handeln auf Situationsdeutungen zu stützen, die den jeweils als wahr akzeptierten Aussagen nicht widersprechen. Aus der Bedeutung expressiver Sprechakte folgen Handlungsverpflichtungen unmittelbar in der Weise, daß der Sprecher spezifiziert, womit sein Verhalten nicht in Widerspruch steht, bzw. geraten wird (Habermas 1984, S. 597).

Es lohnt sich, bei diesem Zitat etwas zu verweilen, um mögliche Brücken von der Habermas’schen Sprechakttheorie zur normativen Pragmatik Brandoms zu erkunden. Die Bedingungen sind auf den ersten Blick äußerst günstig: In dem Zitat werden sämtliche Verbindlichkeiten, die aus Sprechakten entstehen als (mögliche) Handlungsverpflichtungen gedeutet; die soziale Signifikanz unterschiedlicher Sprechakte entspricht den unterschiedlichen normativen Inferenzen für Sprecher und Hörer. Trivial ist dies bei den Richtigkeitsansprüchen regulativer Sprechakte – wer etwas verspricht, soll sich daran halten.Footnote 9 Es gilt aber auch für den sozialen Sinn expressiver Akte (paradigmatisch für Wahrhaftigkeitsansprüche), deren Sinn laut Habermas darin besteht, zu zeigen, womit zukünftiges Verhalten der Sprecherin „nicht in Widerspruch steht, bzw. geraten wird“ (s. oben). Diese Konsistenzanforderung sollte trotz der etwas missverständlichen Formulierung von Habermas nicht als Prognose über zukünftiges Verhalten, sondern besser als normative Verpflichtung verstanden werden. Es geht nicht darum, was de facto geschehen oder nicht geschehen wird, sondern was geschehen sollte. Am Beispiel eines Fußballspielers, der gerade noch seine tiefe Verbundenheit mit dem Verein beteuert hat und nun zum schärfsten Konkurrenten wechselt, kann man sich klar machen, dass für die Fans die Darstellung eines konsistenten Selbst eine normative Pflicht ist und Abweichungen sanktioniert werden können. Wer eine Überzeugung ausdrückt, geht eine normative Bindung ein (vgl. Brandom 2004, S. 242). Je nachdem ob man sich diese normative Pflicht zu eigen macht (in Brandoms Sprache: die Pflicht „anerkennt“) oder sie nur anderen als Erwartungshaltung zuschreibt, resultiert ein „aufrichtiges“ oder ein „zynisches“ (instrumentelles) Selbstverhältnis (im Sinne von Goffman 2003 [1959], S. 19 f.). Auch bei Wahrhaftigkeitsansprüchen scheint es also problemlos möglich zu sein, ihren sozialen Sinn als eine normative Berechtigung und Verpflichtung zu dechiffrieren, vor anderen die Person zu sein, als die man sich zu erkennen gibt, sowie über die Perspektivendifferenzen der Kontoführer die Möglichkeit eines strategischen Einsatzes von Darstellungsmitteln zu berücksichtigen.

Der komplizierteste Fall ist die Frage der Überführbarkeit des sozialen Sinns von Wahrheitsansprüchen, deren paradigmatisch korrespondierender Sprechakt für Habermas die Aussage ist, in das Vokabular der diskursiven Praxis. Die normative Verbindlichkeit von akzeptierten Aussagen ist für Habermas, dass sich „Sprecher und Hörer darüber einigen, ihr Handeln auf Situationsdeutungen zu stützen, die den jeweils als wahr akzeptierten Aussagen nicht widersprechen“ (s. oben). Dies lässt sich leicht in Brandoms Vokabular transponieren: Sprecher und Hörer sind nach der allgemeinen Zustimmung zu einer Aussage nur zu solchen weiteren Schlussfolgerungen und Handlungen berechtigt, die mit der Aussage nicht inkompatibelFootnote 10 sind. Ebenso ist der Akt des Behauptens ganz im Habermas’schen Sinne ein Anspruch an andere: „Sich auf eine Behauptung festzulegen heißt, sie als wahr vorzubringen und das bedeutet, als etwas, das jedermann in gewissem Sinne glauben sollte (…)“ (Brandom 2000, S. 352). Gleichzeitig erhalten andere die Berechtigung, sich auf die Behauptung als Zeugnis zu berufen; das Äußern der Behauptung berechtigt also andere zu Überzeugungen und Behauptungen desselben Gehalts (ebenda, S. 351). Brandom geht aber viel weiter als Habermas, insofern er nicht nur normative Konsequenzen der Tatsache, dass man sich auf den Inhalt einer Aussage geeinigt hat, sondern auch den Inhalt der Aussage selbst über die normativen Verpflichtungen der Kommunizierenden erläutert. Im Unterschied zu Searle, auf den sich Habermas an zentraler Stelle bezieht, hat Brandom eine Theorie des propositionalen Gehalts der Aussage und setzt nicht einfach voraus, dass sich Inhalte behaupten lassen: die Theorie der Aussage und ihrer referenziellen Funktion ist das Kernstück der Bedeutungstheorie in Expressive Vernunft. Kompliziert ist der Fall also nicht so sehr wegen theoretischer Probleme – prima facie kann man auch beim Thema ‚Wahrheitsansprüche‘ scheinbar ohne Verlust an theoretischem Gehalt nur an theoretischem Auflösungsvermögen gewinnen, wenn wir Habermas’ Begriff der Kommunikationspraxis mit Brandoms Hilfe rekonstruieren –, sondern weil Habermas (2004b) selbst in einer Kritik an Brandom starke Zweifel an der Darstellbarkeit von Objektivität und Wahrheit in Brandoms Theorie geäußert hat. Da Habermas in Bezug auf seine eigene Theorie eine gewisse wenn auch nicht absolute Autorität genießen sollte, werden wir seinen Einwänden im Folgenden kurz nachgehen.

Habermas ist insbesondere skeptisch, ob die Widerständigkeit der objektiven Welt gegen beliebige Interpretationen genügend erfasst ist, wenn man Objektivität in Begriffen sozialer Normen auslegt (Habermas 2004b, S. 146 ff., 158 f., 164 f.). Sein HauptargumentFootnote 11 besteht darin, dass man nur durch fehlschlagende instrumentelle Handlungen an der Welt lernen könnte und Brandom also mit seinem ausschließlichen Fokus auf diskursive Praxen die ‚Widerständigkeit‘ der Welt gegen unsere Beschreibungen nicht fassen könnte (ebenda, S. 164 f.). Diese Kritik vermag nicht recht zu überzeugen. Anders als bei Habermas sind bei Brandom nichtsprachliche Handlungen nicht vom Diskurs getrennt, sondern als „exit points“ einfach mögliche Folgen von diskursiven Festlegungen. Es gibt keine große Kluft zwischen dem richtigen Reagieren auf die Ansprüche von Kommunikationspartnern und richtigen Reaktionen auf die Erfordernisse der Objekte, mit denen man sich umgibt. In beiden Fällen muss man Ereignisse oder Eigenschaften sowohl richtig klassifizieren als auch richtig interpretieren können; für den Umgang mit Objekten und Akteuren gilt grundsätzlich die gleiche Doppelstruktur von kausaler und normativer Reaktion. Die Unterscheidung zwischen instrumentellem und kommunikativem Handeln ist für Brandom deshalb nicht grundlegend; sie kann als eine Unterscheidung von Teilnehmern der diskursiven Praxis betrachtet werden, die unterschiedliche Meta-Normen, unter denen Handlungen als richtig klassifiziert werden können, spezifiziert.Footnote 12 Korrektes instrumentelles Handeln ist deshalb aus Brandom’scher Perspektive einfach ein Teil des richtigen (situativ angemessenen) Handelns. Auch was man durch den Fehlschlag eines versuchten Eingriffs in die natürliche Umwelt lernen kann, lässt sich problemlos in normativen Termini formulieren: Man hat die Pflicht, Sachverhalte, die man (z. B. qua Wahrnehmung) anerkennt und die man laut der eigenen Theorie für unmöglich halten sollte, als inkompatibel mit der Theorie und insofern als Anlass der Revision der eigenen Verpflichtungen zu behandeln (vgl. Brandom 2015, S. 155 ff.). Da sich die für Lernprozesse relevante Objektivität weltlicher Objekte über die Verpflichtung zur Beseitigung von Inkompatibilitäten rekonstruieren lässt, kann Brandom sagen, dass „(…) jemand, der eine Verpflichtung mit gewissem Inhalt normativ anerkennt, nichts anderes [tut] als anzunehmen, dass sich die Dinge objektiv so-und-so verhalten“ (Brandom 2015, S. 116, Herv. i. O.). Brandom rekonstruiert also das Verhalten von Teilnehmern, die im Sinne von Habermas eine Welt als ‚objektiv gegeben‘ unterstellen, aus der Perspektive eines theoretischen Beobachters als normative Festlegungen auf bestimmte Reaktionsweisen von Objekten, über deren Einhaltung aber normalerweise nicht die Objekte selbst, sondern andere Akteure wachen (Brandom 2001b). Es gibt in der Philosophie eine ausgedehnte Debatte darum, ob der Objektivität des Objektiven damit genüge getan ist (siehe Lafont 2002; Laurier 2005; Pohl et al. 2006; Prien 2010; Levine 2010). Wir können in diese Debatte an dieser Stelle nicht einsteigen, sondern begnügen uns mit der Feststellung, dass es kaum zu bestreiten ist, dass sich in Brandoms Vokabular der soziale Sinn von Wahrheitsansprüchen sehr genau wiedergeben lässt (Fultner 2002), während es schwer fällt, zu sagen, was eigentlich (speziell für soziologische Fragen) dadurch gewonnen ist, dass man „die Welt“ als für die Kommunikationsteilnehmer unerreichbares „Korrelat zur Gesamtheit wahrer Aussagen“ (Habermas 1987a, S. 125 f.) neben der Kommunikation herlaufen lässt.

Insofern sich Geltungsansprüche und die ihnen korrespondierenden ‚Spielregeln‘ unterschiedlicher Diskurse tatsächlich mit Brandoms Theorie der diskursiven Praxis rekonstruieren lassen, wäre eine Menge gewonnen: Während Habermas über eine kompakte und voraussetzungsreiche Theorie der pragmatischen Struktur der Sprache die Annahme theoretisch voraussetzt, dass Bedeutungen von Haus aus normativ, kognitiv oder expressiv gefärbt sind, könnte man mit Brandoms Theorie die Verzweigung von Sinndimensionen als eine kontingente; erst post festum als rational erkennbare Differenzierung der menschlichen Kultur deuten, die komplexere Individuen möglich macht. Weil Brandom nicht bei ‚der Sprache‘, sondern bei den impliziten Normen der prädiskursiven und diskursiven Praxis ansetzt, sind die unterschiedlichen sprachlichen ‚Welten‘ nicht Voraussetzung der Analyse, sondern etwas, das im Lauf der Analyse rekonstruiert werden muss – Personalität, Kultur und ‚Gesellschaft‘ (letzteres im engeren Sinne von moralischen und ethischen Handlungsnormen) sind Kürzel für Normen, die die Übergänge zwischen verschiedenen Bereichen der diskursiven Praxis regeln. Die Ausdifferenzierung der Geltungssphären ließe sich dann möglicherweise als das Produkt eines phylogenetischen Lernprozesses begreifen, in dem Probleme voneinander isoliert werden, um sie besser bearbeiten zu können – ohne dass man wie Habermas behaupten müsste, dass unser heutiger Status Quo der diskursiven Spielregeln von Anfang an in tiefliegenden sprachlichen Strukturen vorgezeichnet war (für die besondere Eignung von Brandoms Ansatz für die Ideengeschichte siehe Marshall 2013).

3.4 Brandom und Habermas II: Das Problem der Autonomie

Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Frage, inwiefern sich vom normativen Inferentialismus aus nicht nur die Inhalte differenzierter Lebenswelten, sondern auch die Form individuell-autonomen Denkens als Aneignung impliziter sozialer Normen rekonstruieren lassen.

Für kommunikationstheoretische Ansätze verbietet es sich dabei, die gedankliche Freiheit eines Individuums bereits vorauszusetzen. Mead, Habermas und Brandom sind aufgrund ihres rekonstruktiven Pragmatismus verpflichtet, davon auszugehen, dass das sprachliche Urteil – „Die Pflanze ist giftig“ – dem Erwägen eines propositionalen Gehalts – dem darüber Nachdenken-Können, ob die Pflanze möglicherweise giftig ist – vorausgeht. Unsere Fähigkeit, auf Bedeutungen (in Sätzen oder Symbolen) handelnd zu reagieren, geht unserer Fähigkeit, Bedeutungen als solche wahrzunehmen und ihre Wahrheit/Richtigkeit als Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, voraus (vgl. Brandom 2009, S. 127). Der in Argumentationen explizit werdende Geltungsbezug auch des alltäglichen kommunikativen Handelns war für die Habermas’sche Theorie der Ontogenese der Schlüssel, um die Entstehung einer „hypothetischen Einstellung“ zu rekonstruieren, in der nicht gehandelt wird, sondern Möglichkeiten erwogen werden. Das für Mead schwer erklärliche Phänomen, dass Individuen Entscheidungen und sogar ganze Lebensstile bewusst wählen können, die nicht den Normen ihrer primären Gemeinschaft entsprechen, war bei Habermas über die Internalisierung von argumentationstypischen Fremdperspektiven erklärt worden. Die Habermas’sche Unterscheidung von kommunikativem Handeln und Diskurs liegt ebenfalls auf der Linie des pragmatischen Inferentialismus. Im Vokabular des normativen Inferenzialismus erscheint sie als Unterschied zwischen einer ersten Kommunikationsform, in der doxastische und pragmatische Bindungen implizit eingegangen und zugeschrieben werden (kommunikatives Handeln), und einer zweiten Kommunikationsform, in der über die Richtigkeit/Unrichtigkeit von Inferenzen verhandelt wird, indem diese partiell explizit gemacht werden (Argumentation/Diskurs).

Brandom gelingt es dabei vielleicht noch genauer, die sprachliche Basis der „hypothetischen Einstellung“ zu bestimmen, insofern er nicht nur Kommunikationsformate, sondern sogar die sprachliche Form angeben kann, in der das hypothetisches Denken explizit (und damit praktisch erfahrbar) wird. Für Brandom ist das Konditional (eine logische Präzisierung von Wenn-Dann-Konstruktion in der Umgangssprache) im Zentrum seiner Theorie der inferentiellen Semantik und der Theorie der Logik, weil es der paradigmatische Fall des Explizit-Machens von impliziten Festlegungen ist. Es ist das „Musterbeispiel einer Ausdrucksweise, die es erlaubt, inferentielle Festlegungen als Gehalte von Urteilen zu explizieren“ (Brandom 2000, S. 177). Wenn ein Kind also lernt, Konditionale zu gebrauchen und Wenn-Dann-Sätze zu formen (z. B. „Wenn ich jetzt mein Zimmer aufräume, dann darf ich nachher ein Eis essen.“), kann es etwas explizit ausdrücken, das es sonst nur hätte tun können (nach dem Aufräumen ein Eis fordern). Aus normativ imprägnierten Dispositionen werden dadurch explizite Gründe-für-etwas. Das Konditional ist aber noch in weiterer Hinsicht interessant, denn es ist der paradigmatische Fall, an dem sich Kraft und Inhalt (Frege) bzw. das Aussagen vom Ausgesagten trennen lassen. Ein Konditional vereint zwei getrennte Propositionen ohne sie jeweils als einzelne zu behaupten. Nehmen wir dafür folgendes Beispiel:

Bspl.: Wenn individuelle Vernunft aus sozialen Kommunikationspraxen entsteht, dann ist Brandoms Sprachphilosophie informativ für soziologische Erklärungen der Ontogenese.

Ob das Antezedens wahr ist oder nicht (ob es also tatsächlich der Fall ist, dass individuelle Vernunft aus sozialen Kommunikationspraxen entsteht), wird von dem Satz nicht entschieden. Das Konditional behauptet, wenn man seine Glieder einzeln inspiziert, weder dass tatsächlich individuelle Vernunft aus sozialen Kommunikationspraxen entsteht, noch dass Brandoms Sprachphilosophie informativ für soziologische Erklärungen der Ontogenese ist – erst dem Konditional als Ganzem kommt behauptende Kraft zu. Das Konditional verschafft uns Zugang zu einem sprachlichen Inhalt, ohne ihn als wahr zu behaupten. Dadurch eröffnet es den Weg zum hypothetischen Denken in Propositionen, ohne diese direkt affirmieren oder verwerfen zu müssen. Diese umgangssprachlich als Wenn-Dann-Struktur ausgedrückte Relation entspricht dem impliziten Muster praktischen Schließens, als explizite sprachliche Form eröffnet es den Zugang zu hypothetischem Denken.

4 Fazit: Aus eins mach drei mach eins

Es ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich, mehr als eine suggestive Fortschrittsgeschichte darüber zu erzählen, inwiefern bestimmte sozialtheoretische Fortentwicklungen von Mead über Habermas zu Brandom möglicherweise einen besseren Zugang zur kommunikationstheoretischen Rekonstruktion menschlicher Rationalität eröffnen. Während Mead noch keinen Begriff der Sprache hat, der ihm erlauben würde, unterschiedliche Sinndimensionen voneinander abzugrenzen, verfügt Habermas über ein leistungsfähiges sprachtheoretisches Programm, das jedoch auf voraussetzungsreichen Annahmen beruht. Anders als Habermas braucht Brandom für seine Theorie der Sprachpraxis nicht von einer fest verankerten, universalen Hintergrundstruktur auszugehen, sondern kann sich auf die sozialwissenschaftlich gut dokumentierte Tatsache stützen, dass Verstöße gegen die in der sprachlichen Praxis enthaltenen, impliziten Normen sanktioniert werden (klassisch und eindrucksvoll natürlich bei Garfinkel 1967).

Unsere Geschichte gehorcht den Regeln der klassischen Erzählung, insofern sich ihr Ende durch Rückbezug auf den Anfang rundet. Nachdem Mead von einem primär normativen Vokabular ausgegangen war, hatte Habermas der Welt normativer Verpflichtungen die Welt des objektiven Wissens und der subjektiven Innerlichkeit hinzugefügt, die sich nun mit Brandom wiederum in einem primär normativen Vokabular rekonstruieren lassen – aus eins mach drei mach eins. In dieser produktiven Schleife nimmt die Komplexität der theoretischen Grundannahmen ab, während das rekonstruktive Potenzial der Theorie sich erhöht. So wird es möglich, individuelle Rationalität von Akteuren nicht als unerklärten Erklärer in der Handlungstheorie vorauszusetzen, sondern rekonstruktiv einzuführen: Sensibilität für die eigensinnige Verwobenheit sprachlicher Gründe kann als Internalisierung der normativen Inferenzstruktur der Sprachpraxis verstanden werden, während die autonomiestiftende Ablösung der individuellen Urteilskraft von den Konventionen einer Gruppe gleichzeitig als Effekt praktisch-sozialer Objektivitätsverpflichtungen und als Übertragung der Perspektive diskursiver Kontoführung auf das eigene Selbst dargestellt werden kann. Diese theoretische Leistungssteigerung bei gleichzeitiger Verfeinerung und Vereinfachung des theoretischen Vokabulars deutet auf vielversprechende Anschlussmöglichkeiten von Brandoms normativem Pragmatismus an soziologische Rationalitäts‑, Kommunikations- und Praxistheorien hin. Bezüglich des spezifischen Problems der Soziogenese menschlicher Rationalität wäre weiter zu erforschen, ob sich das theoretische Instrumentarium in einer materialreichen und umfänglichen Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte menschlicher Rationalität bewährt. Dass derartige Projekte gelingen werden, kann auf Basis der hier vorgestellten Überlegungen nicht garantiert werden, wohl aber, dass ihr Erfolg einen Fortschritt für die theoretische Auflösungsfähigkeit der Soziologie und ihre Dialogfähigkeit mit relevanten Nachbardisziplinen darstellen würde.