1 Einleitung

Der Umgang mit Gewalt ist eine Herausforderung in sämtlichen Gesellschaften (Bauman 2000; North et al. 2009). Unabhängig davon, wie Gewalt genau definiert wird, ist sie mit zentralen Momenten des menschlichen Daseins, wie bspw. Tod, Macht, Angst, Mut, Trauma, Recht, Unrecht oder Zwang etc., verbunden (Gudehus und Christ 2013). Gewalt ist medial allgegenwärtig und auch im wissenschaftlichen Diskurs stets präsent. Gewalt – als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen – umfasst dabei unterschiedlichste Phänomene, Praktiken, Konstellationen und deren Wirkungszusammenhänge (Anderson 2000; Christ 2017; Ferguson und Beaver 2009; Gudehus und Christ 2013; Vazsonyi et al. 2018) und wird auch definitorisch unterschiedlich gefasst (Collins 2008; Galtung 1993; Hitzler 1999). Trotz der Uneinigkeit hinsichtlich der Extension und Intension des Gewaltbegriffes, scheint Einigkeit über ihren Bezugspunkt zu bestehen: Gewalthandeln ist eine Form des sozialen Handelns (Hitzler 1999; Neidhardt 1986). Als solche ist sie allgegenwärtig und kontingent (Rauchfleisch 1992), jederzeit möglich und stellt sich immer wieder anders dar.

Die potenzielle Allgegenwärtigkeit von Gewalt in Kombination mit dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit verlangt nach professionellen Konzepten zum Umgang mit Gewalt. Entsprechend vielseitig und vielschichtig ist der Markt für Gewaltpräventionskonzepte auf individueller Basis (Schwager 2018; Staller und Körner 2019b). Einige dieser Maßnahmen fokussieren die Vermeidung der Entstehung von Gewalt, andere wiederum den Umgang mit Gewalthandlungen. Gerade auf den Umgang mit Gewalthandlungen spezialisierten Sicherheits- und Selbstschutzkonzeptionen liegen nicht selten reduktionistische Perspektiven auf Inhalte und die im Trainingsprozess angewandten Vermittlungsstrategien zu Grunde. Wir argumentieren im vorliegenden Beitrag gegen eine reduktionistische Sichtweise im Umgang mit Gewalt und plädieren für einen Fokus auf Komplexität als wesentlicher Bestandteil von Anwendungs- und Trainingssituationen (Cushion 2018; Staller und Körner 2019d; Staller et al. 2020).

Im Rahmen des Beitrages wird das Konzept der komplexen Gewaltprävention (Staller und Körner 2019b) vorgestellt, welches die Komplexität der Gewaltprävention auf mehreren Dimensionen und Ebenen theoriegeleitet kartografiert und damit als Reflexionsschablone von Gewaltpräventionsschulungen dienen kann. Damit leistet das Konzept der komplexen Gewaltprävention einen Beitrag zur reflektierten Praxis (Körner und Staller 2018; Schön 1983) in entsprechenden Schulungssettings.

2 Komplexität und Nichtlinearität

Der vorliegende Beitrag – und die Beschreibung des Gewaltpräventionsbegriffes im Titel des Beitrages – fokussiert den Begriff der Komplexität als charakteristisches Merkmal von (a) Gewalthandlungen, (b) Interventionsstrategien sowie (c) Trainingsprozessen. Damit einher geht die Nichtlinearität, die als Merkmal der Komplexität in trainingspädagogischen Prozessen im Kontext der Gewalt eine besondere Rolle spielt (Körner und Staller 2018). Entsprechend legen wir zuerst unser Verständnis von Komplexität und Nichtlinearität dar, bevor wir diese als inhärente Charakteristika auf Gewaltprävention und deren Inhaltsbereich beziehen.

Komplexität und nichtlineare Dynamiken sind entscheidend für das Verständnis von Verhaltens- und sozialen Phänomenen (Schiepek 2017). In der Chaos- und Komplexitätsforschung sowie in verschiedenen Spielarten von Theorien dynamischer Systeme ist das Verhalten von Systemen durch Nichtlinearität gekennzeichnet (Simon 2015). Nichtlineare Eigenschaften lassen sich in Sozialsystemen wie Wirtschaft, Recht und Politik (Luhmann 1996; Mainzer 1999), in der Psychotherapie (Schiepek 2017), im Coaching im Allgemeinen (Cushion 2007), im Selbstverteidigungscoaching im Besonderen (Körner und Staller 2018) sowie in sozialen Gewaltdynamiken (Jensen und Wrisberg 2014; Kron 2019) beobachten. Innerhalb dieser Systeme erscheint Nichtlinearität als ein Merkmal von Komplexität (Körner und Staller 2018). Diese Arten von Systemen sind komplex, weil sie aus voneinander abhängigen Elementen und Elementbeziehungen bestehen, die durch wettbewerbsorientierte nichtlineare Zusammenarbeit miteinander interagieren und zu selbstorganisiertem, emergentem Verhalten führen (Sengupta 2006). Die verfügbare Anzahl der möglichen Elemente und Ereignisse übersteigt die interne Kapazität der Verknüpfung. Ein komplexes System kann daher nicht vollständig durch das Verständnis seiner Einzelkomponenten erklärt werden.

Komplexität führt zu einer Relativierung der schwachen und starken Annahme von Kausalität, die im Kontext linearer Systeme vorhanden sind (Simon 2015). Schwache Kausalität besagt, dass gleiche Ursachen zu konsistenten Ergebnissen führen. Eine starke Kausalität besagt, dass ähnliche Ursachen ähnliche Effekte haben, d. h. schwache Veränderungen der Ausgangsbedingungen führen zu leichten Abweichungen in den Ergebnissen. Beide Fälle beruhen auf der Annahme einer proportionalen Verhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung. In linearen Systemen sind die Auswirkungen der Zustandsänderungen des Systems additiv und proportional zur Größe der Veränderungen (Wilkinson 1997). Das gleichzeitige Ändern mehrerer Parameter ist lediglich eine Überlagerung der Änderung jedes einzelnen Parameters. Folglich können die verschiedenen Parameter des Systems aufgrund der additiven Natur von Systemänderungen jeweils separat untersucht werden. Als solche sind lineare Systeme zeitumkehrbar und vorhersehbar. Die lineare Natur stellt sicher, dass „Vergangenheit und Zukunft mit beliebiger Genauigkeit aus dem gegenwärtigen Zustand abgeleitet werden können“ (Wilkinson 1997, S. 3). Das Verhalten solcher Systeme ist berechenbar. Nichtlineare Kontexte hingegen zeichnen sich durch eine doppelte Nichtproportionalität aus (Körner und Staller 2018): Die Nichtproportionalität von Ursache und Wirkung (a) im Sinne einer starken Kausalität (minimale/maximale Veränderungen können maximale/minimale Effekte verursachen) und (b) im Sinne einer schwachen Kausalität (Zustand A kann die Ursache für Wirkung B, C oder D etc. sein). Daher können die Auswirkungen sich ändernder einzelner Parameter nicht separat untersucht werden wie bei linearen Systemen. Vergangenheit und Zukunft sind vom aktuellen Zustand des Systems nicht abzugsfähig. Zufälligkeit ist Teil seiner Mechanik. Im Wesentlichen ist Komplexität durch eine begrenzte Vorhersagbarkeit gekennzeichnet (Schiepek 2017). Bei den Entscheidungen, die im Rahmen eines komplexen Systems (z. B. im Training oder in Gewaltsituationen) zu treffen sind, wird die Bestimmung der „richtigen“ Vorgehensweise durch den Grad der Komplexität getrübt. Je komplexer eine Situation, desto schwieriger wird es die „richtige“ Entscheidung zu treffen (Luhmann 2009). Unsicherheit erscheint damit als Voraussetzung und Folge komplexer Situationen – ein Aspekt, der im Rahmen von Gewaltpräventionsprogrammen sowohl auf Lösungs- als auch auf trainingspädagogischer Ebene regelmäßig zu bearbeiten und auch auszuhalten ist. Zusammengefasst lassen sich die Charakteristika von komplexen Systemen wie folgt beschreiben:

  • Multikausalität: Das System wird durch das wechselseitige Anpassen von Elementen aneinander als Prozess der Selbstorganisation erzeugt; neue Strukturen/Verhaltensweisen entstehen.

  • Nichtlinearität: Prozesshafte Verläufe des Systems sind als nicht-lineare Dynamiken gekennzeichnet. Diese sind nicht-proportional in Ursache und Wirkung und pfadabhängig, d. h. durch das bereits Geschehene werden bestimmte Anschlüsse festgelegt (Kron 2019).

  • Rekursivität: Endliche Elemente erzeugen potenziell unendliche Strukturen.

  • Nicht-Prognostizierbarkeit des Endzustandes als Folge: Der Endzustand des Systems ist nicht vorherzusehen.

Nach der einleitenden Klärung des Komplexitätsbegriffes legen wir nun den Fokus auf die Erscheinungsform von Gewalt, sowie auf mögliche situationalistische Interventionsansätze und entsprechende Trainingsprogramme.

3 Gewalt als komplexes Phänomen

In einem ersten Schritt analysieren wir das Phänomen Gewalt in Bezug auf seine strukturellen und prozessualen Faktoren sowie Mechanismen. Diese bieten im Weiteren Ausgangspunkte für mögliche Interventionsansätze.

3.1 Gewalt als soziales Phänomen

Gewalt als soziales Phänomen ist allgegenwärtig. Als Teilmenge von Aggression nimmt sie durch Gesellschaft und Staat unterschiedlich normierte Formen an (Wahl 2010b). Im Vergleich dazu wird der Begriff der Aggression regelmäßig weiter gefasst: Als bio-psycho-soziale Mechanismen, die der Selbstbehauptung oder Durchsetzung gegen andere mit schädigenden Mitteln dienen, ist Aggression nicht per se gesellschaftlich normiert (Wahl 2010a). Gewalthandlungen gegen bestimmte Personen- oder Berufsgruppen stehen regelmäßig im Mittelpunkt des medialen sowie des wissenschaftlichen Interesses: In Bezug auf Personengruppen werden bspw. Gewalt gegen Frauen (Krahé 2018), Männer (Finneran und Stephenson 2012), Kinder (Hillis et al. 2016) oder ältere Personen (Bows 2016) diskutiert. Im Kontext von Berufsgruppen stehen u. a. Gewaltphänomene gegen Polizisten (Jager et al. 2013), gegen Angehörige des Rettungsdienstes (Weigert und Feltes 2018), gegen Zugpersonal (Staller et al. 2019a), gegen Ärzte (Elston et al. 2002) oder Lehrer (Reddy et al. 2013) im Mittelpunkt. Aber nicht nur Gewalt gegen bestimmte Zielgruppen ist regelmäßig Thema im öffentlichen Diskurs. Ebenso diskutiert wird Gewalt in spezifischen Kontexten und unterschiedlichen Perspektiven: Gewalt im Sport (Ohlert et al. 2017), Gewalt in romantischen Beziehungen (Stare und Delini 2014), häusliche Gewalt (Costa et al. 2015), Gewalt in der Pflege (Hoffmann und Fegert 2018) oder in polizeilichen Einsatzsituationen (Logan 2016). Von Interesse sind dabei insbesondere die Prävalenz, Erscheinungsformen, Erklärungsansätze zur Entstehung, Einflussfaktoren, die Dynamik und Interventionsstrategien.

Die unterschiedliche Verortung von Gewalt in sozialen und physischen Räumen ist Ausdruck der Komplexität in den entsprechenden Bereichen. Die spezifischen Rahmenbedingungen führen zu kontext-spezifischen Ausprägungen der Gewalt und machen damit auch einen kontext-spezifischen Umgang erforderlich.

Die unterschiedlichen Perspektiven auf den spezifischen Gewaltgegenstand eröffnen unterschiedliche Ansatzpunkte in Bezug auf die Prävention von Gewalthandlungen. Gewaltprävention kann daher abhängig vom Zeitpunkt der zu treffenden Maßnahmen als Primär‑, Sekundär- und Tertiärprävention (Staller und Bertram 2016) klassifiziert werden. Primärprävention beschreibt Interventionen, welche vor einer möglichen Begegnung der handelnden Parteien einsetzen und somit das Auftreten einer Gewalthandlung verhindern. Unter Sekundärprävention werden Maßnahmen verstanden, welche den Umgang mit der gerade entstehenden oder stattfindenden Problematik zum Ziel haben. Tertiäre Präventionsmaßnahmen sind Interventionen, welche nach dem Auftreten einer Gewalthandlung ein Wiederauftreten der Problematik verhindern sollen.

Es wird deutlich, dass die unterschiedlichen Interventionsstrategien auf verschiedene Mechanismen und die Einflussfaktoren in Bezug auf die Entstehung und die Entwicklung der Gewalthandlungen zielen. Voraussetzung für effektive Interventionen ist allerdings, das entsprechendes Wissen über die Mechanismen und Einflussfaktoren vorhanden ist. Dies ermöglicht zum einen (a) die Durchführung von theoriegeleiteten Interventionen und zum anderen (b) die Hypothesengenerierung zur empirischen Überprüfung dieser Maßnahmen.

3.2 Die Komplexität von Gewalt

Die sozialwissenschaftlichen Disziplinen liefern Erklärungsansätze und -modelle, mit denen die Mechanismen von Gewalthandlungen und die Einflussfaktoren nach aktuellem Wissensstand beschrieben werden können. Diese sind als eine Art Kontinuum auf der einen Seite abstrakt und generell, auf der anderen Seite konkret und spezifisch.

Bspw. liefert die I3-Theorie als eine Metatheorie einen Erklärungsansatz für die Auftretenswahrscheinlichkeit und die Intensität eines bestimmten Verhaltens in einer spezifischen Situation – darunter auch aggressives und gewalttätiges Verhalten (Finkel 2014; Finkel und Hall 2018). Die Kernaussage des Modells ist als Metatheorie abstrakt und generell. Situative Konkretheit und Spezifität erhält sie durch die empirischen Befunde und einzelnen Theorien, die sich in den Rahmen der I3-Theorie integrieren lassen. Das Modell geht davon aus, dass drei unterschiedliche Prozesse zu dem Verhalten in einer Situation führen: Auslösende (instigation) und verstärkende Faktoren (impellance) erhöhen die Wahrscheinlichkeit sowie die Intensität von Aggressionen, wohingegen hemmende Faktoren (inhibition) die Auftretenswahrscheinlichkeit und die Intensität senken. Die Auslöser bilden die Nettostärke der unmittelbaren Umweltreize, die als typische Reaktionen in der entsprechenden Situation die Neigung zu aggressiven Handlungen erhöhen. Darunter fallen bspw. soziale Zurückweisung (Gerber und Wheeler 2009; Sinclair et al. 2011; Twenge et al. 2001), physische (Anderson et al. 2008; Berman et al. 2009) und verbale Provokationen (Bushman und Baumeister 1998; Bushman et al. 2005). Verstärker repräsentieren die Nettostärke von situativen und dispositionalen Qualitäten, die in der konkreten Situation beeinflussen wie stark die auslösenden Faktoren die Neigung zu Aggressionen fördern. Verstärkende Einflussvariablen sind bspw. „dunkle“ Persönlichkeitseigenschaften wie Narzissmus, Psychopathie oder Sadismus (Rasmussen und Boon 2014), ein hohes Maß an Trait-AggressivitätFootnote 1 (Finkel et al. 2012), das Vorliegen eines Warrior-MindsetsFootnote 2 (McLean et al. 2019) oder die Präsenz einer Waffe (Anderson et al. 1998). Inhibition umfasst die Auswirkungen von situativen oder dispositionalen Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit oder die Intensität erhöhen, mit der Menschen die Auswirkungen von auslösenden und verstärkenden Faktoren außer Kraft setzen, wodurch die Wahrscheinlichkeit oder Intensität des aggressiven Verhaltens verringert wird. Somit gibt die I3-Theorie Auskunft über die Auftretenswahrscheinlichkeit von Gewalt in einer konkreten Situation: Die Interaktion von Auslöser und Verstärker bestimmen zusammen, wie stark die Neigung einer Person ist, sich in einer spezifischen Situation aggressiv zu verhalten. Diese Neigung wird sich in aggressivem Verhalten manifestieren, sofern die hemmenden Faktoren, wie z. B. Selbstkontrolle, schwächer sind als die Neigung zur Aggression selbst. Als metatheoretisches Modell ermöglicht die I3-Theorie zum einen die Entwicklung von Forschungsfragen in Bezug auf die prozessorientierten Ursachen von aggressivem Verhalten (Finkel und Hall 2018) und zum anderen die Entwicklung von theoriegeleiteten Interventionsstrategien (Staller und Bertram 2016).

Fortschritte der Gewalt- und Aggressionsforschung zeigen sich in den identifizierten und sich stets weiter ausdifferenzierenden Risikofaktoren für aggressives Verhalten. So scheint sich z. B. eine kultur- bzw. milieuspezifische kriegerische Mentalität (warrior mindeset) in Bezug auf die polizeiliche Aufgabenbewältigung eher in einem gewaltorientierteren Umgang mit Bürgern in polizeilichen Standardsituationen niederzuschlagen, als dies bei einer beschützerorientieren Einstellung (guardian mindset) der Fall ist (McLean et al. 2019; Rahr und Rice 2015). Inwieweit und wie genau bspw. auf struktureller Ebene milieuspezifische Sozialisationsprozesse darauf Einfluss haben, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar (Stephan et al. 2019). Weiterhin ist fraglich, inwieweit polizeiliche Trainingsstrukturen, die Konfliktlösung durch Gewalthandlungen als primäre Option gegen andere Optionen in den Vordergrund stellen (Lynch 2017; Staller und Körner 2019c), zur Entwicklung eines kriegerischen Mindsets beitragen oder generell die Neigung zu aggressivem Verhalten verstärken oder inwieweit diese potenziellen Effekte durch eine beschützerorientierte Einstellung gehemmt werden könnten. Neben Unsicherheit in Bezug auf mögliche Risikofaktoren, bestehen auch Unsicherheiten in Bezug auf die Prozesse, durch die Risikofaktoren ihre Wirkung entfalten. Wahrscheinlich ist, dass Risikofaktoren aggressives Verhalten durch mehr als einen Prozess erhöhen (Finkel und Hall 2018). Bspw. kann die milieubedingte Überzeugung, dass Gewalt ein wirksames Mittel zur Konfliktlösung ist, aggressives Verhalten sowohl durch Verstärker als auch durch Enthemmung fördern.

Derartige Unsicherheiten in Bezug auf Erklärungsmechanismen und Einflussfaktoren sind omnipräsent: Sei es im polizeilichen Kontext in Bezug auf den Einfluss wahrgenommener Legitimität polizeilichen Handelns durch Bürger und dessen (in-)direkten Auswirkungen auf polizeiliches Einschreitverhalten (Nix et al. 2019) oder im zivilen Kontext der Einfluss von Selbstverteidigungstrainings auf das eigene Weltbild und das subjektive Sicherheitsgefühl (Staller und Körner 2019c), was wiederum potenziell zu einer höheren Verfügbarkeit von aggressiven Skripten im Handlungsvollzug und damit zu Gewalt führen könnte (Huesmann 2018).

Selbstkontrolle, bzw. der Mangel an Selbstkontrolle, hat ebenfalls einen Einfluss auf das Auftreten von Gewalthandlungen. Geringe Selbstkontrolle wurde in der Allgemeinen Kriminalitätstheorie (Gottfredson und Hirschi 1990) als wesentlicher Faktor für deviantes Verhalten identifiziert. So war in einer Studie mit 1500 Erwachsenen geringe Trait-Selbstkontrolle ein signifikanter Prädiktor für unkluges Verhalten und Kriminalität – darunter auch Angriffe gegenüber anderen Personen (Evans et al. 1997). Der situative Erschöpfungszustand der Selbstkontrollressourcen durch die Ausübung von Selbstkontrolle im Vorfeld einer provozierenden Handlung führte in Studien mit Polizeibeamt*innen zu früheren Aggressionshandlungen gegenüber der provozierenden Person als in der nicht-erschöpften Kontrollgruppe (Staller et al. 2019c, 2017). Die Fähigkeit, Impulsen zu aggressiven Handlungen im Angesicht von Provokationen nicht nachzugeben, ist abhängig von der Fähigkeit, diese Impulse zu kontrollieren. Zahlreiche darauf bezogene Fragen sind noch ungeklärt: Wie und warum lässt sich Selbstkontrolle nicht mehr aufrechterhalten? Was sind die genauen Mechanismen, die dahinterstehen? Und welche Strategien sind unter welchen Umständen effektiv, um situative Lücken in der Ausübung von Selbstkontrolle zu vermeiden (Englert 2019)?

Die beispielhaft genannten Unsicherheiten sind nicht als Limitation der bereits erbrachten Forschungsleistungen zu verstehen. Vielmehr sind diese als Indikator für die inhärente Komplexität von Gewalthandlungen zu sehen. Die Komplexität von Gewalthandlungen zeigt sich in ihrer charakteristischen Struktur: Sie ist (a) multikausal, verläuft (b) als Prozess nicht-linear, hat (c) einen rekursiven Charakter, dessen endliche Elemente potenziell unendliche Strukturen erzeugen und weist (d) eine Nicht-Prognostizierbarkeit des Endzustandes auf. Auf praktischer Ebene heißt dies: Mechanismen und Einflussfaktoren geben Anhaltspunkte über Ursachen und mögliche Entwicklungen im Rahmen pfadabhängiger Dynamiken: Die Gewaltsituation ist aber in ihrem konkreten Verlauf und ihrem Ergebnis nicht vorhersehbar.

Um die Prädiktionsleistung zu verbessern, ist die Aggressions- und Gewaltforschung bemüht, neue Wissensbestände zu generieren. Einflussfaktoren und Mechanismen des Gewaltphänomens werden in ihrer Beschreibung komplexer und nähern sich damit der Komplexität des Gegenstandes an (Kron 2019). Der Umgang mit Komplexität in Bezug auf die Entstehung von Gewalt ist damit der Standard, wenn es darum geht, Intervention auf den unterschiedlichsten Ebenen zu generieren. Aus Sicht einer praxisorientierten komplexen Gewaltprävention bieten dabei Erkenntnisse aus der Analyse struktureller und prozessualer Faktoren und Mechanismen notwendige Ansatzpunkte der Intervention.

4 Der Umgang mit Gewalt: Was hilft und wie wird es trainiert?

Im nächsten Schritt wenden wir den Blick hin zu Intervention als ein Umgang mit Gewalt. In besonderem Fokus stehen die Komplexität von Intervention sowie in Betracht kommende Strategien zum effektiven Umgang mit Gewalt.

4.1 Interventionen als komplexe Phänomene

Der Umgang mit Gewalt ist ähnlich komplex wie das eigentliche Phänomen des Gewalthandelns. So lassen sich aus Erklärungsansätzen zur Entstehung und zum Verlauf von Gewaltsituationen Interventionsstrategien ableiten, doch weisen diese ebenfalls Charakteristika komplexer Systeme auf.

Interventionsstrategien sind multikausal, weil die Ausdifferenzierung von Erklärungsansätzen zur Entstehung, zu den Mechanismen und zum dynamischen Verlauf von Gewalthandlungen bestimmte Strategien und Ansätze zur Gewaltprävention bedingen und entstehen lassen. Sie sind (2) in ihrem Verlauf nichtlinear, sofern sich Wirkungen eingeschlagener Strategien nicht zweifelsfrei vorhersagen lassen, wobei durch bereits beschrittene Wege andere ausgeschlossen werden und sich wiederum Neue öffnen (Kron 2019). Interventionen sind (3) rekursiv, sofern die begrenzte Anzahl gewählter Strategien, Erklärungsansätze und Wirkmechanismen zu einem Überschuss möglicher Strukturen in der konkreten Bewältigung einer Gewaltsituation führt. Die Folge der genannten Eigenschaften ist (4) die Nicht-Prognostizierbarkeit des Ergebnisses der Interventionsstrategie. Aus einer getroffenen Entscheidung innerhalb einer Gewaltsituation lässt sich nicht final ableiten, wie diese Situation ausgehen wird.

Angesichts der Komplexität von Maßnahmen zum Umgang mit Gewalt kann bei dem/der Anwender*in ein Gefühl der Unsicherheit entstehen. Entsprechend verständlich ist das Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit: Was funktioniert im Umgang mit Gewalt und was nicht? Dies ist ein Aspekt, der in Aussagen von Polizeibeamt*innen zum Umgang mit Gewalt regelmäßig geäußert wird (Körner et al. 2019a). Einen Orientierungsrahmen bieten Erklärungsmodelle zur Entstehung, zu Mechanismen und Einflussfaktoren von Gewalthandlungen.

4.2 Strategien zur Kompetenzsteigerung im Umgang mit Gewalt

Die I3-Theorie legt bspw. auf abstrakter Ebene generelle Handlungsstrategien für eine Reduktion von Gewalthandlungen eindeutig dar: Auslöser und Verstärker vermeiden, Hemmer vermehren und stärken (Finkel 2014). Doch stellt sich auf konkret-spezifischer Ebene Unsicherheit und Ambiguität ein, wenn es um die Entscheidung als handelnde Person unter konkreten Umständen und Bedingungen der (Gewalt‑)Situation geht.

Dies zeigt sich schon durch die unterschiedlichen Perspektiven auf den Gegenstand der Intervention. Während in zeitlicher Hinsicht, wie gezeigt, in Primär‑, Sekundär- und Tertiärprävention unterschieden werden kann, stehen auf inhaltlicher Ebene individuelle Ansätze gesamtgesellschaftlichen Ansätzen gegenüber. Während gesamtgesellschaftliche Ansätze die Risikofaktoren für Gewalt auf verschiedenen strukturellen Ebenen der Gesellschaft behandeln (z. B. Bildung, Familienprogramme, soziale Kontrolle; siehe Averdijk et al. 2015; Bannenberg et al. 2013; Kilb 2012), zielen individuelle Interventionen auf einen effektiven Umgang mit bzw. die Vermeidung von Gewaltsituationen für Einzelpersonen ab. Beispiele hierfür sind Maßnahmen wie Selbstverteidigungstraining (Koedijk et al. 2019; Staller et al. 2016), Deeskalationstraining (Mangold 2011; Price et al. 2015; Todak und James 2018), soziales Interaktionstraining (Wolfe et al. 2020), Selbstbehauptungstraining (Berckhan 2009; Warland et al. 2014), soziales Kompetenztraining (Wolter 2014), Konfliktmanagementtraining (Saltman 2006) oder Aggressionsmanagementtraining (Walter et al. 2012). Die Intension und Extension der Begrifflichkeiten variiert dabei stark (Staller und Bertram 2016). Während zum einen Unterschiede innerhalb einzelner Begrifflichkeiten festzustellen sind, unterscheiden sich die Ansätze zum anderen untereinander bzgl. ihrer inhaltlichen Ausrichtung (z. B. kommunikativ vs. körperlich), der zeitlichen Verortung ihrer Wirkungsweise (z. B. als Primär‑, Sekundär-, und Tertiärprävention) sowie ihrer impliziten und expliziten Bezugnahme auf erklärende Faktoren. Daneben ist auch die empirische Befundlage zur Effektivität verschiedener Ansätze nicht eindeutig. So existieren in Bezug auf die Effektivität körperlicher Schulungsprogramme für spezifische Gefahrensituationen sowohl positive (Brecklin 2008; Jordan und Mossman 2017) als auch negative Befunde (Jager et al. 2013; Renden et al. 2015 ). Welche Mechanismen der (Nicht‑)Effektivität jeweils zu Grunde liegen, ist noch offen (Körner und Staller 2018). Liegt es an den ausgewählten und unterrichteten Inhalten, an der Zielgruppe, an der eingesetzten Trainingspädagogik oder an der zur Verfügung stehenden Zeit? Eine abschließende Bewertung dieser Fragestellung erscheint vor dem Hintergrund, dass sich Inhalt, Lerner*in, Methode und die zur Verfügung stehenden Ressourcen gegenseitig bedingen, nicht möglich. So hat jede dieser Fragen grundsätzlich ihre Berechtigung, doch kann eine Beantwortung nur in der konkreten Schulungssituation und mit einem nicht-final-prognostizierbarem Ergebnis vorgenommen werden – ein Hinweis auf Komplexität als Merkmal von Trainingsprozessen.

Für Endanwender*innen bei Polizei, bei Rettungsdiensten oder bei Zivilpersonen stellt sich in Schulungs- und Trainingsprogrammen zur Gewaltprävention primär die Frage nach der Funktionalität der Maßnahmen. Gewaltpräventionskonzepte geben hier regelmäßig einen konzeptionellen Rahmen vor, anhand dessen eine Orientierung erfolgen kann. Beispiele hierfür sind die „Tit-for-Tat“-Strategie (Axelrod und Hamilton 1981; Füllgrabe 2014) oder die Orientierung an biologisch-psychologischen Modellen im Umgang mit Gewalt (Staller und Bertram 2016) wie bspw. die I3-Theorie. In Bezug auf den Umgang mit konkreten körperlichen Gefahrensituationen lässt sich für den Bereich von Selbstverteidigungstrainings vermehrt eine Orientierung an Wissensbeständen im „Wenn-dann“-Format feststellen (Staller et al. 2020): Wenn ein Aggressor dies tut, dann tue jenes. Die in der Polizeiarbeit weit verbreitete „Tit-for-Tat“-Strategie nutzt einen deterministischen Mechanismus als Reaktion auf die Aktion der anderen handelnden Partei: Für den Zusammenhang von Reaktion auf eine Aktion wird eine feste Handlungsstrategie vorgegeben. Die zugrundeliegende Logik der „Wenn-dann“-Regel reduziert die Komplexität von Gewalthandlungen auf einfache, lineare Zusammenhänge (Schöllhorn et al. 2012). Akteur*innen, die im Training lernen, ein komplexes System wie gewalttätige Konfrontationen oder Konflikte über dualistische „Wenn-dann“-Regeln zu handhaben, hält die Komplexität realer Gewalthandlungen möglicherweise unerwartete Überraschungen bereit. Das „Wenn-dann“-Format hat einige Gemeinsamkeiten mit der Gastronomie. Es funktioniert wie ein Rezeptbuch. Der Koch, der nicht viel Wissen darüber hat, warum verschiedene Zutaten so schmecken und wie verschiedene Kochansätze den Endgeschmack des Gerichtes verändern, kauft einfach ein Rezeptbuch und stellt das Gericht nach. Dies funktioniert nur unter der Annahme, dass (a) die Ausgangssituation gleich ist und (b) in der Praxis nichts schief geht (aufgrund eigener Fehler oder einer veränderten Situation). Ist bspw. eine Zutat nicht vorrätig oder haben zwei weitere Gäste ihre Ankunft bereits beim Koch bestätigt, wird der Koch mit neuen oder anderen Problemen konfrontiert und hat keine Lösung für das entstandene Problem. Um die Analogie in der Gewaltprävention zu vervollständigen, bedeutet dies, dass die dogmatische Empfehlung einer speziellen Handlungsstrategie problematisch ist, wenn die spezifische Situation mit all ihren kontextualen Parametern nicht bekannt ist und nicht abgeleitet werden kann, warum und wie die geplante Handlungsstrategie Erfolg haben könnte. Abseits rigider „Wenn-dann“-Kopplungen gilt es also, Lerner*innen dazu zu befähigen, mit der Unsicherheit und Ambiguität, die der Umgang mit Gewalt (als Kopplung der Systeme Gewalt und Intervention) mit sich bringt, professionell umgehen zu können.

4.3 Training als komplexes Phänomen

Das Entwickeln von Kompetenzen und Fertigkeiten im Rahmen von Trainings- oder Schulungsprogrammen ist ebenfalls von Komplexität geprägt. Dies gilt im Allgemeinen (Cushion 2007), wie auch im speziellen Kontext von Gewaltprävention (Körner und Staller 2018). Trainer*innen haben die Aufgabe, Lerner*innen zu befähigen, mit der Komplexität der Anwendungssituation umgehen zu können. Hierzu werden regelmäßig zwei Strategien angewandt: Die Reduktion von Komplexität (a) durch die Isolation von Einzelkomponenten und deren Training (Seifert et al. 2019; Staller und Körner 2019a) und (b) durch die Isolation von Lösungs- und Handlungsoptionen, um Entscheidungen zu operationalisieren (Staller und Körner 2019d).

Die Isolation von Einzelkomponenten lässt sich etwa im Bereich des polizeilichen Einsatztrainings wiederfinden und betrifft dort eine ganze Reihe unterschiedlicher Komponenten: (1) Den generellen Trainingsansatz, (2) die strukturelle Organisation des Einsatztrainings, (3) den Einsatz von Trainingsformen und -aktivitäten, (4) die curriculare Gestaltung des Einsatztrainings sowie (5) die Einsatztraineraus- und -fortbildung (siehe Staller und Körner 2020 für eine detaillierte Beschreibung). Die Logik in der Isolierung besteht darin, die Komplexität wieder in das System zurückzuführen, wenn die Einzelkomponente entsprechend verbessert wurde – ein Argument, das sich im Bereich der motorischen Fertigkeitsentwicklung empirisch nicht bestätigen lässt (Seifert et al. 2019). Im Kontext von körperlicher Konfliktbewältigung weisen Studien auf eine unzureichende Fertigkeitsentwicklung hin (Jager et al. 2013; Renden et al. 2016), die teilweise als Ergebnis von Isolationsstrategien im Trainingsprozess erklärt werden können (Körner und Staller 2018; Staller und Körner 2020).

Eine weitere Strategie im Umgang mit Komplexität besteht in der Reduktion von Lösungs- und Handlungsoptionen. Um bspw. optimale Entscheidungen in bestimmten Situationen für bestimmte Kombinationen von situativen Variablen zu beschreiben, können Kombinationen der Darstellung der Situation und der möglichen Optionen als „Wenn-dann“-Regeln definiert werden (Johnson 2006; McPherson und Thomas 1989). Eine weitere Möglichkeit ist die Reduzierung des Rahmens des Programms, bspw. die Fokussierung auf gewaltfreies Lösen von Konflikten oder auf körperliche Interventionstechniken in Gewaltsituationen (Staller und Körner 2020). Auch die Reduktionsstrategien sind problematisch: So zeigen verschiedene Studien im polizeilichen Einsatztraining eine reduktionistische Sichtweise auf Konfliktlösungen mit einem Fokus auf körperlichen Zwang (Lynch 2017; Staller et al. 2019). Eine erweiterte Rahmung von Konflikten als soziale Problemstellung (im Vergleich zu einer begrenzten Perspektive auf die rein physische Konflikthandlung) führte jüngst im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie zu einer Reduktion von Gewalthandlungen in polizeilichen Konfliktsituationen (Wolfe et al. 2020).

Die pädagogische Herausforderung von Trainer*innen liegt in der Gestaltung von Trainings- und Schulungsstrukturen, die der Komplexität des Gegenstandes und des pädagogischen Prozesses gerecht werden. Das Paradigma nichtlinearer Pädagogik (Körner und Staller 2018) bietet hier ein Angebot. Ursprünglich begründet und ausgearbeitet für den Bereich des motorischen Lernens (Araújo et al. 2006; Chow et al. 2011), ist nichtlineare Pädagogik in der Lage, die Dynamik gewaltförmiger Konflikte zum Thema der Gestaltung von Lernaufgaben zu machen und dabei den lebensweltlichen Verhältnissen angemessen Rechnung zu tragen. Als Praxis und Reflexionsform bietet sie für den Bereich von Gewaltpräventionsschulungen und -trainings bislang weitgehend ungenutzte Möglichkeiten kognitiver Öffnung (Körner und Staller 2018). Erste Befunde im Bereich der polizeilichen Konfliktlösung in Angriffssituationen (Körner et al. 2019b) deuten auf das Potenzial des nichtlinearen trainingspädagogischen Paradigmas hin.

5 A way forward: Komplexe Gewaltprävention

Im soziologischen Gewaltdiskurs der Gegenwart ringen Strukturalisten (z. B. Schroer 2004) und Situationalisten (Collins 2008) um Deutungshoheit. Situationalisten erklären Gewalt aus Merkmalen der Situation, etwa jenen, die Beteiligte in einer Konfrontation plötzlich in den Zustand emotionaler Dominanz versetzen, die dann zur Überwindung einer anthropologisch unterstellten Konfrontationsanspannung führe. Dafür handeln sie sich von Strukturalisten den Vorwurf ein, im Hinsehen auf konkrete Gewaltereignisse das Entscheidende zu übersehen: deren strukturelle Bedingtheit (Kron 2019). Dass gesellschaftliche Strukturen die Entstehung bzw. Nicht-Entstehung von Gewalt nicht hinreichend erklärten, ist wiederum das Auftaktargument einer Mikrosoziologie der Gewaltsituation (Collins 2008, S. 20 ff..): Armut oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, Gesellschaft oder einem bestimmten Milieu und daraus auf individueller Ebene möglicherweise resultierende Überzeugungen führen nicht zwingend zur Gewalt.

Die akademische grundgelehrte Auseinandersetzung zur Gewalterklärung bedient vor allem die Autopoiesis der Soziologie selbst. Ein direkter Nutzen für die Praxis der Gewaltprävention ist nicht intendiert (Schroer 2004) oder, wie im Fall von Collins (2008 S. 463 ff.), von flagranter Schlichtheit. Komplexe Gewaltprävention rechnet auch in der Frage generierender Mechanismen mit Komplexität. Für polizeiliche Gewaltprävention etwa bildet die Analyse von Polizeikultur, Ausbildungsstruktur und Trainingspraxis (Körner und Staller 2020; Staller und Körner 2019e) ebenso selbstverständlich den Bezugspunkt wie ein Wissen um Merkmale von Gewaltdynamiken im Vollzugsdienst (Körner und Staller 2019a).

Das Charakteristikum der Komplexität stellt besondere Anforderungen an den inhaltlichen Umgang mit Gewaltsituationen und dessen Vermittlung. So lassen sich Trainings- und Schulungsprogramme zum Umgang mit Gewalt im Sinne einer „Doppelten Komplexität“ (Staller und Körner 2019b) beschreiben. Diese bezieht sich auf die Komplexität der Inhalte entsprechender Schulungs- und Trainingsprogramme (Gewalt und Interventionsstrategien) und auf die Komplexität des trainingspädagogischen Prozesses selbst. Die strukturelle Kopplung beider Bereiche führt zu einer reziproken Beeinflussung des Phänomenbereichs der Gewalt und des darauf bezogenen trainingspädagogischen Prozesses. Implizit und explizit transportierte Einstellungen, Haltungen, Skripte, Weltschemata und Codes wirken zurück auf die Entstehung und den Verlauf von Gewalt – Gewalthandlungen und deren Dynamiken beeinflussen entsprechende Schulungsprogramme.

Das Konzept der komplexen Gewaltprävention (Staller und Körner 2019b) bietet einen Rahmen zur Planung, Durchführung und Reflexion von Gewaltpräventionsmaßnahmen. Als evidenzbasierte Reflexionspraxis bezieht sie in ihre Entscheidungen Einflussgrößen und Effekte hinsichtlich der sachlichen, zeitlichen und sozialen Dimensionen mit ein. Als „reflektierte Praxis“ im Sinne von Schön (1983) blickt sie auf systemische Interaktionen und Wechselwirkungen und beurteilt deren Einfluss (a) auf die Effektivität der Handlungsstrategie (sachliche Dimension), (b) auf kurz-, mittel- und langfristige Auswirkungen (zeitliche Dimension) und (c) auf der Mikro‑, Meso- und Makroebene sozialer Prozesses (soziale Dimension). Sie ist damit in besonderem Maße geeignet, den Umgang mit Gewalt auf individueller Ebene zu bearbeiten und Orientierungshilfen im Umgang mit Gewaltsituationen zu generieren und anzubieten. Sie ist insofern geschlossen, als sie (a) das Individuum in den Fokus nimmt und (b) aus holistischer Perspektive an einer Vermeidung von Gewalthandlungen interessiert ist. Gleichzeit ist sie offen dafür, bestehende Ansätze der Gewaltprävention auf individueller Ebene zu integrieren. Zusammengefasst lässt sich komplexe Gewaltprävention wie folgt beschreiben.

  • Komplexe Gewaltprävention fokussiert als Schulungs- und Trainingsprogramm den individuellen Umgang mit Konflikt und Gewalt.

  • Als evidenzbasierte Praxis setzt sie einen holistischen Fokus auf den Umgang von Gewalt und schließt keine Bereiche aus.

  • Komplexe Gewaltprävention ist sich der doppelten Komplexität der Inhalte und des Trainingsprozesses, orientiert am Leitbild reflektierter Praxis, bewusst.

  • Sie hat zum Ziel, Individuen dazu zu befähigen, mit der Komplexität von Gewaltsituationen professionell umzugehen und bedient sich dazu der nichtlinearen Pädagogik.