1 Einleitung

Ein hoher Pro-Kopf-Alkoholkonsum (Uhl et al. 2016), eine beachtliche Prävalenz im Tabakkonsum (Reitsma et al. 2017) sowie ein bedeutender Anteil an Personen mit ungenügender körperlicher Aktivität und defizitärer Ernährung nach WHO-Standards (Klimont und Baldaszti 2015) sind vier zentrale gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen, mit denen sich Österreich gehäuft in den oberen Feldern der internationalen Negativlisten platziert. Obwohl bereits damit ein gesundheitspolitischer Handlungsbedarf offensichtlich wird, bleibt die Frage offen, welche Gesundheitsverhaltensmuster, also Kombinationen von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, und in welchem Ausmaß sie sich abzeichnen. Denn Studien der letzten Jahre haben die Wichtigkeit einer multiplen Betrachtung deutlich gemacht (Tamakoshi et al. 2009; Sabia et al. 2012; Spring et al. 2012), da die Verhalten realiter in einer Person kumulieren und das Risiko von Morbidität und Mortalität über einzelne negative Verhaltensweisen hinaus steigern. So wird beispielsweise die Frage virulent, ob sich RaucherInnen zumindest ausreichend körperlich aktiv betätigen oder ihr Morbiditätsrisiko aufgrund von Inaktivität noch zusätzlich erhöhen.

In aktuelleren Arbeiten mit österreichischen Daten ist das Gesundheitsverhalten eindimensional oder enumerativ thematisiert worden (Burkert et al. 2012; Klimont 2016; Muckenhuber et al. 2014, 2015; Walther et al. 2014; Brunner-Ziegler et al. 2013), während multiple Betrachtungen weitgehend fehlen (Dorner et al. 2013). Ziel dieses Beitrages ist es, das Gesundheitsverhalten am Beispiel der Wiener Bevölkerung multidimensional zu betrachten. Kurzum – es werden jene Personen, die multiple gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen auf sich vereinen, ermittelt und assoziierte sozioökonomische und soziodemographische Risikofaktoren eruiert.

2 Theoretischer Rahmen

Gesundheitsbezogene Verhaltensweisen, die das Auftreten bzw. Unterlassen von Verhaltensweisen markieren und evidenzbasiert im Zusammenhang mit Morbidität und Mortalität stehen, spielen, wenn auch viele weitere Faktoren mitbedacht werden müssen, eine wichtige Rolle bezüglich des sich über die Zeit verändernden Gesundheitszustands eines Menschen und kumulieren zu einer ungleich verteilten Gesundheit innerhalb der Gesellschaft. Bereits vor mehr als 150 Jahren machte Chadwick (1842) auf diesen Umstand entlang von sozialen Lagen und ihren jeweiligen Lebenserwartungen aufmerksam. Als Theorieangebote, die die gesundheitliche Ungleichheit zu erklären versuchen, lassen sich biologische Faktoren oder soziale Selektion ebenso wie verhältnis- und verhaltensbezogene Annahmen anführen (Richter und Mielck 2000; Sperlich und Mielck 2003). Dabei gilt eine Trennung der beiden Letzteren und eine rein individualistisch gedachte Verhaltensebene sozialwissenschaftlich als überwunden (Cockerham 2005; Hurrelmann und Richter 2013), da gesundheitsbezogene Verhaltensweisen ebenso durch den soziostrukturellen Kontext gerahmt sind (Schneider 2008; Helmert und Schorb 2009). Das bedeutet nicht, dass Personen gar keine Möglichkeit haben, sich für eine bestimmte gesundheitsrelevante Lebensweise zu entscheiden. Die Wahl- bzw. Entscheidungsmöglichkeiten sind jedoch auch eine Frage der Kombination aus individuellen und strukturellen Möglichkeiten (Kelly et al. 2016). Vor diesem Hintergrund zeigen Studien, dass eine niedrigere soziale Lage mit einem höheren Risiko für gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen einhergeht (Burkert et al. 2012; Lampert et al. 2016; Schneider und Schneider 2012; Schwarz 2003). Als Erklärungsgründe lassen sich neben sozialstrukturell vermittelten Ressourcen eine Ungleichverteilung von Gesundheitskompetenz, Selbstdisziplinierung, Kontrollüberzeugungen bzw. allgemeinen Wissensvorräten über gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen anführen (in Übersicht Pampel et al. 2010). Nach Cockerham (2005; 2018), der auf das Habitus-Konzept referiert (auch Sperlich und Mielck 2003), lässt sich über die soziale Lage sowohl auf vertikaler als auch auf horizontaler Achse – beispielsweise sind Gesundheitsverhaltensweisen mit Alter, Geschlecht oder Familienform assoziiert (Olson et al. 2017; Dorner et al. 2013; Skalamera und Hummer 2016) – von divergierenden sozialen Kontexten ausgehen, die sich über Sozialisationsprozesse und schichtspezifische Erfahrungen in einem health lifestyle äußeren. „Health lifestyles are defined as collective patterns of health-related behavior based on choices from options available to people according to their life chances. […] Choices and chances interact and commission the formation of dispositions to act (habitus), leading to practices (action), involving alcohol use, smoking, diet, and other health-related actions“ (Cockerham 2005).

Vor diesem theoretischen Hintergrund wird im Folgenden der Frage nachgegangen, ob sich in der Wiener Bevölkerung zunächst Gesundheitsverhaltensmuster als Teil eines health lifestyles festmachen lassen, die weiters mit sozioökonomischen und soziodemographischen Merkmalen – so die zugrundeliegende Annahme des habituellen Health-lifestyle-Konzepts (Cockerham 2005; 2018) – assoziiert sind (Wang und Geng 2019; Cockerham et al. 2020).

3 Forschungsdesign

Die Arbeit basiert auf den Daten der österreichischen Gesundheitsbefragung 2014 (Austrian Health Interview Survey – ATHIS 2014) mit ergänzenden soziodemographischen und sozioökonomischen Angaben aus dem Mikrozensus 2014. Als Grundlage dienen die Daten von 1734 Personen ab 15 Jahren aus Wien.

Zur Exploration der Gesundheitsverhaltensmuster kam eine Two-Step-Clusteranalyse (SPSS) mit Log-Likelihood-Distanz zur Anwendung. Die entdeckten Cluster wurden des Weiteren in drei Gruppen zusammengefasst (risikoarm, einfaches Risiko und hohes Risiko), um mittels multinomialer logistischer Regressionsanalyse soziodemographische und sozioökonomische Einflussgrößen zu bestimmen.

Insgesamt vier Aspekte sind bei der Konstruktion der Gesundheitsverhaltensvariablen berücksichtigt und auf Basis evidenzbasierter Schwellenwerte dichotomisiert worden (siehe Tab. 1).

Tab. 1 – Codierungsplan der gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen

Diese im ATHIS erhobenen Verhaltensdispositionen beruhen auf Selbstauskünften der Befragten. Folgende Operationalisierungen liegen den Analysen zugrunde:

3.1 Alkoholkonsum

Die Berechnung der durchschnittlichen Menge an eingenommenem Alkohol pro Tag basiert auf der Anzahl an Tagen in Kombination mit der Menge an Alkohol, die an diesen Tagen konsumiert wird. Durchschnittlich mehr als 20 g (Frauen) bzw. 40 g (Männer) Alkohol pro Tag werden als Beginn eines gesundheitsgefährdenden Alkoholkonsums angesehen (WHO 2000) und sind in der vorliegenden Arbeit als Grenzwerte gesetzt.

3.2 Tabakkonsum

Im Bereich des Tabakkonsums wird der aktuelle Raucherstatus berücksichtigt: Alle Personen, die zum Zeitpunkt der Befragung täglich geraucht haben, sind als gesundheitsgefährdet eingestuft. NichtraucherInnen, ehemalige sowie GelegenheitsraucherInnen sind in einer Kategorie (mit 0 codiert) zusammengefasst. Hier zeigt sich eine gewisse Unschärfe – auf Basis der Daten können jedoch keine genaueren Aussagen (Häufigkeit, Menge usw.) über GelegenheitsraucherInnen gemacht werden.

3.3 Ernährungsweise

Bezüglich des Ernährungsverhaltens erweist sich insbesondere der Obst- und Gemüsekonsum als für die Gesundheit bedeutsam (Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. u. a. 2012; WHO 2009). Vom österreichischen Gesundheitsministerium sowie der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung wird empfohlen, mindestens fünf Portionen Obst und Gemüse täglich zu konsumieren (OEGE 2017). Für die vorliegende Arbeit wurde – aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten und der sehr geringen Fallzahl – ein abgeschwächter Schwellenwert herangezogen (in Anlehnung an Schneider et al. 2009): Das Verhalten einer Person gilt in Folge als ernährungsdefizitär, wenn sie täglich weder Obst noch Gemüse zu sich nimmt.

3.4 Körperliche Aktivität

Gemäß WHO sollen Erwachsene ab 18 Jahren pro Woche mindestens 150 min mäßig intensive Bewegung betreiben (HEPA – Health-Enhancing Physical Activity) und an mindestens zwei Tagen in der Woche ein Training zum Muskelaufbau absolvieren (MSPA – Muscle-Strengthening Physical Activity) (WHO 2011). Für die Bestimmung der Minuten einer mäßig aktiven Bewegung und um an die Ergebnisse der österreichischen Gesundheitsberichterstattung anschließen zu können, werden Angaben zur „Körperlichen Aktivität in der Freizeit“ und zur „Transportbezogenen Aktivität mit dem Fahrrad“ herangezogen. Die „Transportbezogene Aktivität zu Fuß“ und die „Arbeitsbezogene körperliche Aktivität“ bleiben unberücksichtigt (Klimont und Baldaszti 2015). Der Wert 1 wird im Rahmen der vorliegenden Studie jenen Personen zugewiesen, die weder die HEPA- noch die MSPA-Empfehlung erfüllen.

Als erklärende Variablen werden sowohl vertikale Lageindikatoren (Bildung, Einkommen und Erwerbsstatus) als auch horizontale Indikatoren (Haushaltsform, Familienstand, Migrationshintergrund, Geschlecht und Alter) in die Modellberechnungen einbezogen und dummy-codiert.

4 Ergebnisse

Auf Basis der Clusteranalyse der Gesundheitsverhalten lässt sich konstatieren, dass gut jeder bzw. jede vierte WienerIn der Gruppe der Risikoarmen zugeordnet werden kann, welche nach eigenen Angaben weder täglich rauchen noch einen grenzwertüberschreitenden Alkoholkonsum aufweisen bzw. nach obiger Definition körperlich aktiv sind und täglich Obst bzw. Gemüse zu sich nehmen. Über ein Drittel weist eine als gesundheitsgefährdend einzustufende Verhaltensdisposition auf (einfaches Risikoniveau – siehe Tab. 2), wobei der größte Anteil mit 17 % in der Wiener Bevölkerung auf die Gruppe mit Bewegungsdefiziten fällt. Ein gutes Viertel der WienerInnen fällt in den Bereich des zweifachen Risikoniveaus und knapp 8 % (hochgerechnet sind das in etwa 120.000 Personen) besitzen ein Muster aus drei Risikoverhaltensweisen – mangelnde Ernährung und Bewegung sowie Tabakkonsum.

Tab. 2 – Verteilung der Wiener Bevölkerung in den Clustern a

Zusammen verteilen sich demzufolge die Cluster bzw. die Wiener Bevölkerung mit 26,9 % auf das risikoarme Niveau, mit 38,5 % auf ein einfaches und mit 34,8 % auf ein hohes (zwei- und dreifaches) Risikoniveau. Diese Einteilung dient als Grundlage der multinomialen logistischen Regressionsanalyse.

Betrachtet man den Einfluss der höchsten abgeschlossenen Schulbildung auf die Wahrscheinlichkeit, einem Gesundheitsverhaltenstyp mit einfachem Risikofaktor anzugehören, so wird eine verstärkte Repräsentanz unterer Bildungsgruppen deutlich (OR: 1,89 bzw. 1,57; siehe Tab. 3). Noch markantere bildungsbezogene Differenzen lassen sich beim Vergleich der Risikoarmen mit der Gruppe mit hohem Risikoniveau feststellen (OR: 5,86; 3,91 bzw. 2,08). Weiters sind bei Personen mit niedrigerem Einkommen Tendenzen eines erhöhten Risikos eruierbar. Statistisch signifikant ist der Unterschied jedoch nur zwischen WienerInnen in der obersten Einkommensgruppe (≥ 150 % des Medianeinkommens) und armutsgefährdeten WienerInnen (< 60 % des Medianeinkommens) – es besteht ein um 85 % erhöhtes Risiko. Keine statistisch signifikanten Unterschiede in der Ausprägung riskanter Verhaltensweisen können zwischen Erwerbstätigen, Arbeitslosen und PensionistInnen festgestellt werden; Gleiches gilt für die Haushaltsform. Ferner steht das Kriterium Partnerschaft in keinem statistisch bedeutsamen Zusammenhang mit der Ausprägung gesundheitsgefährdender Verhaltensweisen, dito bei WienerInnen mit und ohne Migrationshintergrund. Empirisch festmachen lassen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede: Männer besitzen das 1,8-fache Risiko von Frauen, multiple gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen auf sich zu vereinen, ein Ergebnis, das durchwegs mit dem Forschungsstand (Spring et al. 2012; Dorner et al. 2013; Olson et al. 2017) und auch den bisher dokumentierten Ergebnissen der Gesundheitsbefragung (Klimont und Baldaszti 2015; Griebler et al. 2017) übereinstimmt. Trotz der wissenschaftlich gemischten Befundlage bezüglich einzelner Verhaltensdimensionen (beispielsweise sinkt der Tabakkonsum, während die Inaktivität zunimmt) erweist sich ein höheres Alter in der vorliegenden Arbeit in Summe als protektiver Faktor. So neigen WienerInnen im Alter von 15 bis 59 signifikant stärker zu einem hohen Risikoniveau als über 60-Jährige (OR: 1,67 bzw. 1,56). Beim einfachen Risikoniveau ist der Einfluss nicht signifikant, weist aber tendenziell in dieselbe Richtung. Das geringere Risiko, dass ältere Menschen in ein hohes gesundheitliches Risikoniveau fallen, lässt sich vorrangig durch einen Rückgang des Tabakkonsums erklären (Klimont und Baldaszti 2015; Klimont 2016; Lange und Finger 2017).

Tab. 3 Soziodemographische und sozioökonomische Differenzierungen der Risikoniveaus

5 Resümee

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei der Wiener Bevölkerung eine niedrige formale Bildung, männliches Geschlecht und jüngeres Alter die Wahrscheinlichkeit für multiples Risikoverhalten erhöhen, wobei bildungsbezogene Differenzen am deutlichsten wirken und damit vorangegangene Studienergebnisse bestätigen (Schneider und Schneider 2012; Pampel et al. 2010). WienerInnen mit Pflichtschulabschluss haben beinahe das 6‑fache, jene mit Lehr- oder BMS-Abschluss das 4‑fache Risiko gegenüber WienerInnen mit Hochschul‑, FH- oder vergleichbaren Abschlüssen für ein Gesundheitsverhaltensmuster mit zwei oder mehr gefährdenden Verhaltensweisen. Darüber hinaus zeigen auch untere Einkommensgruppen tendenziell ein etwas höheres Risiko für gesundheitsschädigendes Verhalten (Dorner et al. 2013; Skalamera und Hummer 2016; Aura et al. 2016). In Bezug auf den theoretischen Rahmen zeichnen sich entlang der vertikalen Achse Bildung und der horizontalen Achse Geschlecht und Alter Unterschiede in den Verhaltensmustern und damit divergierende health lifestyles ab. Die multiple Betrachtung zeigt auf, dass die soziale Lage in einem deutlichen Zusammenhang mit mehrfachen gesundheitsgefährdenden Verhaltensmustern steht und damit jene Personen einem potenzierten Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich RaucherInnen in vier Clustern wiederfinden (Tab. 2), ein Umstand, der zwar aufgrund der Prävalenz von Tabakkonsum wenig verwundert, jedoch durchaus nachdenklich stimmt. Es können nur 27 % der RaucherInnen ausschließlich dem Cluster der RaucherInnen zugeordnet werden, hingegen legt der weitaus größere Teil zumindest eine, wenn nicht gar zwei weitere gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen an den Tag. Die aus gesundheitspolitischer Sicht alarmierende Erkenntnis, dass an die 30 % der WienerInnen rauchen, erhält zusätzlich Brisanz, wenn man bedenkt, dass drei Viertel von ihnen durch weitere Verhaltensdispositionen das Gefährdungsrisiko verschärfen (Ramo et al. 2019).

Konkludierend müssen die Ergebnisse ernüchtern: Zwar gibt es mit einem Viertel der Wiener Bevölkerung einen Teil, welcher risikoarm bzw. gesundheitsfördernd agiert, jedoch besteht beim weitaus größeren Teil ein ziemliches Potenzial zur Verbesserung. Insbesondere zeigt sich, dass sich Bildung als ein wichtiger Ansatzpunkt darstellt und der Themenbereich Gesundheitsverhalten im Pflichtschulbereich einen wesentlich zentraleren Stellenwert bekommen sollte.