1 Urteilskraft als Schlüsselbegriff der Moderne

Urteilskraft, heißt es im Brockhaus (1957) lapidar, sei „die Fähigkeit, ein U. zu bilden.“Footnote 1 Wer diese Fähigkeit vermissen lässt, ist Immanuel Kant zufolge unheilbar dumm. Mit anderen Worten: Er oder sie kann nicht richtig denken,Footnote 2 was beileibe kein rein kognitives Problem ist, sondern buchstäblich existentiell. Denn Urteilskraft prägt das ganze Leben, auf der epistemologischen Ebene (wo ein Urteil revidierbar ist) wie pragmatisch, auf der Handlungsebene (wo Urteile häufig unumkehrbar sind). Ständig fällen wir Urteile oder werden zu Stellungnahmen gezwungen, vom schnöden Einkauf bis zur Partnerwahl, in der Alltagskommunikation nicht weniger als auf der Arbeit oder erst recht in öffentlichen Ämtern. Und auch hinter einer Urteilsenthaltung steht selbstverständlich wieder ein Urteil: „Ich kann nicht nicht urteilen. Dabei wirkt jedes Urteil, das ich treffe, auch wieder auf mich zurück, weil es die Wirklichkeit, die ich mit anderen teile und in die ich mich urteilend entäußere, urteilend mitgestaltet.“ (Kurbacher 2003, S. 193; Hervorh. i. Orig.) So verstanden wird Urteilskraft zur „Grundbedingung und Voraussetzung“ menschlicher Existenz und „in der Hinsicht von Selektion und Abstraktion sogar im Sinne von Über-Lebensfähigkeit“, schließlich zum „Indikator“ der Individualität einer Person (ebd.). Ohne Urteilskraft auch kein autonomes Subjekt. Damit gehört die Urteilskraft nicht nur zum Kernbestand neuzeitlich-moderner Subjektphilosophie, sie ist einer der großen „humanistische[n] Leitbegriffe“ (Gadamer 1990, S. 7), ein Schibboleth der Moderne – und das, obwohl (oder gerade weil?) sie allen Systematisierungsversuchen zum Trotz ein „nicht auf den Begriff zu bringendes Vermögen“ ist (Kurbacher 2005, S. 117). Gerade heute scheint sie, in unterschiedlichen semantischen Gewändern, wieder mehr denn je en vogue: als grundlegende philosophische Kategorie, als Bestandteil ethischer Entwürfe, als politisch-kritisches Vermögen und pädagogische Leitidee, als Selbstkonzept, Anrufung und Zumutung.Footnote 3 Im Zuge nationalistischer und populistischer Bewegungen sowie grassierender Verschwörungsphantasien, die auch in gutbürgerlichen Kreisen blühen, mehren sich jedoch in jüngster Zeit Zweifel am Urteilsvermögen vieler Zeitgenossen, die ihrerseits – zum Teil sogar unter Berufung auf Kant und die Aufklärung – die Urteilskraft staatlicher Akteure, politisch Andersdenkender oder Journalistinnen in Frage stellen und den sogenannten ‚gesunden Menschenverstand‘ für sich reklamieren.Footnote 4 Letzteres darf als Indiz dafür gewertet werden, dass Urteilskräfte ein umkämpftes, mithin politisches Gut sind und im sozialen Universum der Weltgesellschaft keinesfalls so großzügig distribuiert, wie René Descartes in seinem Discours de la Méthode von 1637, einem Gründungsdokument neuzeitlich-modernen Denkens, schreibt: „Der gesunde Menschenverstand ist die am besten verteilte Sache der Welt.“ Die „Macht, richtig zu urteilen und Wahres von Falschem zu unterscheiden, die eigentlich das ist, was man den gesunden Menschenverstand oder die Vernunft nennt“, sei bei allen Menschen „von Natur aus gleich“ (Descartes 2011, S. 5). Auf dieser Basis stand für Descartes außer Frage, sich „auch nur einen Moment mit den Meinungen anderer zufrieden geben zu dürfen“. Stattdessen gelte es, um diese zu prüfen, die eigene Urteilskraft in Anschlag zu bringen („d’employer mon propre jugement“) (ebd., S. 48f.).Footnote 5 So offenbart auf den ersten Seites des Discours – weit vor Kant – eine Epoche ihr Leitmotiv: ‚Sapere aude!‘ oder in den Worten Georg Christoph Lichtenbergs: „Habe Mut zu denken, nehme Besitz von deiner Stelle!“ (Lichtenberg 1968, S. 130 [BI 321]; Hervorh. i. Orig.) Das bedeutet: Weil man Urteilskraft zur allgemein-menschlichen Grundausstattung zählt, darf sie grundsätzlich auch allen Menschen zugemutet werden. Der Frühaufklärer Blaise Pascal knüpft sogar nicht weniger als die von Gott abgeleitete Würde des Menschen daran: „[T]out son devoir es de penser comme il faut“ – „all seine Pflicht ist, richtig zu denken.“ (Zitiert nach Höffe 2012, S. 14f.)Footnote 6.

Die Fähigkeit zum selbständigen Denken bildet nicht nur für die Frühaufklärung den Kern der Urteilskraft (vgl. Kurbacher 2003, S. 185). Neben dem Leitmotiv der Autonomie und Perfektibilität ist sie in der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts ubiquitär (vgl. Haag und Wild 2019, S. 7; Meyer 2010, S. 132ff.; Schneiders 2008, S. 7).Footnote 7 Ihre Voraussetzung sah man in der mehr oder weniger rücksichtslosen Inventur, das Instrument dieser Bestandsaufnahme eingeschlossen (vgl. Schneiders 1983). Aufklärung ist „Befreiung von Vorurteilen überhaupt“, so Kant (2005c (= KU), B 158f.).Footnote 8 Dazu gesellten sich ein neues Bewusstsein für den sozialen und politischen Charakter von Vernunft und Urteilskraft bzw. sensus communis, für die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit wie auch der Verhinderung guter Urteilspraxis sowie ein emphatischer Kosmopolitismus. Alle genannten Aspekte verdichten sich in unterschiedlicher Ausprägung in den kanonischen Texten der Epoche. Vorbereitet wird dieser kulturelle Wandlungsprozess durch die neuzeitliche Wissenschaftsrevolution. Auf dem fruchtbaren Boden frühneuzeitlicher Naturwissenschaft und Philosophie erwächst allmählich ein neuer Wille zum Wissen vom ‚wahren‘, das heißt vernunftbestimmten und urteilskräftigen Menschen, der damit ins Zentrum aller wissenschaftlichen, pädagogischen und politischen Bemühungen der Zeit rückt: „Nur vom Wesen des Menschen aus, läßt sich das Wesen der Gesamtnatur enträtseln und bestimmen.“ (Cassirer 1998, S. 87; Hervorh. i. Orig.). Gemäß Alexander Popes Motto „Know then thyself, presume not God to scan;/The proper study of mankind is Man“ (Pope 1993, S. 38) wird das neue Menschenbild sukzessive von Erbsünde respektive Gottebenbildlichkeit und kosmischer Invarianz auf Vermögen (Funktionen) und Entwicklungsdynamiken umgestellt, der Mensch psychologisch aufgeschlüsselt, das heißt lern-, also verbesserungsfähig. Wie erwähnt, standen dem aus Sicht der Aufklärer neben ungünstigen Sozial- und Erziehungsverhältnissen zunächst vor allem Fehl- und Vorurteile entgegen: „L’ignorance, les erreurs & les préjugés des hommes sont les forces de leurs maux. La vérité en est le remede.“ (d’Holbach 1770, S. 1)

Norbert Hinske zufolge ist die Idee des Vorurteils „[d]ie vermutlich wichtigste Kampfidee der deutschen Aufklärung“, was mit Einschränkungen auch für England und Frankreich gilt: „Aufklärung ist Kampf gegen Vorurteile, […] das zählt über alle Parteiungen hinweg zu den vornehmsten Überzeugungen jener Bewegung als ganzer.“ (Hinske 1990, S. 427f.; Hervorh. i. Orig.) Ihr Hauptgegner war der allzu menschliche Hang zur ‚faulen‘ Vernunft, die Bewegung daher auch eine groß angelegte, in pädagogische Traktate und Anleitungen zur Lebensführung mündende Selbst- und Fremdertüchtigung, von Kant bündig unter den programmatischen Begriff des „Selbstdenken[s]“ gestellt, das ist „die Maxime der vorurteilfreien […] Denkungsart“ respektive „des gemeinen Menschenverstandes“ (KU, B 159; Hervorh. i. Orig.). Letzterer richtet sich gegen Unwissen und bloß eingebildetes Wissen, allen voran gegen Aberglauben und ‚Schwärmerei‘ (Enthusiasmus und Fanatismus), aber auch die metaphysischen Großbauten des 16. und 17. Jahrhunderts.

Dass es beim Kampf gegen Vorurteile letztlich um weit mehr als nur Sophismen und Schlussregeln ging, nämlich eine das ganze Leben betreffende Denkkunst bzw. Klugheitslehre, vor allem aber eine auf Steigerung bedachte Schule der Urteilskraft, belegt schon die einflussreiche Logik von Port-Royal der beiden Jansenisten Arnauld und Nicole (1965). Die Erkenntnis der Natur des menschlichen Geistes und die Produktion wahrer Urteile, nicht formal korrekter Sätze, ist ihr eigentliches Anliegen. Ähnliches gilt für den ‚Vater‘ der deutschen Aufklärung, Christian Thomasius, und seine Vernunftlehre (119,120,a, b), aber auch Locke, der die Urteilskraft in seinem Essay Concerning Humane Understanding als spezifischen Wissensmodus und Navigationsinstrument für den Alltag aufwertet (vgl. Locke 1981, 1980, S. 108). Konsequent stellt der Hauslehrer des 3. Earl of Shaftesbury die Fähigkeit, „sich ein richtiges Urteil über die Menschen zu bilden nach den Kennzeichen, die am besten geeignet sind, ihr Wesen zu offenbaren und einen Blick in ihr Inneres tun lassen“, ins Zentrum seiner Pädagogik (Locke 1980, S. 104f.). Adam Smith konzipiert die Urteilskraft im dritten Teil seiner Theory of Moral Sentiments als intersubjektives, zutiefst soziales Vermögen. Es wurzelt nach Smith in der „Sympathie“, die alle Menschen grundsätzlich füreinander empfinden. Diese Disposition sei Voraussetzung und Ermöglichungsgrund aller Urteilssprüche, die das menschliche Zusammenleben betreffen. Denn das Urteil über andere Menschen erfordere, sich in Gestalt eines unparteiischen Beobachters auch auf deren Standpunkt zu stellen – eine Technik, die nach Smith selbst bei der Beurteilung eigener Empfindungen und Handlungsgründe zum Einsatz kommen muss (vgl. Smith 2010, S. 177). Dass wahres Urteilsvermögen etwas mit der Fähigkeit zur Distanznahme von sich selbst und anderen zu tun hat, wusste auch Lockes Zögling Anthony Ashley Cooper. Sein „test of ridicule“ (Shaftesbury 2000, S. 8), eine Art Schnelltest zur Identifikation schwärmerisch korrumpierter Urteilskräfte, zielt auf das Aufgeblasene, allzu Tiefsinnige und Fanatische in allen menschlichen Äußerungen, das hybride Verlangen nach geistiger Hegemonie und politischer Dominanz. Urteilskraft ist, wenn man trotzdem lacht. Mit Kants dritter Kritik erfährt die Urteilskraft am Ausgang der Aufklärungszeit schließlich ihre eingehendste Behandlung, wird aber zugleich in ihren Kompetenzen beschnitten. Künftig bleibt sie auf Ästhetik (im umfassenden Sinn des Worts) abonniert, während sie im logisch-erkenntnistheoretischen, im sittlich-ethischen und politischen Bereich des menschlichen Daseins keine herausragende Rolle mehr spielt.

Auch bei Kant ist das Urteil zunächst ganz allgemein gefasst die „maßgebliche Vollzugsform des Denkens“ (Teichert 2010, S. 2845), und Urteilskraft „das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d.i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.“ (Kant 2005b (= KrV), B 172; Hervorh. i. Orig.) Doch sei die Urteilskraft keine Rechenmaschine. Laut Kant kann die Logik ihr keinerlei Vorschriften machen, da diese „von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert“ und selbst unfähig sei, Schlusskriterien anzugeben, die nicht ihrerseits wieder die Form von Regeln und Schlüssen annehmen (ebd.; Hervorh. i. Orig.). Eben diese Operation, die Fähigkeit zu unterscheiden, ob ein Ereignis unter eine bestimmte Regel falle, etwas den besonderen Fall eines Allgemeinen darstelle, erfordert nach Kant nicht bloß Verstand, sondern „eine Unterweisung der Urteilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.“ Urteilskraft wird gemäß Kant daher vor allem am Beispiel geschärft, obwohl Letzteres rasch zum „Gängelwagen der Urteilskraft“ (ebd., B 173) verkommt, insofern es nämlich zur Formelhaftigkeit neigt, sodass Urteilskraft schließlich und einfach wie schon bei Descartes „das Spezifische des so genannten Mutterwitzes [ist], dessen Mangel keine Schule ersetzen kann“ (ebd., B 172).Footnote 9 Dieser Mangel ist bei Kant eine Art unheilbare Krankheit, sprich: „das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“ (ebd., B 173).

In der Kritik der Urteilskraft unternimmt Kant eine wichtige Binnendifferenzierung: Diejenige Urteilskraft, die das Besondere unter ein gegebenes Allgemeines subsumiert (die also zum Beispiel einen bestimmten Gegenstand als ‚Baum‘ oder ‚Tisch‘ identifiziert), heißt die bestimmende, diejenige, die das Allgemeine, Prinzipielle zu einem gegebenen Besonderen sucht (für das es noch keinen Begriff gibt), die reflektierende.Footnote 10 Erstere hat im Bereich des Theoretischen keine eigenständige Möglichkeit zu urteilen, sie bleibt immer – als eine Art Vollzugsbeamter der Begriffe und Regeln des Verstandes, der diese auf die Empirie anwendet – an die Verstandesgesetze gebunden. Demgegenüber sieht Kant in der reflektierenden Urteilskraft das eigentliche Beurteilungsvermögen. Ihr Metier ist die Reflexion exemplarischer, extraordinärer Fälle, ihr Gesetz die Zweckmäßigkeit. Sie urteilt also nicht über bestimmte Eigenschaften von Gegenständen, sondern reflektiert über deren innere Struktur. Das ist nach Kant vor allem im Bereich der Ästhetik gefordert (vgl. Wieland 2001) – und für lange Zeit bleibt die Urteilskraft auf diesen Bereich festgelegt. Darüber hinaus wird das Subjekt der Aufklärung bei Kant grundsätzlich aus Descartes’ solipsistischem Cogito erlöst und nicht nur zum klugen Kopf, sondern im emphatischen Sinn zum Weltbürger promoviert. Es macht, so Kant in seinen populären Aufsätzen Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? und Was heißt: sich im Denken orientieren? von seinem eigenen Verstand „ohne Leitung eines anderen“ Gebrauch – und dies öffentlich, das heißt: in der imaginären Arena der vereinigten Gelehrtenrepubliken, im Austausch mit anderen räsonierenden Köpfen (vgl. Kant 1999a, S. 53, S. 55, 1999b, S. 58, S. 60f.).

2 Genealogie der Urteilskraft

Zweihundert Jahre später erscheint der neuzeitlich-moderne Subjektbegriff reichlich ramponiert. Die Urteilskraft aber, einer seiner zentralen Bestandteile, ist bis dato kaum in die Kritik geraten, ja sogar zum Ausgangspunkt neuer Ansätze selbst postmoderner, oft als anti-aufklärerisch geschmähter Denker avanciert. Neben einer vitalen psychologischen Urteilsforschung, die unter dem Label Judgment and Decision Making ein eigenes Forschungsfeld bewirtschaftet,Footnote 11 wird das Problem der Urteilskraft vor allem auf philosophischem Terrain verhandelt. Dort strebt man tendenziell nach verallgemeinerbaren Begriffen und misst Diskurse und Praktiken normativ an Soll-Zuständen, während in historischen Darstellungen (man denke an Ernst Cassirers bis heute viel zitierte Philosophie der Aufklärung von 1932) eine Art ‚Impressionismus‘ überwiegt, „der von der Interpretation von Einzelschriften auf den Geist der Zeit schließt.“ (Reinhardt 1978, S. 231) Damit ist für wissenschaftliche Debatten über Urteilskraft nicht mehr viel zu gewinnen. Nimmt man dagegen einen soziologischen Standpunkt ein, rücken in der Tradition der Beobachtung 2. Ordnung außerdem die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit, die Produktion und Distribution von Urteilskraft in den Blick. Eine Heilsgeschichte der Urteilskraft, eine Geschichte, aus der sich gute Ratschläge oder politische Apelle ableiten ließen, etwa für mehr Vernunft und Urteilskraft in der Politik, in der Schule oder im Internet, lässt sich dann nicht mehr umstandslos erzählen. In diesem Sinn hat die Soziologie mit Pierre Bourdieu auch bereits einiges zur Aufklärung der Aufklärung beigetragen.

In seiner berühmten Studie La distinction, die im Deutschen den Untertitel Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft trägt, zeigt Bourdieu (2012), dass selbst etwas vermeintlich so Individuelles wie unser persönlicher Geschmack, also unser Kleidungsstil oder unsere Wohnzimmereinrichtung, unsere Vorliebe für Klassik oder Punkmusik, die Witze, über die wir lachen (oder eben nicht), die Kunstausstellungen oder Jahrmärkte, die wir besuchen, die Art und Weise wie wir unser Leben ‚kuratieren‘ (vgl. Reckwitz 2017) – dass all dies von unserer sozialen Prägung abhängt, von dem Milieu, in dem wir aufgewachsen sind und von dem wir geformt werden bis in die scheinbar individuellsten Präferenzen hinein. Dabei ist im Allgemeinen der Geschmack der Oberschicht laut Bourdieu distinguiert und luxuriös, Kleinbürger setzen auf Bildung und Vielfalt, einfache Arbeiter orientieren sich am Notwendigen. Ob man eher für Bach oder Beethoven, die Rolling Stones oder Helene Fischer schwärmt, hat man nach Bourdieu daher nicht wirklich selbst entschieden. Das Elternhaus hat einem die eigenen Vorlieben gleichsam in die Wiege gelegt. Derart tief reichen Bourdieu zufolge die Prägungen unseres Herkunftsmilieus, dass sie uns buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen sind. Überall macht sich infolgedessen der entsprechende Habitus – positiv wie negativ – bemerkbar. Selbst wenn wir uns verstellen, eine ‚niedere‘ Herkunft aus dem Gelsenkirchener Barock oder der Enge des Dorfs zu überspielen versuchen, unsere Kinderstube verrät uns auf Schritt und Tritt: „dem Aufsteiger sieht man die Kletterei an“ (Bourdieu 1985, S. 13).

Gewiss kann man von Bourdieu und neuerdings von seinem Schüler Didier Eribon (2016, 2017) viel lernen. Sein Ansatz erhellt, wie sich die Urteilskraft als Distinktionswaffe im Kampf um unterschiedliche Kapitalsorten zur Gewinnmaximierung einsetzen lässt. Bourdieu misst die bisweilen filigrane Struktur mutueller Anerkennungsbeweise und sozialstrukturell vertikaler Abwertungspraktiken aus, für die tieferliegenden Wurzeln dieser Strukturen interessiert er sich kaum; zwar rekurriert er explizit auf Kant, dessen Ästhetik er soziologisch problematisiert; woher die Urteilskraft stammt, wie sie zu dem gemacht wurde, was sie bis heute für den ‚philosophischen Diskurs der Moderne‘ ist (in dem wir uns selbst dann noch bewegen, wenn wir ihn zu dekonstruieren versuchen), was sie an Ambivalenzen und Paradoxien mit sich führt, all dies erfährt man nicht. Zu wissen, wo die Herkünfte und Abgründe des für das neuzeitliche Subjekt konstitutiven Urteilsvermögens liegen, ist jedoch allein deshalb wichtig, weil nicht nur handlungs- und individualisierungstheoretische, sondern auch praxistheoretische Ansätze der Soziologie explizit oder implizit mit subjekttheoretischem Basisvokabular arbeiten, dessen Grammatik oft umstandslos vorausgesetzt wird. Die folgenden Überlegungen eröffnen demgegenüber eine an Friedrich Nietzsche und Michel Foucault anschließende genealogische Perspektive auf ihren Gegenstand. Unter diesem Blickwinkel erscheint Urteilskraft nicht länger als anthropologische Universalie, „[der] die Geschichte mit ihren besonderen Umständen gewisse Modifizierungen beibringt.“ (Foucault 2010, S. 254) Im Rekurs auf die Welt der Höfe und die bürgerlichen Sozietäten offenbaren sich dagegen ihre „Erscheinungsbedingungen“ (ebd., S. 255), das heißt die epistemischen und sozialstrukturellen Umwelten bzw. die Praxis der Urteilskraft, welche auf diese Weise als Effekt „vielfältige[r] bestimmende[r] Elemente“ (ebd.) ebenso wie als Subjektivierungsressource und Machtchance greifbar wird.

Genealogische Forschung geht von der Gegenwart aus, um in kritischer Absicht „deren hypothetische, fiktive und spekulative Vorgeschichte(n)“ zu schreiben (Saar 2009, S. 251) – eine in der Darstellung mit den Mitteln der Zuspitzung und Übertreibung operierende „Historisierung des Selbst“, die sich für die „Machtwirkungen“, denen Subjekte unterliegen, ebenso interessiert wie für die Produktivkräfte der Macht (ebd., S. 252). Leitend ist im Folgenden daher erstens die Annahme, dass es keinen natürlichen Gegenstand, kein Ding namens ‚Urteilskraft‘ gibt; es gibt, wie Paul Veyne (1992, S. 36) schreibt, stattdessen „nur vielfältige Objektivierungen […], die heterogenen Praktiken entsprechen.“ Daher ist mit Foucault (2015, S. 16) „von der Nichtexistenz der Universalien aus[zu]gehen, um die Frage zu stellen, was für eine Geschichte man schreiben könnte.“ Zweitens unterstelle ich, dass die Aufklärungszeit als „Formierungsmoment der modernen Menschheit“ (Foucault 2010, S. 249) wie in einer Art „Laboratorium“ (Breidbach und Rosa 2010) fundamentale Begriffe und Selbstbeschreibungen der Moderne „von paradigmatischem Zuschnitt“ (Sandkaulen 2010, S. 73) entwickelt, die allen Kritiken und Neuansätzen zum Trotz auch heute noch von gesellschaftlich prägender Kraft sind – und sei es als entleerte, aber gerade dadurch umso häufiger angerufene und beschworene Begriffshüllen, als schlechte Abstraktionen im Sinne Hegels. Die Epoche der Aufklärung ist für genealogische Forschungen auch deshalb der zentrale Ausgangspunkt, weil sie Michel Foucault zufolge die „Beziehung zwischen Macht, Wahrheit und Subjekt“ konstituiert, die „an der Oberfläche sichtbarer Transformationen“ entsteht (Foucault 2010, S. 250). Drittens behaupte ich, dass die Urteilskraft entgegen dem apodiktischen Urteil Kants doch ‚in die Schule geht‘, nämlich nach Versailles und in die Fürstenhöfe, zu Madame d’Épinay und ihren literarischen Salons sowie in die aufgeklärten Sozietäten. An diesen historischen und epistemischen Orten – in den Soziallaboren und Diskursen der neuzeitlichen Wissenschaft, der monde, der Akademien, der Salons und geselligen Gesellschaften des aufstrebenden Bürgertums – wird erfunden, praktiziert und eingeübt, was neuzeitlich-moderne Subjektivität ausmacht.

3 Urteilskraftlinien – vom Hof zur Geselligkeitsgesellschaft

Schon ein kurzer Ritt auf dem geistigen Höhenkamm zeigt: „Mit der Neuzeit rückt die Urteilskraft des Menschen ins Zentrum des Denkens.“Footnote 12 Was sie, über alle thematischen Variationen, Erscheinungsformen und Differenzen hinweg, wesentlich auszeichnet, ist ihr Potentialcharakter. Urteilskraft wird als zugrundeliegendes Vermögen, als Teil der kognitiven Grundausstattung des neuzeitlichen Individuums entdeckt und erwirbt damit überzeitlichen (universellen) Charakter. Als Rüstzeug des bürgerlichen Subjekts für die Aufklärung von Köpfen wie die Buchführung des Homo oeconomicus erscheint sie zugleich konstitutiv und unentbehrlich – muss also umstandslos vorausgesetzt werden –, wie auch fehleranfällig, leicht zu verwirren und erziehungsbedürftig. Ihr Ursprungsproblem (zwischen Naturgabe und Kulturprodukt) wird sie nicht los. Auf der Ebene des philosophischen Diskurses hat die Urteilskraft daher stets etwas Münchhausenhaftes. Wie der talentierte Baron zieht sie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der Vorurteile und der politischen Bevormundung heraus. Als im Wortsinn grundlose allgemein-menschliche Auszeichnung gibt sie sich ferner stets die Anmutung einer göttlichen Gabe. Als Mitglied im Ensemble der höheren geistigen Vermögen rückt sie in der Aufklärung an die Stelle diviner Offenbarung und kleidet sich selbst in absolutistische Gewänder; daher die vielen zeittypischen Anspielungen auf die unfehlbare Mathematik (vgl. Arendt 1965, S. 249).Footnote 13 Der hohe Autoritätsanspruch bedeutet jedoch keinesfalls, dass es ihr an niederer Abstammung mangelt. Um Letzterer nachzugehen, muss man den archimedischen Punkt (es ist eher ein Zirkel) verlassen, auf dem ihre Verfechter stehen. Denn ihre eigentlichen Ursprünge liegen tiefer, dort, wo sie gemacht und formatiert, wo sie erfunden wird. Woher also kommt die Urteilskraft, wie wurde sie eingeübt und was bedeutet in diesem Zusammenhang überhaupt ‚erfinden‘?

In Nietzsches Genealogie ist die Erfindung zum einen Indikator für einen Bruch, zum anderen etwas, „das einen kleinen, niederen, engstirnigen, uneingestandenen Anfang besitzt. Das ist der entscheidende Aspekt der Erfindung.“ (Foucault 2003, S. 17; Hervorh. i. Orig.)Footnote 14 Wenn also beispielweise der „Wunsch, Weltzustände als Ergebnis eigenen Handelns auffassen zu können“, tatsächlich für die Neuzeit charakteristisch ist (Nollmann und Strasser 2004, S. 107), dann könnte der Bruch mit antiken und mittelalterlichen Wunschvorstellungen kaum größer sein. Und wenn zu diesem neuen Selbst- und Weltverständnis ein Vermögen wie die Urteilskraft gehört, so auch die Geschichte seiner Erfindung, Aneignung und Selbstermächtigung, die mit der Akkumulation anderer Arten von Vermögen respektive Kapitalien korreliert.Footnote 15 Gerade bei einer so wirkmächtigen Universalie wie der Urteilskraft darf man sich deshalb nicht auf Ideengeschichte oder Diskurse kaprizieren. Denn als ‚Gegenstand‘ existiert Urteilskraft immer nur innerhalb spezifischer Praktiken und durch sie, ohne unmittelbar mit ihnen zusammenzufallen; es ist kein Vermögen, sondern vielmehr eine Problemanzeige (oder/und die mögliche Lösung eines Problems) (vgl. Veyne 1992, S. 49 sowie Rabinow 2004, S. 23–29). In diesem Sinne bleibt Nietzsches Genealogie des Gewissens nicht etwa bei Augustinus oder Kant stehen, sondern führt direkt zur Strafpraxis: „[M]an sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein ‚Volk von Denkern‘ heranzuzüchten.“ (Nietzsche 1999b, S. 296) Wie also kommt man nach Nietzsche zur Raison? Unter anderem, indem sich die grausamen Bilder martialischer Körperstrafen (Steinigen, Rädern, Schinden etc.) ins Gedächtnis brennen: „Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs ‚ich will nicht‘ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben, – und wirklich! mit Hülfe dieser Art von Gedächtnis kam man endlich ‚zur Vernunft‘!“ (ebd., S. 296f.; Hervorh. i. Orig.) Aus diesem Grund – Nietzsches ätzendem Argwohn gegen alle Werkstätten, „wo man Ideale fabrizirt“ (ebd., S. 282; Hervorh. i. Orig.) – fragt die Genealogie nicht nur: Wie ist Urteilskraft möglich? Sie will auch wissen, wozu sie nötig ist. Um diese Fragen zu beantworten, ist es daher unerlässlich, den Blick von der Philosophie abzuwenden und auf zwei ausgewiesene Laboratorien der Urteilskraft zur richten, ihre eigentlichen Produktionsstätten, Umschlagplätze und Agentien.

Dass die bürgerlichen und adeligen Salons, die Tischgesellschaften, Vereine, Clubs und Logen ausgebrütet und exerziert haben, was Aufklärer in philosophische Literatur verwandelten, ist immer wieder bemerkt worden. Ihre Vorgeschichte beginnt, wie schon Hannah Arendt wusste, an einem anderen Ort: dem königlichen Hof.Footnote 16 In seiner an den politischen Umständen gescheiterten Habilitationsschrift Der höfische Mensch legte Norbert Elias bereits 1933 einen Grundstein für diese Betrachtungsweise. Neben Theoriefiguren wie dem „Königsmechanismus“ (Elias 1994, S. 41), die heute zu den „Sternstunden der Soziologie“ (Neckel et al. 2010) gezählt werden, entwickelt Elias in seiner 1969 in überarbeiteter Form veröffentlichten Studie, wie die politische Tektonik und der gesellschaftliche Verkehr des Adels am französischen Königshof und in den Hôtels de Ville die Umgangsformen, Subjektivierungsmodi und Selbstverhältnisse der Beteiligten allmählich fundamental veränderte.Footnote 17 Wer nämlich die oft feinsten Erschütterungen sozialer und politischer Balancen am Königshof wahrnehmen und seinen Platz im Gefüge der höfischen Gesellschaft behaupten wollte, musste dafür neue Sensorien und Fertigkeiten entwickeln und das eigene Verhalten den volatilen Koalitionsbildungen anpassen. Das höfische Spiel der Differenzen, dessen Einsatz der gesellschaftliche Einfluss und die Reputation der Spieler waren und dessen Risiko der soziale Tod, lässt sich in diesem Zusammenhang nicht auf die Ausbildung von Höflichkeit oder bon goût reduzieren. Gewiss sind „die Gleichheit des ‚savoir-vivre‘, die Einheit der Esprit-Kultur, die Feinheit und die reiche Durchbildung des Geschmacks“ (Elias 1994, S. 97) das Bindemittel der sozialen Figuration der monde, der ‚guten höfischen Gesellschaft‘ (vgl. ebd., S. 91). Man erringt dort aber außerdem ein viel grundlegenderes Vermögen. Zustimmend zitiert Elias die einflussreiche Encyclopédie d’Alemberts und Diderots: Durch den Verkehr in der monde „gewinnt man das Gefühl für das, was sich gehört; man lernt gute Umgangsformen zu beobachten; man erwirbt Urteilskraft; dort wird das Vermögen geboren, seine Ideen zu ordnen“ (ebd., S. 98). Am Hof, so schreibt Denis Diderot (2001, S. 174) in seinem gleichnamigen Eintrag aus der Encyclopédie, werde der Geschmack

durch den beständigen Genuß eines Überflusses an Reichtümern verfeinert. In diesem Überfluß begegnet man notwendigerweise Kunstgegenständen von höchster Vollkommenheit. Das Bewußtsein solcher Vollkommenheit erstreckt sich auch auf andere, weitaus bedeutendere Gegenstände; es durchdringt die Sprache, die Urteile, die Gefühle, das Benehmen, die Umgangsformen, den Ton, den Spott, die geistigen Leistungen, die Galanterie, die Anpassungsfähigkeit, ja sogar die Sitten. Ich möchte fast behaupten, daß es keinen Ort gibt, an dem die feine Lebensart besser bekannt ist, von den Gebildeten genauer beachtet & von den Höflingen gewandter zur Schau getragen wird.

Die Atmosphäre des Hofes ist nach Diderot (ebd., S. 174f.) jedoch zugleich

jener verführerische Lack, unter dem sich alle möglichen Dinge verbergen: der Ehrgeiz hinter dem Müßiggang, die Niedrigkeit hinter dem Stolz, der Wunsch, ohne Arbeit reich zu werden, die Abneigung gegen die Wahrheit, die Schmeichelei, der Verrat, die Perfidie, die Preisgabe jeder Verpflichtung, die Geringschätzung der Staatsbürgerpflichten, die Furcht vor der Macht des Fürsten, die Hoffnung auf seine Schwächen &c. Kurz: Die Unaufrichtigkeit mit ihrem ganzen Gefolge versteckt sich hinter dem Schein höchster Aufrichtigkeit, die Realität des Lasters hinter dem Trugbild der Tugend.

Was sich wie der Standard-Topos der Kulturkritik am süßen Leben der monde liest (vgl. Stollberg-Rilinger 2017, S. 83f.), kann auch als Einsicht in die subtile Mechanik der Urteilskräfte, ihre niederen Elemente und Ursprünge verstanden werden. Denn was der Hof unter spezifischen Randbedingungen in konzentrierter Form sichtbar macht, ist beileibe kein Sonderfall: Niemals tritt die Urteilskraft in tugendhafter, ‚vernünftiger‘ Reinform auf – als Einsatz in den Zeremonien, Zeichenspielen und Intrigen des Hofs ebenso wenig wie später in den Konversationen und Transaktionen des bürgerlichen Lebens. Stets muss sie in Form gebracht und diszipliniert, trainiert und ausgefochten, oft auch verborgen werden. So rät Baltasar Gracián in seinem Handorakel (1647), das wie dessen Vorläufer El Discreto kein reiner Fürstenspiegel mehr ist, sondern ein Vademecum für jeden Mann von Klasse und alle Lebenslagen,Footnote 18 nicht mit offenen Karten zu spielen, nie auf dieselbe Art und Weise zu verfahren und keine Schwachstellen preiszugeben (vgl. Gracián 2009, S. 13, 17f., 19, 35, 50, 70). Verschwiegenheit sei „der Stempel eines fähigen Kopfes“, und „[a]llzeit habe man den Mund voll Zucker, um seine Worte damit zu versüßen, so daß sie selbst dem Feinde wohlschmecken.“ (ebd., S. 85, S. 119) Zwar soll man Gracián zufolge nicht als „Mann von Verstellung“ gelten (ebd., S. 101), doch am Hof – und darüber hinaus – empfiehlt sich die doppelte Buchführung, gepaart mit Bescheidenheit, Mäßigung im eigenen Urteil und Affektkontrolle (vgl. ebd., S. 15, 33, 53, 96). Wer in der monde und in der Welt bestehen will, muss Gracián zufolge schlau und listig sein wie Odysseus (ebd., S. 115), Manfred Beetz (1989, S. 213) spricht von einer „adressatengerechte[n] Flexibilität und Wendigkeit, die allen alles werden kann.“ Denn die neuen Zeiten, das erfährt man gleich im ersten Aphorismus des Handorakels, erfordern mehr, „um […] mit einem einzigen Menschen fertig zu werden, als in vorigen mit einem ganzen Volke.“ (Gracián 2009, S. 13). Daher braucht es vor allem eines: Urteilskraft bzw. Geschmack, was hier noch sehr nahe beieinander liegt.

Auch bei Gracián ist die Urteilskraft eine Naturgabe, die im Laufe eines tugendhaften Lebens zu veredeln ist und deshalb erst im Alter ihre volle Blüte erreicht (vgl. Gracián 2004, S. 60f., S. 115, 2009, S. 36). Das im Geist der renaissancetypischen Apophtegmata, Epigramme und Emblemata verfasste Handorakel ist aus diesem Grund auch kein Manual im strengen Sinn. Eher handelt es sich „um eine Anthologie von praktischen Regeln für ingeniöses – d. h. nicht-deduktives – Verhalten“ (Hidalgo-Serna 1999, S. 588). Urteilskraft hat es mit Sonderfällen zu tun, die sich kaum abschließend behandeln, sondern lediglich aus unterschiedlichen Perspektiven ausleuchten lassen (vgl. Gumbrecht 2020, S. 187f.). Ähnlich dem Geschmack fragt sie danach, wie sich der Einzelfall zum großen Ganzen verhält, ob ein Einzelnes „mit allem anderen zusammenpasst, ob es ‚passend‘ ist.“ (Gadamer 1990, S. 43). Der Geschmack enthalte für Gracián „bereits einen Ansatz zu der in der geistigen Beurteilung der Dinge vollzogenen Unterscheidung“, also eine eigene – wenn auch nicht im Wortsinn begründete oder gar regelgeleitete – „Erkenntnisweise“, so Gadamer (ebd., S. 40f.; Hervorh. i. Orig.). Das heißt, er ist eine Art Kompass, ein Sinn bzw. Habitus, der treffsicherer und bestimmter ist, als es jede moralische Überzeugung je sein könnte. Das gelte bei Gracián ausdrücklich auch für die Sphäre des sozialen Verkehrs. Seinem „eigensten Wesen nach“ sei dieser Geschmack nichts Privates (ebd., S. 41); er könne „sogar der privaten Neigung des Einzelnen wie eine richterliche Instanz entgegentreten, namens einer Allgemeinheit, die er meint und vertritt.“ Für Gracián (2004, S. 59) steht daher fest: Niemand werde ohne Urteilskraft „den Ruf erlangen, für irgendeine Aufgabe der richtige Mann zu sein.“ Im Medium der Unterhaltung – die Kunst, „in der ein ganzer Mann sich produziert“ (Gracián 2009, S. 71) – ist sie der entscheidende „Schlüssel“ (Gracián 2004, S. 113), um Einfluss oder Macht zu erlangen und zu erhalten: „Scharfblick und Urteil. Wer hiemit begabt ist, bemeistert sich der Dinge, nicht sie seiner. Indem er einen Menschen sieht, versteht er ihn und beurteilt sein innerstes Wesen. Er macht feine Beobachtungen und versteht meisterhaft, das verborgenste Innere zu entziffern. Er bemerkt scharf, begreift gründlich und urteilt richtig: Alles entdeckt, sieht, faßt und versteht er.“ (Gracián 2009, S. 32) Wer Geschmack und Urteilskraft besitzt, weiß selbst feine Anspielungen zu verstehen, sich in andere Gemüter hineinzuversetzen, sich ihnen anzupassen und dabei stets vorauszudenken (vgl. ebd., S. 22, 43, 72), kurz: er „macht sich schnell zum Herrn jedes Menschen und jedes Dings“ (Gracián 2004, S. 112), sich selbst eingeschlossen. Im Vergleich zur „Menschheits-Wärme“ der Aufklärung (Gumbrecht 2020, S. 179) ist das eine ziemlich abgeklärte Sicht der Dinge. Der discreto hat „zu allen Dingen des Lebens und der Gesellschaft die rechte Freiheit des Abstandes […], so daß er bewußt und überlegen zu unterscheiden und zu wählen weiß.“ (Gadamer 1990, S. 41) Aus dieser Freiheit spricht die Notwendigkeit, die eigene Person für den Umgang mit einer neuen, komplexeren, letztlich auch weniger heilsgewissen Welt zu rüsten, in der es optimierter Lesefähigkeiten bedarf.Footnote 19 So wird nicht nur, aber zunächst vor allem am Hof die Urteilskraft zur Überlebenskompetenz, zur Fähigkeit, „in Arrangements“, in faktischen, aber auch „möglichen Machtkonstellationen“ zu denken (Martus 2015, S. 71f.; Hervorh. i. Orig.).

Indem die Höfe in der politischen Topographie der Frühen Neuzeit allmählich zu den entscheidenden Gravitationszentren politischer Macht avancierten (vgl. Reinhard 1999), leisteten sie zugleich einen entscheidenden Beitrag zur Erfindung der Urteilskraft. Nach Elias erzeugte der staatliche Zentralisationsprozess eine fragile „Figuration“ aus dem König auf der einen und dem die königliche Monopolstellung stets mehr oder weniger offen bedrohenden Schwertadel auf der anderen Seite. Um kein zweites Machtzentrum neben sich zu befördern, war der König Elias zufolge gezwungen, den Adel durch Gunstbeweise und Anerkennung an sich zu binden und zugleich durch gezielte Schaffung von Dysbalancen zwischen einzelnen Fraktionen zu destabilisieren. Der Adel wiederum blieb auf den König angewiesen, um seine Prestige- und Machtchancen zu wahren. Austariert wurde diese Figuration über ein komplexes „Zeichensystem, das kleinste atmosphärische Veränderungen präzise abzubilden erlaubte“: Die „Gesellschaft der Höfe bildete […] ein eigenes Kommunikationsnetz, das sowohl aus schriftlichen Medien als auch vor allem aus einem dichten ständigen Gesandtschaftswesen bestand“ (Stollberg-Rilinger 2017, S. 39). Vor diesem Hintergrund muss der entmachtete Adel vom Duell auf das Wortgefecht umschalten und das zeremonielle „Spiel mit den Masken“ lernen (Elias 1994, S. 357), sprich: spontane Affektentladungen vermeiden, sich in Reflexion und Verstellung üben. Auf diese Weise bringt der Hof einen neuen Subjekttypus hervor: „Der Konkurrenzkampf des höfischen Lebens zwingt so zu einer Bändigung der Affekte zu Gunsten einer genau berechneten und durchnuancierten Haltung im Verkehr mit den Menschen.“ (ebd., S. 169; Hervorh. i. Orig.) Charakteristisch für den Hofbewohner wird nach Elias „[d]as Denken vom Menschen her, allerdings jeweils vom ‚Menschen in einer Situation‘ […].“ (ebd., S. 195). Auch in der höfischen Gesellschaft sorgten spezifische Arrangements und Strukturen vom Zeremoniell bis in die Architektur hinein dafür, dass es eine mehr oder weniger berechenbare Grundlage für individuelles Verhalten gab. Und dennoch musste dieses System von den Einzelnen durchdrungen und ‚richtig‘, das heißt situationsangemessen gedeutet werden. Wer hier erfolgreich sein wollte, hatte zu lernen, dass es nicht auf die Sache selbst ankommt, sondern in erster Linie auf ihre Bedeutung in Bezug zu einer Person (vgl. ebd., S. 153). Um im Wettstreit um Prestige und Einfluss auf der Gewinnerseite zu bleiben, musste man die soziale Zeichensprache beherrschen (wen grüßt der König – nicht mehr …?). Dass bei diesem Streit kein Blut mehr floss, machte ihn keineswegs harmlos. Seine eigentliche Pointe liegt in seiner Ambivalenz und seinen Effekten. Hofzeremoniell, Müßiggang und Machtspiel erzeugten nicht nur (wie Hofkritiker anprangerten) „ein Klima der Intrige, der Verstellung und der Heuchelei“ (Stollberg-Rilinger 2017, S. 84). Sie waren nicht nur Ausdruck einer repressiven Zentralmacht, die über den „Königsmechanismus“ alle Souveränität in einer Person zu bündeln trachtete (was in der Praxis keinesfalls immer gelang); sie waren zugleich produktiv, indem sie neue Machtressourcen zur Verfügung stellten. Die höfische Gesellschaft steigerte nicht nur die „Kunst der Menschenbeobachtung“, sondern machte zugleich „eine spezifische Form der Selbstbeobachtung“ (Elias 1994, S. 159; Hervorh. i. Orig.) bzw. der Selbstreflexion nötig, die sich in Gestalt gestärkter Urteilskräfte und verbesserter Selbststeuerung zum Zweck der Statusmehrung und nicht selten auch der Selbstbereicherung ummünzen ließ. Auf diese Weise erwies sich die höfische Welt als Laboratorium für eine Gesellschaft von Individuen mit gesteigerter Innerlichkeit und der vertieften Fähigkeit, Unterschiede lesen und Unterschiede machen zu können; Individuen also, die über reflektierende Urteilskraft verfügten.

Über den Transmissionsriemen der „Urbanisierung des Adels“ (Asch 2005, S. 125) bzw. der Wechselwirkung zwischen Hof – Elias (1994, S. 62) spricht vom „Prägstock mit der weitaus größten Fernwirkung“ – und Stadt als idealtypischen Zentren neuzeitlich-moderner Vergesellschaftung fanden die neuen Subjektivierungstechniken bald Eingang in das sich formierende Bürgertum. Dieses sah sich zwar vom Souverän durch den leviathanischen Pakt aus der Sphäre des Politischen auf den Marktplatz und in die doppelte Innerlichkeit der Logen, Tisch- und Lesegesellschaften sowie des eigenen Gewissens verbannt (vgl. Koselleck 1973). Doch auch wenn die lange zu politischer Impotenz Verurteilten explizit gegen die „Verstellungs- und Täuschungsszenen der höfischen Existenz“ polemisierten und sich über deren „gestelzte Unnatur“ mokierten oder die Sittenlosigkeit und Verschwendungssucht des Adels anprangerten (Martus 2015, S. 44), lässt sich zwischen höfischer Welt und bürgerlicher Aufklärung kein schlichter Gegensatz konstruieren.Footnote 20 „Die Kunst des öffentlichen Räsonnements erlernt die bürgerliche Avantgarde des gebildeten Mittelstandes in Kommunikation mit der ‚eleganten Welt‘“, so Jürgen Habermas (2013, S. 89), „einer höfisch-adeligen Gesellschaft, die freilich, im Maße der Verselbständigung des modernen Staatsapparats gegenüber der persönlichen Sphäre des Monarchen, nun ihrerseits vom Hof sich immer mehr löste und in der Stadt ein Gegengewicht bildete.“ Wie der Hof lange Zeit als „Sinnbild von sozialen Verhältnissen überhaupt“ galt (Martus 2015, S. 70), so verschob sich das soziale Zentrum der Vergesellschaftung – noch nicht der Macht – im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich in Richtung dessen, was man die Geselligkeitsgesellschaft nennen kann. Diese erfüllte eine doppelte Funktion: Zum einen bereitete sie den Übungsplatz für die bürgerliche Subjektivität in ihren unterschiedlichen Ausprägungen. Zum anderen ließ sie sich im Sinne des aufklärerischen Fortschrittskonzepts als idealtypisches Gesellschaftsmodell mit utopischen Energien aufladen.

In den materiell-diskursiven PraktikenFootnote 21 des geselligen Beisammenseins der Gleichen, dessen Schmiermittel das Gespräch über Wissenschaft, Kunst und Literatur – gerne auch verbotene (vgl. Darnton 1995) – war und dessen Medien respektive Co-Akteure Druckerpressen, Zeitschriften, Bücher und Kaffee, wurde bürgerliche SubjektivitätFootnote 22 und das heißt auch hier Innerlichkeit bzw. Urteilskraft als Unterscheidungsvermögen erfunden, eingeübt und kultiviert.Footnote 23 Ein „besonderer Kristallisationspunkt“ (van Dülmen 1996,S. 7) dieser Praktiken waren die verschiedenen bürgerlichen Sozietäten, darunter Sprach- und Lesegesellschaften, patriotische, ökonomische und gelehrte Gesellschaften sowie die 1721 in London gegründeten Freimaurer, die sich mehr oder weniger alle in ihren grundlegenden Vereinszwecken trafen: Selbstbildung der Mitglieder, Förderung von Kunst und Wissenschaft, Gemeinnützigkeit bzw. Gesellschaftsreform und nicht zuletzt Geselligkeit und Unterhaltung (vgl. Ruppert 1984, S. 138; van Dülmen 1996, S. 7f., S. 120–125; für Europa vgl. Im Hof 1982). Wie die Cafés und Salons für die führenden Köpfe der französischen Aufklärung, die sogenannten philosophes, stellten die Sozietäten für die – freilich zahlenmäßig begrenzte und sozial nach unten hin stark abgeschottete – bürgerliche Welt ein „konstituierendes Mittel ihrer sozialen Kommunikation, Information und kollektiven Meinungsbildung“ dar (Reichardt 1978, S. 233). Eine entscheidende Rolle für den Produktivitätszuwachs bürgerlicher Urteilskräfte spielten daneben die Papierproduktion, das Druck- und Postwesen sowie der fulminante Aufschwung des Buchhandels im 18. Jahrhundert,Footnote 24 verbunden mit einer signifikanten Steigerung der Schreib- und Lesefähigkeiten, und nicht zuletzt der Ausbau der Kaffeehauskultur an den Verkehrsknoten, das heißt in den Städten.

Das Kaffeehaus war der „Typus eines sozialen Ortes, in dem sich Privatleute treffen konnten, ohne die spezifischen Sozialformen der ständischen Hierarchie beachten zu müssen, in dessen Subkultur stattdessen die innovative Lektüre und das reflektierende Gespräch verankert waren“ (Ruppert 1984, S. 117) – beflügelt vom Genuss eines stimulierenden Heißgetränks, das zu den prominentesten Agentien der Aufklärungsepoche gehört (vgl. Krieger 2011; Pendergrast 2001; Standage 2007, S. 122–157). Auf deutschem Boden eröffnete das erste Kaffeehaus in Hamburg bereits 1671, andere Städte zogen bald nach. Schnell erschienen auch erste Abhandlungen über den flüssigen Muntermacher, dessen Wirkungen auf den menschlichen Organismus kontroverse Diskussionen entfachte (vgl. Ellis (Hrsg.) 2006). Berühmte Kaffeehäuser wie das 1686 gegründete und bis heute existierende Café Procope in Paris entwickelten sich rasch zu Brennpunkten der Aufklärung. An und mit diesen Orten, oft auch in eigens angemieteten Räumen, formierte sich die Infrastruktur, mit Barad (2012) gesprochen: der Apparat der Urteilskraft, das heißt Journale, Bücher, regelgeleitete Gespräche und eben Kaffee.Footnote 25 Überall in Europa lieferte die schwarzbraune Bohne den „Treibstoff für das intellektuelle Leben“ (Pendergrast 2001, S. 29), das heißt, sie reduzierte den ubiquitären Alkoholkonsum, der nicht allein die geistige, sondern in vielen Wirtschaftszweigen auch die ökonomische Entfaltung hemmte, und verursachte einen Klimawandel hin zu gesteigerter geistiger Konzentration (vgl. Standage 2007, S. 122–125).Footnote 26 Das zeigte sich besonders in England, wo man um 1700 bereits in über 2000, des Preises für eine Tasse Kaffees wegen ‚Pfenniguniversitäten‘ genannten Kaffeehäusern guten Gesprächen und einträglichen Geschäften nachgehen konnte (vgl. Ellis 1956). Aus diesen Treffpunkten gingen schließlich die Londoner Börse, das Banker’s Clearing House, Versicherungsgesellschaften, aber auch einschlägige aufklärerische Zeitschriften (moral weeklies) wie The Tatler und The Spectator hervor (vgl. ebd., S. 31).

Die Popularisierung des Lesens wiederum hing in Deutschland nicht unwesentlich mit dem Rückgang der Quote lateinischer Druckwerke von 38 % um das Jahr 1700 auf 4 % 100 Jahre später zusammen (vgl. Ruppert 1984, S. 125f.), auch wenn auf dem Land – wie überall in Europa – noch lange Zeit die Bibel und das Erbauungsbuch dominierten. Die expansive Vergrößerung des Buchmarkts, die ohne die Erfindung der Druckerpresse und die Durchsetzung günstigen Papiers (vgl. Kurlansky 2016) ebenso undenkbar gewesen wäre wie die Erfolgsgeschichte der Moralischen Wochenschriften und Zeitungen (Der Patriot, Teutscher Merkur, The Guardian etc.), hatte neben ihrer sukzessiven Breitenwirkung auch einen unmittelbaren Nebeneffekt: Um die unüberschaubare Zahl an Neuerscheinungen zu bewältigen, entstanden Mitte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Rezensionsorgane – der Berufskritiker wurde geboren und die Professionalisierung der Urteilskraft nahm ihren Lauf (vgl. Scott 2017). Letzteres ließe sich als Indiz für Spezialisierung, ja eine allmähliche Abschwächung allgemeiner Urteilskräfte deuten. Das Gegenteil war der Fall: Neben den Akademien institutionalisierten die meisten frühen Sozietäten, insbesondere die gelehrten und literarischen Gesellschaften, den kritischen Dialog ihrer Mitglieder sogar satzungsmäßig. Ihr erklärtes Ziel war „die Förderung vernünftiger Rede und begründeter Argumentation“, unterstützt durch „gegenseitige Belehrung, Hilfe und Kritik in der Gruppe“ (van Dülmen 1996, S. 44), aber auch publizistische Aktivitäten nach außen. Alle Mitglieder hatten auf den teils wöchentlichen Versammlungen „kleine Reden, Briefe, kurze Übersetzungen, grammatische Anmerkungen, kritische Untersuchungen der Gedanken und Ausdrücke wie auch Auszüge und Beurteilungen von Büchern“ anzufertigen und dem Urteil der anderen auszusetzen. Nach einem strengen Reglement wurden Themen und Texte bis in einzelne Formulierungen hinein diskutiert. „Die eigene Vernunft und das eigene bzw. gemeinsame Urteil […] machten die Qualität des Gesprächs aus. Jeder unterwarf sich dem kritischen Urteil der anderen.“ (ebd., S. 51f.) Ähnliches galt auch für die patriotischen Gesellschaften und Freimaurerlogen, Lesezirkel und Diskussionsgemeinschaften der zweiten und dritten Phase der Aufklärungsbewegung (vgl. ebd., S. 82f., S. 88ff.). Sie alle – allen voran die Lesegesellschaften – haben „das politische und soziale Selbstbewußtsein der bürgerlichen Elite gestärkt, ihre Urteilsfähigkeit und ihren Wissensstand vermehrt“ (ebd., S. 89; vgl. auch ebd., S. 121 und Möller 1986, S. 261f.). Beredten Ausdruck fand diese Praxis in den Druckschriften der Epoche, die vom Genre der Kritik dominiert wurden: „Viele Bücher erschienen zu keinem anderen Zweck, als den Inhalt eines anderen zu bestreiten.“ (Möller 1986, S. 268f.)

Auch den Zeitgenossen selbst blieb nicht verborgen, dass der bürgerliche Diskurs ein Kulturträger und das gesellige Beisammensein eine Selbsttechnologie mit subjektivierenden Effekten war. So schreibt der Staatswissenschaftler und Publizist Friedrich Carl von Moser (1723–1798): „Der Ausschlag der Überzeugung mag ausfallen, auf welcher Seite er seye, so gewinnt die Wahrheit allemal dabei, wann Männer von gleich redlichen Absichten, obgleich verschiedenen Einsichten einerlei Materie gemeinschaftlich bearbeiten. Diese Verschiedenheit der Denkungsart ist vielmehr unentbehrlich, aus welchem ihre richtige Verhältnisse übersehen und zuverlässig beurteilt werden können.“ (zit. nach Ruppert 1984, S. 113) In diesem Zusammenhang spielten neben einem „außerordentliche[n] Interesse an politischen Journalen und gelehrten Zeitschriften“ (Möller 1986, S. 267) selbst gewöhnliche Zeitungen eine bedeutende Rolle. Auch sie halfen, neben der Vermittlung politisch relevanter Neuigkeiten und sprachlicher Kompetenzen, das Urteilsvermögen zu schärfen – die unabdingbare Voraussetzung, um (im mehrfachen Sinn des Worts) überhaupt gesellschaftsfähig zu sein (vgl. Ruppert 1984, S. 120). Im Schutzraum einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die im Privaten eingeschlossen blieb (vgl. Habermas 2013, S. 90), ließ sich schließlich hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand sogar Herrschaftskritik betreiben. So konnte das bürgerliche Subjekt in die Rolle des Richters schlüpfen und tatsächlich jenen kritischen Gerichtshof halten, der im aufklärerischen Schrifttum seit jeher emblematisch für die Vernunft stand (vgl. Habermas 1985, S. 29f.; van Dülmen 1996, S. 81, 89, 129f.) und der letztlich auch vor Königen nicht Halt machte. Zentraler Bestandteil dieser Kritik war das Postulat der Gleichheit aller Menschen, die Erfindung der ‚Menschheit‘ als historisches Kollektivsubjekt (vgl. Koselleck 1973, S. 61f.). Zusammen mit den aufklärerischen Grundgedanken der Autonomie, Kants Publizitätsprinzip (vgl. Kant 1999a) und Friedrich Schillers aufklärerisch-romantischer Anthropologie des Homo ludens (vgl. Schiller 2000) bildete es die Grundlage für eine sozialethische Utopie, „ein Wunschbild menschlichen Miteinanders“ (Mauser 1989, S. 24), in dessen Fluchtpunkt alle Menschen Brüder werden.Footnote 27 In seinem an Kant geschulten Gespür für die Formen der Vergesellschaftung hat Georg Simmel (2001, S. 180; Hervorh. i. Orig.) diese Utopie eine „Spielform der Vergesellschaftung“ genannt, das heißt eine soziale Figuration, die eine künstliche, ideale soziale Welt kreiert, deren Ziel die zweckfreie, von individuellen Interessen unberührte Gesellschaftlichkeit als solche ist (vgl. ebd., S. 183). Die Geselligkeitsgesellschaft ist nach Simmel „das Spiel, in dem man ‚so tut‘, als ob alle gleich wären, und zugleich, als ob man jeden besonders ehrte.“ (ebd., S. 184) Friedrich Schleiermacher (2000) hat ihr im Ausgang des Aufklärungszeitalters in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von 1798/99 ein artifizielles Denkmal gesetzt (vgl. dazu Därmann 2009; Gaus 1998).Footnote 28

Im Modus mutueller Einwirkung von Urteilskräften zielte die Geselligkeitsgesellschaft auf „kultivierte Performanz in einem umfassenden Sinn“ (Pott 2005, S. 78), auf Persönlichkeitsbildung und Kosmopolitismus, freilich nur für sozioökonomisch respektable Mitglieder. Als sie ihren höchsten Ausdruck erreicht hatte, entsprach diese Vorstellung den gesellschaftlichen Verhältnissen längst nicht mehr. Während sich die Individuen der Geselligkeitsgesellschaft als vernunftbegabte, kommunizierende Gattungswesen – als ‚allgemeiner Mensch‘ – begegneten (vgl. Simmel 1995, S. 51), hatte die bürgerliche Ökonomie aus ihnen Marktteilnehmer mit individuellen Einzelinteressen geformt, deren soziale Synthese nicht über die gesellige Interaktion unter Anwesenden und das freie Spiel der Differenzen, sondern über den Tausch respektive marktwirtschaftliche Vertragsverhältnisse vermittelt wurde. Die Idealvorstellung der Geselligkeitsgesellschaft blieb demgegenüber ungleichheitsblind oder gab sich bestenfalls paternalistisch, die gesellschaftlichen Unkosten des sozialen Wandels in Form von Pauperisierung bzw. Proletarisierung wurden aus ihr herausgerechnet und stürzten die bürgerliche Gesellschaft alsbald in ihre erste große soziale Krise – eine Krise, in deren Strudel auch die Urteilskraft geriet. Sowohl die bürgerlichen als auch die anti-bürgerlichen Gesellschaftsbeobachter des 19. Jahrhunderts lernten rasch, dass die Urteilskräfte im bürgerlichen Universum tatsächlich ungleich verteilt waren bzw. verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und Milieus in unterschiedlichem Maße zu- oder auch abgesprochen werden konnten. Anders formuliert: Sie entdeckten den inneren Zusammenhang von Klassenlage und geistigen Vermögen. So könne das Geselligkeitsbedürfnis des physisch und psychisch von der Maloche ruinierten Arbeiters „nur in einem Wirtshause befriedigt werden“, schreibt der junge Friedrich Engels in seiner Ethnografie des Manchesterkapitalismus. Es sei „die moralische und physische Notwendigkeit vorhanden, daß unter diesen Umständen eine sehr große Menge der Arbeiter dem Trunk verfallen muß.“ (Engels 1962, S. 331f.; Hervorh. i. Orig.) Aber das ist eine andere Geschichte.Footnote 29

4 Ausblick: Zwischen Furor und Verlust

Dass die industrielle Moderne in ihren Ursprüngen einer ebenso profunden wie universellen Obsession für die (Arbeits‑)Kraft erlag, ist hinlänglich bekannt. Das Denken des 19. Jahrhunderts imaginierte den menschlichen Körper als kraftgetriebenen Motor, der sich gleichermaßen mit ökonomischen Steigerungsimperativen wie sozialreformerischen Utopien kurzschließen ließ (so Rabinbach 2001). Der deutsche Begriff Urteilskraft hingegen führt metaphorologisch auf die falsche Spur, handelt es sich doch nicht um eine physische Kraft oder Maschine als vielmehr um ein Vermögen (gemäß Kant eine Prädikabilie, in aristotelischer Terminologie dýnamis).Footnote 30 Und doch hat die Fähigkeit zu urteilen eine Gemeinsamkeit mit der neuzeitlichen Physik. Letztere steht für den jungen Kant am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere. Denn zunächst widmete er sich vor allem naturwissenschaftlichen, genauer geologischen und astronomischen Fragen, die unter anderem in eine Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) mündeten. Wie sehr er sich später auch von seinen naturwissenschaftlichen Ursprüngen entfernte, die „Sonne am Himmel“, an der Kant wissenschaftliche Orientierung gewann und den „Aufgang“ zu seinem eigenen Philosophieren fand (Kant 1999b, S. 47), blieb ein naturwissenschaftliches Buch: Isaac Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica von 1687. In den Principia entwickelte Newton auf der Grundlage der Vorarbeiten Galileis zur Beschleunigung und Keplers zu den Planetenbewegungen eine einheitliche Theorie der Schwerkraft und formulierte die nach ihm benannten Bewegungsgesetze, Grundbausteine der klassischen Mechanik. Was dem bis heute als Wissenschaftsheroen der Epoche Verehrten (vgl. Gleick 2003) trotz seiner dezidiert philosophischen Ambitionen dabei nicht gelang, war, die Ursache jener von ihm berechenbar gemachten Schwerkraft anzugeben, die alle Körper nach dem Gesetz von Actio und Reactio (Newtons lex tertia) gegeneinander gravitieren ließ. „Die Ursache der Gravitation“, so Manfred Geier (2004, S. 65), „blieb ein metaphysisches Rätsel“, dessen Lösung Newton weder in seinen bezeichnenderweise Fragment gebliebenen anti-cartesischen Grundsatzüberlegungen zur Metaphysik der Mechanik (Newton 1988b) im Vorfeld der Principia noch ebendort gelang. „Eine theoretische Erklärung für diese Eigenschaften der Schwere habe ich aus den Naturerscheinungen noch nicht ablesen können“, so Newton (1988a, S. 230) – „und bloße Hypothesen denke ich mir nicht aus.“ Es ist dieselbe Grundlosigkeit, die auch Kants ‚Vernunftapparat‘ auszeichnet.Footnote 31 In ihm wirkt die Urteilskraft als Vermögen ohne Ursache (vgl. Wieland 2001, S. 148, S. 154). Sie ist (denk-)notwendig zur Erklärung der Funktion des Gesamtsystems, aber man kann sie – wie die Schwerkraft an ihren Erscheinungsformen – nur an dessen Äußerungen ablesen. Darüber hinaus scheint zu gelten: Entweder man hat sie oder eben nicht und leidet im letzteren Fall dann an jenem „Gebrechen“, dem „gar nicht abzuhelfen [ist]“ (KrV, B 173). In ihren Ursprüngen aber zeigt sich die Urteilskraft keinesfalls als grundlose, gar erhabene kosmische Kraft. Der Blick auf die Welt der monde und die Sozietäten offenbart: Sie musste erst einmal ‚erfunden‘ und zum Einsatz innerhalb einer spezifischen sozialen Figuration ertüchtigt werden, bevor sie von anderen (in der Regel männlichen) Akteuren und unter jeweils anderen Umständen – aufs Neue und in neuen Weisen – angeeignet, praktiziert und letztlich universalisiert werden konnte. Dabei griffen staatliche Zentralisationsprozesse, ein neues Wissenschaftsverständnis, alte Klugheitsregeln, pädagogische Ansätze, Standes‑, Klassen- und Geschlechterkämpfe, Druckerschwärze, Sklavenhandel und ‚Kaffeesucht‘ ineinander. In der Geschichte neuzeitlich-moderner Subjektivierung konstituieren diese Elemente die eigentlichen Apparate der Urteilskraft, wie sie in den höfischen Salons, den Tischgesellschaften und Sozietäten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts entstanden. Sie sind, wie Gabriel de Tarde (2015, S. 98, S. 116) früh bemerkt hat, nicht nur eine „Schule der Gesprächskunst“, sondern wahre „Fabriken der Macht“. Vor allem dort sah sich das Subjekt zu Formen der Selbstentäußerung und Selbstreflexion gezwungen, die ein gesteigertes Unterscheidungsvermögen, kognitive Standortwechsel, Geschmack, Witz und Esprit gleichermaßen erforderten wie hervorbrachten und Kritik als Vollzugsform sozialer Existenz etablierten. Ergebnis dieses experimentellen, dynamischen Apparats ist beileibe nicht die Urteilskraft als unschuldiges Produkt bürgerlicher Bildungsaspirationen, wie sie für das aufklärerische Selbstverständnis und die moderne Subjektkonstitution grundlegend wurden (vgl. Koselleck 1990, S. 16, S. 19). Und erst recht ist sie heute längst nicht mehr, was sie einmal war.

Das urteilskräftige Subjekt der Aufklärung, mit dem wir uns noch immer identifizieren, hat nicht nur eine ziemlich kurze, sondern – neben aller Glorie – auch abgründige, machtdurchwirkte Geschichte; eine Geschichte nicht nur der Emanzipation und Selbstermächtigung, sondern auch der Täuschung, der Disziplinierungen, Umwertungen und Reinigungen; eine Geschichte, die das Subjekt und seine Urteilskraft als prekäre, gefährdete, umkämpfte Variable begreifbar macht. Kaum hatte sich dieses Subjekt aus den Höfen, den Geheimgesellschaften, Salons, geselligen Zirkeln und Clubs und auch aus den Akademien und Universitäten heraus begründet und formiert, sah es sich auch schon wieder in seiner Substanz bedroht. Es ist gewiss kein Zufall, dass es das bürgerliche Schreckgespenst der Masse (vgl. Gamper 2007) selbst nicht anders zu fassen vermochte als in den Kategorien des Subjekts, nämlich als unheimliches Super-Subjekt, das die bürgerliche Subjektivität mit allen ihren konstitutiven Vermögen verschlingt wie ein schwarzes Loch alle in seiner Nähe befindliche Materie (vgl. so populär wie borniert: Le Bon 1982). Eingemeindet wurde diese ‚schwarze‘ Masse schließlich Mitte des vergangenen Jahrhunderts in Gestalt des nivellierten, an den eigenen peers und Milieus orientierten Durchschnittsmenschen der industrialisierten Massengesellschaft: Max Mustermann bzw. Jane Doe (vgl. Riesman 1965). Als hervorstechendes Merkmal dieser heute fast verblichenen Zeitgenossen galt nun ihre ausgesprochene Urteilskraftlosigkeit. Ihre Kindeskinder wiederum scheinen von einem regelrechten Furor der Urteilskraft getrieben zu sein, dessen aktuelle Erscheinungsform ein trotzig herausgeschleudertes ‚Ich meine ja nur‘ (‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!‘) und das Primat persönlicher Betroffenheit ist. Gut möglich, dass wir angesichts zunehmender artifizieller Intelligenzen bald weitere Erosionsstufen des altbekannten Subjekts beklagen werden. Oder aber wir versöhnen uns mit der genealogischen Einsicht, dass es dieses Subjekt so, wie es einst erfunden, zur Universalie deklariert und all seiner ‚niederen‘ Herkünfte und Agentien entkleidet worden ist, nie wirklich gegeben hat. Für alle Gesellschaften, die ihre soziale und politische Verfassung, ihre Grundwerte auf diesem Subjekt aufgebaut haben, war es lange Zeit unverzichtbar und wird es vielleicht auch in Zukunft noch (mehr denn je?) sein. Doch wer heute mit Verweis auf die Unvernunft populistischer Bewegungen, grassierende Verschwörungsphantasien oder die emotional aufgeheizte Debattenkultur immer noch unverdrossen auf das urteilskräftige Subjekt der Aufklärung pocht, hängt einer Vorstellung nach, die immer schon viel zu schön, zu allgemein, zu rein (und nicht zuletzt zu elitär) gewesen ist, um wirklich wahr zu sein. Sie trägt unter den gegebenen historischen, sozialen und medialen Umständen, die nichts mehr mit der gepflegten Geselligkeitsgesellschaft der Sozietäten, Clubs und Salons gemein haben, darüber hinaus sogar zur Entpolitisierung bei. Ohne Reflexion auf ihre Produktions- und Distributionsbedingungen, ihre Herkünfte, Abgründe und Agentien sind die möglichen Zukünfte der Urteilskraft nicht zu haben, von ihrem zeitgemäßen Auftritt ganz zu schweigen.