1 Einleitung

Mittlerweile haben die Schulen einige Erfahrungen mit corona-bedingten Schulschließungen und Distanzunterricht gesammelt. Auch wenn viel dazugelernt wurde, wie Schüler:innen erreicht und welche digitalen Programme und Medien eingesetzt werden können, bleiben Herausforderungen ähnlich wie im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 bestehen: Schüler:innen fehlt beim Lernen zu Hause nicht nur der unmittelbare Kontakt mit den Lehrpersonen, sondern auch die Tagesstruktur und die Schule als sozialer Ort (Holzer et al. 2021). Eltern übernehmen mit der „Privatisierung des Unterrichts“ Aufgaben der Unterstützung, Motivation und Organisation des Lernens zu Hause, häufig im Home Office und mit all den Verpflichtungen, die die längere Anwesenheit der Familienmitglieder zu Hause mit sich bringt (Steiber 2021). Lehrende und Schulleitungen müssen die Organisation und Methoden des Unterrichts auf „Distance Schooling“ umstellen und – oftmals unter der Voraussetzung fehlender technischer Ausstattung und geringer Vorbereitung – die Kommunikation zu ihren Schüler:innen aufrechterhalten (Holtgrewe et al. 2021b; Pelikan et al. 2021).

Dementsprechend groß waren und sind die Befürchtungen, dass in Phasen des Distance Schoolings insgesamt geringere Lernerfolge erzielt werden und es im Zuge der vorübergehenden Verlagerung des Lernortes in das häusliche Umfeld zu einer Verschärfung bestehender Bildungsungleichheiten kommt (Kocher und Steiner 2020; Schleicher 2020; Wößmann 2020). Binnen kurzer Zeit ist eine Fülle von Studien und Analysen entstanden, die sich mit den Herausforderungen und den Folgen von Distance Learning bzw. Distance SchoolingFootnote 1 auseinandersetzen und dabei unterschiedliche Perspektiven in den Fokus nehmen.

Dieser Beitrag wirft einen Blick zurück auf die erste Phase der corona-bedingten Schulschließungen im Frühling 2020, die mangels vorbereiteter Konzepte durch viel individuellen Spielraum für die Unterrichtsgestaltung, durch ein Ausprobieren unterschiedlicher Konzepte und Reflexion neuer Ansätze geprägt war. Die Analyse dieser Erfahrungen knüpft an vorliegende Ergebnisse zur Lehr- und Lernsituation unter Pandemiebedingungen an und rückt dabei die Gruppe von Schüler:innen in den Fokus, die im Hinblick auf Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern, materielle Verhältnisse, technische Ausstattung und private Wohnverhältnisse nachteilige Voraussetzungen für das Lernen zu Hause mitbringen.

Dass den Konzepten und dem Engagement der Lehrenden für die gelungene Umsetzung von Distance Schooling eine zentrale Rolle zukommt, steht außer Frage: Die Qualität des Unterrichts hängt (auch) unter Pandemiebedingungen in entscheidendem Maße davon ab, welche Unterrichtsinhalte und -methoden gewählt und wie diese umgesetzt und vermittelt werden (Klieme 2020; Schönbächler et al. 2020). Dementsprechend wichtig erscheint es, die Phasen der Schulschließungen und deren Folgen aus der Sicht von Lehrenden zu reflektieren und zu analysieren. Für den vorliegenden Beitrag wurden die Einschätzungen und Erfahrungen dieser zentralen Akteur:innengruppe mittels qualitativer Interviews erhoben, um ihre Strategien für die Gestaltung des Distanzunterrichts zu reflektieren und daraus Lerneffekte für die Zukunft abzuleiten. Die forschungsleitende Fragestellung lautet, wie und mit welchen pädagogischen Strategien es gelingen kann, Benachteiligungen und Unterschiede innerhalb von Klassen zu kompensieren und welche Rollen Lehrpersonen unter den veränderten Rahmenbedingungen des Unterrichts auf Distanz einnehmen.

Mit den Mittelschulen (MS) und den Unterstufen der allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) in Wien betrachten wir die Umsetzung des Distanzunterrichts an zwei Schultypen, die unterschiedliche Lernkonzepte aufweisen und in der Bundeshauptstadt durch ein hohes Ausmaß an sozioökonomischer Segregation geprägt sind. Die Mittelschulen sind charakterisiert durch höhere Anteile benachteiligter Schüler:innen und durch pädagogische Konzepte, mit denen der Heterogenität der Schüler:innen besser entsprochen werden soll: Dazu zählen Unterrichtselemente wie eine Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts, Teamteaching und Jahrgangsteams, ergänzende differenzierte Leistungsbeurteilung und Schwerpunktsetzungen auf sozialem Lernen (Eder et al. 2015). Dementsprechend sind die Voraussetzungen für die Umsetzung von Distance Schooling an AHS und MS unterschiedlich und scheint es zielführend, beide Kontexte zu berücksichtigen.

Die qualitative Erhebung, die diesem Beitrag zugrunde liegt, erfolgte im Rahmen einer von WWTF, Universität Innsbruck und BMBWF finanzierten IHS-Studie „Lernen und Lehren unter Pandemiebedingungen: Was tun, damit aus der Gesundheits- keine Bildungskrise wird?“. Neben den Interviews mit Lehrpersonen wurden in diesem Projekt auch Eltern und Schüler:innen interviewt und eine österreichweite Online-Befragung durchgeführt, an der sich in zwei Befragungswellen im Mai und November 2020 insgesamt mehr als 6000 Lehrende beteiligten (Steiner et al. 2021).Footnote 2 Die Ergebnisse der ersten Online-Erhebung waren thesenbildend für den Interviewleitfaden der qualitativen Erhebung und werden im folgenden Kapitel herangezogen, um die Aussagen unserer Interviewpersonen im Kontext der Einschätzungen einer großen Gruppe befragter Lehrender einzuordnen.

2 Theoretischer Hintergrund und Stand der Forschung

Schon die Grundvoraussetzung, dass die Lehrpersonen überhaupt mit ihren Schüler:innen in Kontakt treten können, um Aufgaben zu übermitteln und Lerninhalte zu vermitteln, war während der Schulschließungen angesichts teilweise mangelnder digitaler Ausstattung wie auch unzureichender digitaler Kompetenzen keine Selbstverständlichkeit (Samuelsson und Olsson 2014; OECD 2015; Huber und Helm 2020; Pessl und Steiner 2021). Noch größere Herausforderungen stellten aus der Sicht der Lehrenden, die in der IHS-Onlineerhebung befragt wurden, die Tagesstruktur, mangelnde Motivation und Ablenkungen vom Lernen dar (Steiner et al. 2021).Footnote 3 Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen zahlreicher Studien, denen zufolge das Lernen in Phasen von Schulschließungen ein erhöhtes Maß an Selbstorganisation und (Eigen‑)Motivation vonseiten der Schüler:innen erfordert (Fischer et al. 2020; Huber et al. 2020; Pelikan et al. 2021).

Die Ausnahmesituation, in der die Lernerfolge in bisher ungekanntem Ausmaß vom Eigenengagement der Schüler:innen und den privaten Unterstützungsmöglichkeiten zu Hause abhängen, hat die wissenschaftliche Diskussion über die Folgen der Krise für die Lernleistungen und Kompetenzen der Schüler:innen angeregt (Hammerstein et al. 2021; Zierer 2021). In internationalen wie auch nationalen Studien werden Befunde und Prognosen diskutiert, nach denen in diesen Phasen geringere Lernleistungen erzielt und bestehende Unterschiede zwischen Schüler:innen verstärkt werden (Agostinelli et al. 2020; Huebener und Schmitz 2020; Schleicher 2020). Deutliche Kompetenzverluste und eine Verschärfung bestehender Ungleichheiten stellten nach den ersten Lockdowns beispielsweise die Studien von Engzell et al. (2020) in den Niederlanden und Maldonado und de Witte (2020) in Belgien fest, in denen jeweils die Leistungen von Schüler:innen der Primarstufen untersucht wurden. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Studien, die keine solchen Entwicklungen beobachten (Hammerstein et al. 2021; Helm et al. 2021a).

Die empirischen Befunde zur Entwicklung der Bildungsungleichheit durch die Corona-Schulschließungen sind somit keineswegs eindeutig. Festgehalten werden kann aber jedenfalls die Befürchtung, dass sozial benachteiligte Schüler:innen in sozial deprivierter Lage in Phasen von Schulschließungen (noch) weiter zurückzufallen drohen (Frohn 2020). Dass die Lehrenden selbst diese Sorge teilen, bestätigte sich in der IHS-Onlinebefragung: Befürchtungen, dass sich die Kompetenzniveaus der Schüler:innen infolge der Schulschließungen verschlechtern, fallen im Hinblick auf „Benachteiligte“ erheblich größer aus als für die Gesamtheit der Schüler:innen. Es muss aber genauer differenziert werden, wie sich Bildungsungleichheiten darstellen, wieweit die altbekannten Muster weiterbestehen, oder aber auch neue Heterogenitäten entstehen, wenn Schüler:innen, die im Normalunterricht als nicht benachteiligt gelten, durch Home Schooling zurückgelassen werden oder durch soziale Herkunft benachteiligte Schüler:innen bessere Chancen erlangen.

Angesichts der skizzierten Herausforderungen sind Lehrende in Phasen von Schulschließungen über ihr Rollenverständnis im Normalbetrieb hinausgehend gefordert, vielfältige Unterstützung zu leisten und potenzielle Benachteiligungen aufgrund mangelnder privater Ressourcen zu kompensieren. In der IHS-Onlineerhebung kommt dies beispielsweise darin zum Ausdruck, dass die Anteile der Lehrenden, die angeben, in Phasen der Schulschließungen bei Arbeitsaufträgen wie auch persönlichen Problemen individuelle Unterstützung zu leisten, hoch sind und dass die überwiegende Mehrheit (1. Welle: 70 %, 2. Welle: 79 %) ihren Stundenaufwand während der Schulschließungen höher einschätzt als im Normalbetrieb (Steiner et al. 2021). Neben dem höheren Zeitaufwand bedeuteten die Schulschließungen auch für die Lehrpersonen eine neue Arbeitssituation, in der viele auf ihre private technische Ausstattung, familiäre Rahmenbedingungen oder individuelle Lösungen im Umgang mit neuen Methoden und Unterrichtszielen zurückgeworfen und zudem persönlich belastet waren, wenn Unterrichtspraktiken auf Distanz scheiterten oder Schüler:innen nicht erreicht werden konnten (König et al. 2020; Holtgrewe et al. 2021a).

Die Lehr-Lern-Arrangements unter Corona-Bedingungen sind Gegenstand einer wachsenden Anzahl von Studien (Helm et al. 2021b). Anhand der bisher gewonnenen Erkenntnisse wird deutlich, dass Phasen von Schulschließungen erhebliche Adaptierungen verlangen, die alle Dimensionen der Unterrichtsgestaltung betreffen: Dazu zählen die Struktur („Klassenführung“) ebenso wie die Beziehungen zwischen Lehrenden und Schüler:innen und die inhaltliche Ebene einer „kognitiven Aktivierung“ (Klieme 2020). Neben technischer Ausstattung und Nutzungskompetenzen digitaler Medien erwies sich die Strukturierung des Lerntages als wichtige Voraussetzung dafür, dass Schüler:innen das Lernen zu Hause erfolgreich umsetzen können: Dies wird in einigen Studien mit Begriffen des selbstgesteuerten oder selbstregulierten Lernens diskutiert (Fischer et al. 2020; Pelikan et al. 2021) – ein Konzept, das schon vor der Pandemie im Umgang mit Diversität zunehmende Bedeutung gewonnen hat, das zugleich Voraussetzung, Methode und Ziel darstellt und mit hohen Anforderungen an die Lernenden einhergeht (Braunsteiner et al. 2019).

Über die beobachtbaren Charakteristika des Unterrichts hinausgehend wird argumentiert, dass für den gelungenen Distanzunterricht auch die sogenannten „Tiefenstrukturen“ entscheidend sind (Voss und Wittwer 2020). So kommen etwa Schönbächler et al. (2020) zum Schluss, dass die Selbstdisziplin und Lernmotivation der Schüler:innen in Zeiten von Schulschließungen in erster Linie durch engmaschige Beziehungsarbeit und Kommunikation aufrechtzuhalten sei. Frohn (2020) betont die Notwendigkeit einer hohen Reflexivität aufseiten der Lehrer:innen, um die schüler:innenseitigen Rahmenbedingungen des Lernens zu berücksichtigen und Ungleichheiten in Zeiten von Schulschließungen auszugleichen. Solche Ergebnisse zeigen eine hohe Übereinstimmung mit positiven Einflussfaktoren auf den Lernerfolg in den Metastudien von Hattie (2009), der den Haltungen der Lehrpersonen wie auch deren Rückmeldungen und Interaktion mit den Lernenden eine entscheidende Rolle zuschreibt.

Ohne an dieser Stelle näher auf die Vor- und Nachteile pädagogischer Konzepte und fachdidaktische Diskurse einzugehen, kann für das Erkenntnisinteresse unseres Beitrags mitgenommen werden, dass eine Analyse des Umgangs mit Benachteiligten nicht nur die inhaltlichen, sondern auch die methodischen und zwischenmenschlichen Aspekte der Unterrichtsgestaltung berücksichtigen muss. Der Anspruch unserer empirischen Erhebung ist es, den Perspektiven der Lehrpersonen mit einer großen Offenheit zu begegnen und uns an den Relevanzdimensionen unserer Interviewpartner:innen zu orientieren, um ein ganzheitliches Verständnis ihrer Unterrichtsstrategien zu entwickeln.

3 Methode

Um ein Verständnis für die Erfahrungen von Lehrenden und deren Strategien im Umgang mit Benachteiligten zu gewinnen, wurden im Sommer 2020 leitfadengestützte Interviews mit neun MS- und fünf AHS-Lehrpersonen geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Gespräche reflektieren die Phase der Schulschließungen zwischen Ostern und Mai 2020 und wurden zu einem Zeitpunkt geführt, an dem die Schüler:innen bereits wieder im Schichtbetrieb in die Schulen zurückgekehrt waren.

Die Rekrutierung der Interviewpersonen erfolgte im Rahmen des bereits genannten Projekts „Lernen und Lehren unter Pandemiebedingungen“ und erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität für die Erfahrungen aller Lehrpersonen. Zum Interview eingeladen wurden Lehrende der Sekundarstufe 1, die sich im Zuge der ersten Online-Befragungswelle für die weitere Beteiligung an der Studie bereiterklärt hatten und in den Sommerferien 2020 für ein Gespräch zur Verfügung standen. Es ist deshalb von einer Verzerrung des Samples zugunsten überdurchschnittlich engagierter Lehrpersonen auszugehen. Dies war durchaus beabsichtigt, um aus positiven Beispielen für die Umsetzung von Distance Schooling zu lernen. Mit dem Ziel, Lehrendenperspektiven mit möglichst heterogenen Unterrichtsstrategien zu erfassen, wurden die Ergebnisse der Online-Erhebung über Unterrichtsstil (Lehrer:innen- bzw. Schüler:innen-zentrierte Pädagogik) und Einschätzungen zur Kompetenzentwicklung der Benachteiligten und der Gesamteinschätzung des Distanzunterrichts als Auswahlkritierien herangezogen.

Die Interviews wurden face-to-face geführt und dauerten durchschnittlich rund 60 min. Die Grundlage für die Gespräche bildete ein Leitfaden mit Fragestellungen zum pädagogisch-didaktischen Konzept und der Gestaltung des Unterrichts, zum Umgang mit benachteiligten Schüler:innen innerhalb der Klassen und zu den Rahmenbedingungen am Schulstandort. Bei der flexiblen Handhabung des Leitfadens wurde Wert darauf gelegt, auf individuelle Erfahrungen der Interviewpartner:innen einzugehen und wahrgenommene Erfolge und Schwierigkeiten zu reflektieren. Alle Interviews wurden aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert oder in Form detaillierter Protokolle verschriftlicht.

Das umfangreiche Interviewmaterial wurde einer inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018) unterzogen, um die vielfältigen Strategien und Einzelerfahrungen der Interviewpartner:innen zu ordnen und Erkenntnisse über den Umgang mit Benachteiligten zu gewinnen. Ausgehend von unseren zentralen Fragestellungen wurden zunächst breite Hauptkategorien definiert und diese anhand des Materials weiter ausdifferenziert. So entstand ein Kategoriensystem mit 13 Kategorien, die verschiedene Aspekte der Unterrichtsgestaltung (bspw. die Organisation des Unterrichts, die Definition von Lernzielen und die Bewertungsgrundlagen), spezifische Erfahrungen im Umgang mit Unterschieden innerhalb der Klassen sowie relevante Rahmenbedingungen und Voraussetzungen auf individueller, schulischer und struktureller Ebene umfassten. Im Zuge des computergestützten Codierverfahrens (Software MaxQDA) wurden diesen Kategorien insgesamt 690 Textstellen zugeordnet.Footnote 4 Entlang der thematischen Kategorien wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Strategien der Unterrichtsgestaltung und deren wahrgenommenen Erfolgen und Herausforderungen herausgearbeitet und dabei auch berücksichtigt, an welchen Schultypen die Lehrenden unterrichten.

Die Vorbereitung und Umsetzung der Interviews wie auch der Kodier- und Analyseprozess erfolgten in enger Abstimmung der beiden Autorinnen dieses Beitrags. Die Erstellung des Interviewleitfadens, die Entwicklung des Kategorienschemas und die Ableitung der Schlussfolgerungen aus den Interviews wurden im Zuge mehrerer Reflexionsschleifen mit dem gesamten Team des übergeordneten IHS-Projekts umgesetzt, um die Intersubjektivität der Ergebnisse zu gewährleisten.

4 Ergebnisse der Interviews

Gegenstand dieses Kapitels sind die Erkenntnisse über verschiedene Strategien des Distance Schooling (4.1), die dabei verfolgten Ansätze zur Förderung Benachteiligter (4.2) und die beobachtete Entwicklung der Kompetenzen der Schüler:innen (4.3). Die Ergebnisse beruhen auf den Aussagen der Lehrenden, die im Sommer 2020 mit einigem zeitlichen Abstand auf ihre Erfahrungen im Distance Schooling zurückblickten und diese reflektierten. Diese Perspektive lässt keine gesicherten Aussagen über die tatsächlich angewandten Konzepte, deren Erfolge und Misserfolge zu, ermöglicht hingegen ein besseres Verständnis der Intentionen und pädagogischen Überlegungen, die der Gestaltung des Distance Schooling zugrunde lagen.

4.1 Unterrichtsstrategien im Distanzunterricht

Das Spektrum der in den Interviews geschilderten Ansätze und Strategien, Lerninhalte zu vermitteln und die Schüler:innen beim Lernen auf Distanz zu unterstützen, ist breit. Diese Vielfalt kann als Ausdruck dessen interpretiert werden, dass die Lehrkräfte während des Lockdowns große individuelle Freiheit sehen und weitgehend in Eigenregie entscheiden konnten oder mussten, wie sie den Distanzunterricht gestalten. Als ein gemeinsamer Nenner erweist sich der Einsatz verschiedenster digitaler Technologien, mithilfe derer unterschiedliche pädagogische Zielsetzungen verfolgt werden. In der Analyse wurden aus den vielfältigen Strategien und Einzelerfahrungen sechs zentrale pädagogisch-didaktische Zielsetzungen bzw. Lerneffekte abgeleitet, die alle Aspekte der Unterrichtsgestaltung betreffen: von der Organisation über die Definition von Lerninhalten und -zielen bis hin zur Bewertung der Lernerfolge.

4.1.1 Struktur schaffen und Selbstorganisation unterstützen

Das Ausmaß, in dem die Lehrkräfte während der Schulschließungen in die zeitliche Struktur und Planung des Lernens zu Hause eingriffen, variiert auf einem Spektrum von engen Vorgaben bis hin zu großem Freiraum. Die einen verfolgten das Ziel einer möglichst engmaschigen Struktur, indem sie kleinere Aufgabenpakete übermittelten, kurze Deadlines setzten und/oder fixe Online-Präsenzzeiten festlegten, um die Schüler:innen bei der Planung ihres Lerntages zu unterstützen. Auf der anderen Seite des Spektrums steht eine Form der Unterrichtsorganisation, die auf flexible Zeiteinteilung setzte und dabei mehr Eigenverantwortung und Selbstständigkeit vonseiten der Schüler:innen forderte. Die Vorteile dieses Vorgehens werden von den Lehrpersonen insbesondere mit einer größeren Zeitautonomie der Schüler:innen und der Förderung von deren Fähigkeiten des selbstorganisierten Lernens begründet. Die Wahl der entsprechenden Strategie zeigt sich davon beeinflusst, wie die Lehrenden die Kompetenzen und Möglichkeiten ihrer Schüler:innen einschätzen. Von unseren Interviewpartner:innen betonen die Lehrpersonen der MS stärker die Notwendigkeit einer Vorgabe von Strukturen, wohingegen jene der AHS stärker die eigenverantwortliche Lernplanung aufseiten der Schüler:innen hervorheben.

4.1.2 Aufgaben einfach und übersichtlich zugänglich machen

Eine geteilte Erfahrung unserer Interviewpartner:innen lautet, dass der Zugang zu Lernmaterialien und Aufgabenstellungen so einfach wie möglich sein müsse, damit die vielfältigen technischen Möglichkeiten und Kommunikationskanäle, die bei der Gestaltung des Distance Schooling zum Einsatz kommen, nicht zur Überforderung von Schüler:innen und deren Eltern führen. Um die technischen Möglichkeiten erfolgreich einzusetzen, seien Übersichtlichkeit, Transparenz und ein niederschwelliger Zugang gefragt. Als entscheidendes Kriterium für erfolgreiches Distance Schooling wird in diesem Zusammenhang die Abstimmung innerhalb des Kollegiums angeführt. Sowohl im Hinblick auf die Kommunikationskanäle und Plattformen als auch beim Arbeitspensum gelten parallellaufende Strategien und Alleingänge als kontraproduktiv. Vielmehr brauche es klare und einheitliche Rahmenbedingungen, damit die Schüler:innen den Überblick behalten und das Lernen zu Hause selbstständig umsetzen können. Einheitliche Vorgaben von Schulen können dies fördern, sind aber nicht notwendig, wenn sie durch andere Strategien wie beispielsweise die selbst initiierte Kooperation zwischen Lehrenden, die Koordination durch Klassenvorständ:innen und die gemeinsame Nutzung von Plattformen ersetzt werden. Für manche MS-Lehrende unseres Samples ging der Anspruch eines niederschwelligen Zugangs zu den Lernplattformen und Kommunikationskanälen so weit, dass für die Bedienung von Lernplattformen ein Smartphone ausreichen müsse, dass also für die Erledigung der Aufgaben kein Computer erforderlich sein dürfe. Das kann als Anzeichen dafür gewertet werden, dass die (digitalen) Voraussetzungen der Schüler:innen an den MS tendenziell geringer eingeschätzt werden als an den AHS.

4.1.3 Lernziele und Inhalte an die Ausnahmesituation anpassen

Die Schilderungen unserer Interviewpartner:innen eint eine grundsätzlich positiv wahrgenommene Erfahrung, in der Ausnahmesituation der Schulschließungen weniger von den Vorgaben des Lehrplans getrieben worden zu sein und mehr Spielraum für die inhaltliche Gestaltung gehabt zu haben. Dies manifestierte sich in einer großen Bereitschaft, vom Lehrplan abzuweichen. Einerseits nutzte man die Zeit, um verstärkt bekannte Inhalte zu festigen. Andererseits wurden möglichst interessante und tagesaktuelle Themen ausgewählt und mitunter auch – beispielsweise in Form von Lerntagebüchern – die persönliche Situation reflektiert. Das wird damit begründet, dass es in der belastenden Phase des Lockdowns nicht so sehr auf den Lernstoff ankomme, sondern darauf, die Schüler:innen überhaupt zum Lernen zu motivieren. Werden die Aussagen der AHS- und der MS-Lehrenden unseres Samples einander gegenübergestellt, dann entsteht der Eindruck, dass jene der Mittelschulen stärker auf die Wiederholung bekannter Inhalte und die Methodenvielfalt bis hin zu „Spaßaufgaben“ setzten als jene der AHS. Dass dies in den Phasen der Schulschließungen zentral war, wird von den MS-Interviewpartner:innen damit begründet, dass man Erfolgserlebnisse ermöglichen und die Lernmotivation fördern wollte, wohingegen Lehrende der AHS in den Interviews verstärkt (auch) das Anliegen der Vermittlung von (neuen) Lerninhalten zum Ausdruck bringen.

4.1.4 Arbeitsaufträge vielseitig, ansprechend und verständlich gestalten

Nicht nur die Auswahl von Themen und Lerninhalten, sondern auch die methodische Umsetzung des Distance Schooling waren in Zeiten der Schulschließungen nach Einschätzung der Lehrpersonen von der Zielsetzung geleitet, den Unterricht abwechslungsreich und interessant zu gestalten und die Lernmotivation der Schüler:innen zu fördern. Die Schilderungen der Lehrenden zeigen, dass während der Schulschließungen vielfältige neue Methoden und Tools zum Einsatz kamen. „Klassische“ Arbeitsaufträge wie Übungsaufgaben im Schulbuch, Arbeitsblätter und das Verfassen von Aufsätzen wurden dabei um vielseitige audiovisuelle Inhalte und digitale Medien ergänzt: Das Spektrum reicht vom Üben mit Online-Quizzes und Apps über die Vermittlung von Inhalten in selbst erstellten Video- und Tonaufnahmen bis hin zu Aufgabenstellungen an die Schüler:innen, selbst Videos zu drehen oder Blogbeiträge zu verfassen. Dieser „Digitalisierungsboost“ und die Bereicherung des (Distanz‑)Unterrichts mittels digitaler Medien wird in den Interviews als positiver Aspekt der Corona-bedingten Schulschließungen hervorgehoben. Als grundlegendster Anspruch erweist sich bei aller Kreativität die einfache und verständliche Formulierung der Arbeitsaufträge – für viele Lehrpersonen ein Lernprozess.

So [im Distance Schooling, Anm.] fragen manche Kinder nicht, erledigen die Aufgabe vielleicht völlig falsch, machen viel zu viel, ja, oder fragen zehnmal per Mail nach oder sagen, bitte rufen Sie mich an, ich kenne mich nicht aus. Das heißt, es war ganz wichtig, klare Aufgaben zu stellen, dass möglichst wenig Unklarheiten entstehen (Aussage einer MS-Lehrperson).

Vielfach geäußert wird in diesem Zusammenhang eine Präferenz für kurze, bekannte Übungsformate, um den Schüler:innen die eigenständige Bearbeitung der Aufgaben zu erleichtern wie auch den Korrekturaufwand geringer zu halten.

4.1.5 Bewertungskriterien, die Leistungsanstrengungen honorieren

Die in den Interviews erhobenen Erfahrungen und Strategien legen nahe, dass sich im Distance Schooling parallel zu den Lernzielen und der Aufgabengestaltung auch die Bewertungskriterien verändern: Eine zentrale Argumentation der Lehrenden lautet, dass es gerade in der herausfordernden Phase des Lockdowns wichtig sei, Leistungen nicht einfach als „richtig“ oder „falsch“ zu beurteilen, sondern auch die Leistungsanstrengungen der Schüler:innen zu honorieren. Dies wird damit begründet, dass Corona-bedingte Lockdowns für alle Beteiligten eine belastende Phase darstellen und der Lernerfolg der Schüler:innen in Phasen des Distance Schooling in einem entscheidenden Maße von der technischen Ausstattung und dem Ausmaß der Unterstützung im familiären Umfeld abhängig seien. Die Vorteile von Selbstkontrolle kürzerer Übungsaufgabenstellungen sehen die Lehrpersonen nicht nur in einer Reduktion des eigenen Korrekturaufwands, sondern auch darin, dass man damit die Selbstständigkeit und Lernmotivation der Schüler:innen fördere. Zugleich wurde großer Wert auf individuelle Rückmeldungen und Feedback gelegt, welche sich als wesentliche Voraussetzungen für die Lernmotivation der Schüler:innen herauskristallisierten.

4.1.6 Kommunikation aufrechterhalten, Verbindlichkeit herstellen, Unterstützung signalisieren

Mit dem Ziel, eine gewisse Verbindlichkeit herzustellen, bei Fragen zu unterstützen und den Kontakt aufrechtzuhalten, kamen während der Schulschließungen neben Online-Präsenzeinheiten und an den gesamten Klassenverband gerichteten Mitteilungen auch vielfältige individuelle Kommunikationsstrategien über Chats, E‑Mail und Telefon zum Einsatz. Die Lerneffekte unserer Interviewpartner:innen stimmen darin überein, dass die persönliche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ein Schlüssel für verbindliche Absprachen und gelungenes Distance Schooling darstellen.

… sobald dieser persönliche Kontakt ist, war das dann auch viel leichter und das ist halt was, was man nicht außen vor lassen kann über den digitalen Unterricht. Es braucht immer eine Bezugsperson, weil Unterrichten ist Beziehungsarbeit … (Aussage einer MS-Lehrperson)

Die Analyse der Interviews kommt zum Ergebnis, dass sich mit einer intensivierten individuellen Kommunikation und der im Vergleich zum Normalbetrieb (noch) größeren Bedeutung der persönlichen Beziehungen zu den Schüler:innen das Rollenverständnis der Lehrpersonen verschob: Sie nahmen sich in dieser Phase verstärkt als Ansprechpartner:innen und Motivator:innen wahr, wohingegen die Rolle der traditionellen Wissensvermittlung ein Stück weit in den Hintergrund rückte. Dies wird vielfach als positive Erfahrung des Distanzunterrichts geschildert, stellte aus Sicht der Lehrenden jedoch zugleich einen der herausforderndsten Aspekte der Schulschließungen dar. Problematisiert werden neben einem erhöhten Arbeitspensum und einer Ausweitung der Arbeitszeiten zugunsten der Erreichbarkeit für Schüler:innen auch die Schwierigkeit einer persönlichen Abgrenzung, wenn Schüler:innen unter Belastungen im familiären Umfeld leiden oder Strategien der Kontaktaufnahme scheitern.

4.2 Schwerpunktsetzungen bei der Förderung von Benachteiligten

Aus den in den Interviews geschilderten Erfahrungen und Strategien im Umgang mit Unterschieden innerhalb der Klassen lassen sich zwei unterschiedliche Schwerpunktsetzungen ableiten, die grundsätzlich komplementär wirken, aber je nach Wahrnehmung von Benachteiligungen und der Definition der eigenen Rolle als Lehrperson unterschiedlich eingesetzt werden:

4.2.1 Förderung der Selbstständigkeit und Motivation für alle

Auf der einen Seite schildern Lehrende den Versuch, den Unterricht insgesamt so zu gestalten, dass das Lernen zu Hause möglichst wenig an (technischer) Ausstattung, Vorkenntnissen und elterlicher Unterstützung erfordert. Dabei wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die selbstständige Planung und Umsetzung des Lernens zu Hause – wie im vorigen Kapitel erläutert wurde – mit hohen Ansprüchen an die kognitiven Fähigkeiten und Ressourcen der Lernenden einhergeht. So wurde etwa mithilfe tendenziell kürzerer Deadlines und digitaler Präsenzzeiten versucht, gewisse Routinen zu schaffen und Schüler:innen bei der Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur zu unterstützen. Des Weiteren wurde auf niederschwellig zugängliche Kommunikationskanäle, einfache Formulierungen und kurze, bekannte Übungsformate gesetzt, um die Anforderungen an die (technische) Ausstattung und Unterstützung zu Hause geringzuhalten. Auch ein Fokus auf die Festigung bekannter Stoffinhalte und die Honorierung von Leistungsanstrengungen anstelle einer Bewertung nach „richtig“ oder „falsch“ sind dieser Schwerpunktsetzung zuzuordnen. Werden all diese Anpassungen konsequent umgesetzt, dann kommt dies insbesondere jenen Schüler:innen zugute, die im Normalbetrieb leistungsschwächer sind und/oder die zu Hause nachteilige Voraussetzungen für das Distance Schooling vorfinden. Damit verringert sich das Risiko, dass einzelne Schüler:innen den Anschluss verlieren und Unterschiede innerhalb der Klasse wachsen. Dass diese Schwerpunktsetzung jedoch auch eine gewisse Nivellierung nach unten bedeutet, wird im folgenden Abschnitt zu den Kompetenzentwicklungen der Schüler:innen diskutiert.

In der Gruppe unserer Interviewpersonen lässt sich die Strategie des insgesamt „niederschwelligen“ Unterrichts, der wenig an Ressourcen und elterlicher Unterstützung voraussetzt, eher den Lehrenden der MS zuordnen. Diese These kann damit begründet werden, dass MS-Lehrpersonen im Vergleich zu jenen an den AHS größere Anteile ihrer Schüler:innen als benachteiligt wahrnehmen und von insgesamt schlechteren (beispielsweise digitalen) Voraussetzungen für die Umsetzung des Lernens zu Hause ausgehen. Im Unterschied dazu wird in den Interviews mit AHS-Lehrenden stärker auf eine Verantwortung der Eltern hingewiesen, ihre Kinder zu Hause zu motivieren, Tagesstruktur zu schaffen und gegebenenfalls auch inhaltlich weiterzuhelfen.

4.2.2 Gezielte individuelle Förderung und Unterstützung

Eine zweite Schwerpunktsetzung im Umgang mit Unterschieden innerhalb der Klassen kann unter dem Begriff der gezielten Förderung einzelner Schüler:innen zusammengefasst werden. Für viele unserer Interviewpartner:innen erwies sich die individuelle Kontaktaufnahme zu den Schüler:innen als einzige Möglichkeit, Verbindlichkeit herzustellen und Schüler:innen (zurück) ins Boot zu holen, wenn diese schlecht erreicht wurden oder ihre Arbeitsaufträge nicht erledigten. Häufig wurde in diesem Zusammenhang auch das familiäre Umfeld benachteiligter Schüler:innen miteinbezogen, also zum Beispiel der Kontakt zu Eltern gesucht, wenn die direkte Kontaktaufnahme mit Schüler:innen scheiterte. Das Spektrum der von unseren Interviewpartner:innen beobachteten Effekte dieser Bemühungen ist breit: Berichtet werden sowohl positive Erfahrungen eines Aufbaus intensiver persönlicher Beziehungen und Praktiken des Coachings bis hin zu negativen „Extremfällen“, die sich der Kontaktaufnahme vollends verweigerten.

Der individuelle Kontakt zu benachteiligten Schüler:innen wird in den Interviews unisono als wichtige Strategie genannt, die jedoch in unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit umgesetzt wurde. Einmal mehr deuten sich dabei innerhalb der Gruppe unserer Interviewpartner:innen Unterschiede nach Schultypen an: Auf Basis der Interviewaussagen kann die These aufgestellt werden, dass Lehrpersonen der MS besonders viel Zeit und Engagement in die Unterstützung einzelner Schüler:innen investierten und der persönlichen Beziehung zu ihren Schüler:innen eine (noch) größere Bedeutung zuschreiben als jene der AHS.

4.3 Entwicklung von Kompetenzen und Unterschieden zwischen Schüler:innen

Die Bilanz über die Lernerfolge ihrer Schüler:innen im Distance Schooling fällt ähnlich wie in der IHS-Online-Erhebung auch in den Interviews mit den Lehrkräften recht bescheiden aus. Trotz eines als deutlich höher empfundenen Arbeitseinsatzes aufseiten der Lehrenden schätzen unsere Interviewpartner:innen die Lernerfolge der Schüler:innen im Rückblick geringer ein als im Präsenzunterricht. Besonders große Lernverluste werden bei Schüler:innen befürchtet, die entweder gar nicht erreicht oder nicht zur Partizipation im Unterricht motiviert werden konnten.

Die haben jetzt neun Wochen verloren. Das können Sie sich nicht vorstellen, was das ausmacht, neun Wochen Schule oder nicht. […] Die anderen sind ihnen davongerauscht, weil die wirklich gefördert und gefordert worden sind. Und die haben neun Wochen nichts gemacht. Da geht es nicht um Neues, sondern um Übung. Gerade diese Kinder hätten die deutsche Sprache am meisten gebraucht. (Aussage einer AHS-Lehrperson)

Geringe Lernerfolge oder Kompetenzverluste werden in allen Fächern beobachtet, besonders stark bei den Deutschkompetenzen. Sie werden häufig – aber nicht nur – bei Schüler:innen mit nichtdeutscher Muttersprache problematisiert, die durch Distance Schooling und Lockdown nur noch in ihrer Herkunftssprache kommunizierten. Allgemein wurden Verluste in Kommunikationskompetenzen beobachtet, wenn Schüler:innen sich nach der Schulöffnung im Unterricht mündlich weniger einbrachten, mehr Verständnisschwierigkeiten hatten oder weniger gut miteinander kommunizieren konnten.

Die Perspektiven der Lehrer:innen verweisen aber auch auf positive Überraschungen durch Schüler:innen und Lernerfolge im Distance Schooling. Von nahezu allen Lehrpersonen wird betont, dass der Unterricht besser funktionierte, als dies zunächst erwartet wurde, und einige Schüler:innen durch Selbstständigkeit und Engagement überrascht haben. Hervorgehoben werden Lerneffekte für das selbstgesteuerte Erarbeiten von Wissen und im Umgang mit digitalen Medien, aber auch in der schriftlichen Kommunikation. Dies sind Kompetenzen, die nach Sicht der Interviewten im Lehrplan und im Normalunterricht oftmals zu kurz kommen, aber in Vorbildländern wie z. B. Finnland insgesamt einen höheren Stellenwert haben. Dementsprechend wird die Pandemie auch als Chance gesehen, um im Schulsystem zukünftig stärker auf solche Kompetenzen zu setzen.

Die aktive Teilnahme der Schüler:innen am Distanzunterricht war der Wahrnehmung unserer Interviewpartner:innen zufolge oft ähnlich wie im Präsenzunterricht: Diejenigen, die sich normalerweise im Unterricht engagieren, hätten sich aktiv beteiligt und ihre Aufgaben ordentlich und zeitgerecht erledigt. Schüler:innen, die schon vorher Probleme in der Schule hatten, haben hingegen auch im Distance Schooling Aufgaben nicht geschafft, sich nicht am Unterricht beteiligt oder waren gar nicht erreichbar. Psychosoziale Beeinträchtigungen durch Existenzängste, familiäre Konflikte und soziale Isolation, von denen benachteiligte Schüler:innen stärker betroffen waren, haben die Motivation für Schule und Lernen noch weiter eingeschränkt.

Hinsichtlich der Kompetenzentwicklung der Schüler:innen wurden im Zuge der Analyse des Interviewmaterials vier Typen von Schüler:innen herausgearbeitet. Ausgehend von den Beobachtungen der Lehrpersonen werden mögliche Kompetenzverluste von Benachteiligten damit weiter ausdifferenziert und positive Überraschungen und Lernerfolge mitberücksichtigt. Darüber hinausgehend lassen sich typenspezifisch unterschiedliche Anforderungen an die Lehrpersonen und auch an das Schulsystem ableiten:

Die „Zurückgelassenen“ sind Schüler:innen, die die größten Kompetenzverluste erlitten haben und deutlich hinter den Lernerfolgen ihrer Klassenkolleg:innen zurückgeblieben sind. Sie wurden aufgrund mangelnder Kommunikationszugänge nicht erreicht, konnten nicht für eine aktive Beteiligung im Unterricht und bei den Aufgaben angesprochen werden oder hatten Schwierigkeiten, die Aufgaben selbstständig zu lösen. Dies sind zum einen Schüler:innen, die schon im Regelunterricht als wenig engagiert wahrgenommen wurden und sich nun auch dem Distance Schooling verweigerten. Ihre fehlende Mitarbeit im Distanzunterricht hat allerdings noch größere Folgen als im Normalbetrieb, da oft nicht einmal ein Mindestmaß an Beteiligung erreicht werden konnte – mit all den Folgen von fehlender Kommunikation und Zeitstrukturierung. Hinzu kommt eine Gruppe, die zwar im Normalunterricht engagiert war, die aber mit Distance Schooling nicht gut zurechtgekommen ist und den Anschluss verloren und damit Bildungschancen eingebüßt hat.

Bei der Gruppe der „Zurückgelassenen“ fühlen sich die Lehrpersonen oft gescheitert, dies ist mit Frustrationen und auch mit der Frage verbunden, wo die Zuständigkeit der Lehrpersonen endet. Letztlich ist es aber weniger ein Versagen der Lehrkräfte als des Schulsystems und braucht es Unterstützung für die Lehrkräfte durch Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen, damit Lehrkräfte diese Gruppe mit dem Unterricht erreichen können. Diese Anforderung für Unterstützung gilt nicht nur in Phasen von Distance Schooling, sondern ist auch für den Normalunterricht relevant, um die Ungleichheit zwischen Schüler:innen nicht weiter zu verschärfen und Lehrer:innen in ihrer Rolle als Wissensvermittler:innen zu stärken.

Die „Verlierer:innen“ sind Schüler:innen, die von den Lehrkräften erreicht wurden, aber mit dem Distanzunterricht schwer zurechtgekommen sind, weil ihnen technische Ausstattung oder digitale Kompetenzen fehlten, sie sich weniger gut selbst organisieren konnten oder zu wenig Unterstützung durch Schule oder Eltern erhielten. In den Interviews werden umfangreiche, mit hohem Zeitaufwand und Kreativität verbundene Anstrengungen geschildert, um die Schüler:innen dieser Gruppe zu unterstützen und unvorteilhafte Rahmenbedingungen für das Lernen zu Hause auszugleichen. Auch wenn die Kompetenzverluste ohne ein solches Engagement vonseiten der Lehrenden wohl deutlich größer wären, ist davon auszugehen, dass Benachteiligte großteils Verlierer:innen bleiben, weil sie entweder hinter den Lernerfolgen ihrer Klassenkamerad:innen zurückbleiben oder dem erwarteten Kompetenzerwerb im Normalunterricht deutlich hinterherhinken. Ebenso zählen zur Gruppe der Verlierer:innen auch Schüler:innen, die zwar gute Voraussetzungen mitbringen und die innerhalb der Klasse ähnliche Lernerfolge erreicht haben, aber im Distance Schooling als Gruppe eindeutig hinter dem Lehrplan zurückgeblieben sind.

Die mit dieser Gruppe verbundene Belastung der Lehrpersonen ist längerfristig kaum haltbar und hat mit dem Schichtbetrieb der Schüler:innen sowie teilweise durchgehender schulischer Betreuung und Ausnahmeregelungen für Abschlussklassen noch zugenommen. Die verschiedenen Strategien zur Unterstützung von Benachteiligten verweisen auf die unterschiedliche und oft auch unklare Arbeitsteilung zwischen Lehrenden, Schulleitungen und Eltern. Die „Privatisierung des Lernens“ ist kein neues Phänomen des Distance Schooling, sondern wird auch im Normalunterricht durch regelmäßige Unterstützung der Schüler:innen durch Eltern oder Nachhilfeunterricht als Ursache der sozialen Ungleichheit diskutiert (Pessl und Steiner 2021; Schüpbach et al. 2018).

Die „Gewinner:innen“ sind Schüler:innen, die im Distance Schooling durch Leistungen und Engagement überrascht haben. Sie sind mit dem Distanzunterricht gut zurechtgekommen, weil sie z. B. ihr Lerntempo selbst bestimmen konnten, nicht der Klassendynamik ausgesetzt waren oder ihre (Mitarbeits‑)Leistungen im Präsenzunterricht untergegangen sind. Sie sind in dieser Ausnahmesituation „aufgeblüht“, in der die Zusammensetzung der Klasse bzw. die Segregation nach Schulformen und Schulstandorten ihre Lernleistungen weniger behindert hat. Profitiert haben sie u. a. von Strategien für flexible Zeiteinteilung und selbstorganisiertem Lernen. Mit individueller Förderung und Bewertung konnten Lehrpersonen mitunter einzelne Schüler:innen motivieren, die bislang weniger Lernerfolge erfahren hatten.

Die „privilegierten“ Schüler:innen bringen sowohl im Präsenzunterricht wie auch im Distanzunterricht durch familiäre Unterstützung und materielle Ausstattung vorteilhafte Voraussetzungen für gute Leistungen mit.Footnote 5 Für sie waren die neuen Lehr- und Lernmethoden wie auch die adaptierten Inhalte eine Bereicherung. Großteils sind sie gut mit dem Distance Schooling zurechtgekommen. Einzelne Beispiele von Schüler:innen mit an sich guten Ausgangsbedingungen wurden beobachtet, deren Lernleistungen aufgrund mangelnder Unterstützung durch die Eltern oder Probleme mit dem selbstorganisierten Lernen im Distance Schooling zurückgefallen sind und die damit zu Verlierer:innen wurden.

Die „Privilegierten“ und „Gewinner:innen“ zeigen, wie sehr der Einsatz digitaler Medien und selbstgesteuertes Lernen den Unterricht bereichern können, wenn bei den Lernenden und Lehrenden die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Wie aber die Interviews und auch andere Forschungsergebnisse (z. B. Brandhofer 2017) darlegen, darf es bei der für das österreichische Schulsystem geplanten Forcierung des digitalen Unterrichts nicht nur um den Einsatz digitaler Medien per se gehen, sondern auch darum, wie diese pädagogisch zielführend eingesetzt werden. Dementsprechend braucht es nicht nur die technologischen Voraussetzungen von Endgeräten und Internetzugängen aufseiten der Schüler:innen und der Lehrpersonen, sondern vor allem auch pädagogisches Wissen und Unterrichtsmaterialien, die dies integrieren.

5 Fazit

Die in diesem Beitrag vorgenommene Analyse der Perspektiven der Lehrenden zeigt, dass sich mit den umfassenden inhaltlichen und methodischen Adaptierungen im Distance Schooling auch das Rollenverständnis der Lehrenden und deren Beziehung zu den Lernenden verändern. Die pädagogisch-didaktischen Zielsetzungen, die unsere Interviewpartner:innen während der Schulschließungen im Frühling 2020 verfolgten, betreffen sowohl die Klassenführung als auch Strategien einer konstruktiven Unterstützung und kognitiven Aktivierung – und sprechen damit alle Grunddimensionen von Unterrichtsqualität an (Klieme 2020). Dabei ist eine Verschiebung im Selbstverständnis der Lehrenden zu beobachten, im Zuge derer die Rollen als persönliche Ansprechpersonen und „Lerncoaches“ gegenüber der traditionellen Wissensvermittlung stärker in den Vordergrund treten. Dies wird einerseits als positiver Aspekt der neuen Lehr- und Lernsituation wahrgenommen, andererseits aber auch mit Schwierigkeiten der persönlichen Abgrenzung und erhöhtem Arbeitspensum assoziiert. Ein weiterer gemeinsamer Nenner der vielfältigen Ansätze ist der Versuch, Schüler:innen zu motivieren und bei der selbstständigen Planung und Strukturierung des Lernens zu Hause zu unterstützen. Die mit dem Konzept des selbstgesteuerten Lernens verbundenen Fähigkeiten (Braunsteiner et al. 2019; Fischer et al. 2020) wurden unter den Pandemiebedingungen zu einem entscheidenden Faktor dafür, in welchem Ausmaß Lernerfolge erzielt werden können.

Wie weit die pädagogischen Strategien erfolgreich waren, war letztlich von den spezifischen Herausforderungen der Schüler:innen abhängig und wie weit diese motiviert werden konnten. Die individuellen Bemühungen und das Engagement der Lehrenden stießen dabei auch an Grenzen, die durch die Segregation des Bildungssystems und die Klassenkomposition entstehen. Mit den vier Typen der Kompetenzentwicklung der Schüler:innen wird eine Heterogenität zwischen den Schüler:innen deutlich, die die Unterschiede zwischen Benachteiligten und Privilegierten im Normalunterricht weiter ausdifferenziert.

Aus den beobachteten Tendenzen schultypspezifischer Unterschiede innerhalb der Gruppe unserer Interviewpartner:innen lassen sich Thesen ableiten, die aufgrund der geringen Anzahl von Interviews nicht ausreichend belastbar sind, aber in künftigen Analysen aufgegriffen werden können: Die Ergebnisse unserer Interviews deuten darauf hin, dass MS-Lehrpersonen ihren Fokus häufiger auf eine insgesamt „niederschwellige“ Gestaltung des Unterrichts legen, die wenig an Ressourcen und elterlicher Unterstützung voraussetzt, während AHS-Lehrkräfte mehr technische Ausstattung, Eigenmotivation und Fähigkeiten des selbstgesteuerten Lernens voraussetzen und sich dabei mehr Unterstützung aus dem familiären Umfeld erwarten. Diese Annahme kann mit den eingangs skizzierten Unterschieden in der Ausgangssituation der beiden Schultypen begründet werden. Angesichts des gerade in Wien hohen Ausmaßes an sozioökonomischer Segregation würde der Unterricht an den MS an die Erwartung angepasst, dass Schüler:innen zu Hause mehrheitlich schlechte Voraussetzungen und wenig Unterstützung für das Lernen zu Hause vorfinden.

Dies hat auch Implikationen für die Kompetenzentwicklung der Schüler:innen: An den Mittelschulen könnte einer Verstärkung der Unterschiede innerhalb der Klassen – mit Ausnahme der „Zurückgelassenen“ – damit entgegengewirkt werden, dass die Lernziele für alle angepasst und die Schüler:innen schrittweise an die Umsetzung des selbstgesteuerten Lernens herangeführt werden (Schwerpunktsetzung A). Für Benachteiligte wäre das Risiko, zu „Verlierer:innen“ zu werden, an den AHS noch größer als in den Mittelschulen und wäre die individuelle Unterstützung (Schwerpunktsetzung B) umso wichtiger, um nachteilige Voraussetzungen zu kompensieren und Kompetenzverluste dieser Gruppe zu vermeiden.

Wie weit sich diese unterschiedlichen Strategien auf die längerfristigen Bildungschancen auswirken werden, ist auch fast zwei Jahre nach den ersten Lockdowns noch offen. Es ist zu befürchten, dass eine Nivellierung der Bildungsziele in Klassen mit hohen Anteilen benachteiligter Schüler:innen negative Folgen für deren individuelle Bildungskarrieren haben wird, wenn dadurch die Voraussetzungen für positive Bildungsabschlüsse und weiterführende Schulen fehlen. Damit würde Distance Schooling die negativen Effekte der Segregation durch die Kumulation von individuellen und strukturellen Benachteiligungen weiter verschärfen. Denkbar ist aber auch eine Verbesserung der Chancen benachteiligter Schüler:innen, wenn selbstgesteuertes Lernen und die dafür notwendigen Kompetenzen einen höheren Stellenwert im Bildungssystem erhalten. Das würde voraussetzen, dass die Lerneffekte aus dem Distance Schooling auch in die Bildungsziele der Lehrpläne hineinwirken und die Rahmenbedingungen der Schulen dahingehend angepasst werden.