Zusammenfassung
In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, wie fiktionale Kunst auf das soziale Imaginäre einwirkt und es verändert. Am Beispiel der öffentlichen Rezeption von Rolf Hochhuths Theaterstück Der Stellvertreter (1963) zeige ich, wie sich soziale Identität aus dem Ästhetischen speist. Hochhuths Stellvertreter markiert den Beginn der westdeutschen Auseinandersetzung mit der Frage nach Schuld am Holocaust und bildet einen kulturellen Ausgangspunkt für die 68er-Bewegung. Indem das dokumentarische Theater eine neue Form der Individualität, des Denkens und des Fühlens hervorbringt, reorganisiert es soziale Wirklichkeit und greift durch ästhetische Formgebung aktiv in das soziale Imaginäre ein. Werke fiktionaler Kunst spielen bei der Hervorbringung bzw. Schöpfung sozialer Identität eine besondere Rolle, denn Kunst ist laut Wolfgang Iser dem Prinzip des Ästhetischen unterworfen. Das Prinzip des Ästhetischen ist formgebend und spricht somit das Sein der Psyche an – hier folge ich dem Sozialphilosophen Cornelius Castoriadis. Am Beispiel von Hochhuths Stellvertreter möchte ich darlegen, wie es der Kunst gelingt, ein neues Wahrnehmungsmuster zu etablieren, das durch die öffentliche Debatte zu einer neuen „Sensorialitätsordnung“ (Rancière) führt. Diese neue Ordnung transformiert den Begriff des Politischen, der als primäre soziale imaginäre Bedeutung (Castoriadis) zu den gesellschaftskonstitutiven Begriffen westlicher Demokratien gehört.
Abstract
In this article I address the question of how fictional works of art act on and transform the social imaginary. The claim is based on the analysis of the public reception of Rolf Hochhuth’s theater play The Deputy (1963). I will show how social identity feeds on the aesthetic. Hochhuth’s Deputy indicates the beginning of the engagement with German guilt for the Holocaust and serves as a cultural starting point for the West German student movement of 1968. As documentary theater spawns a new form of individuality, of thinking and of feeling, it reorganises social reality and actively engages in the aesthetic form-figuration of the social imaginary. Fictional works of art take on a special role in the creation of social identity/ies, since art is, according to Wolfgang Iser, subjected to the aesthetic principle. The aesthetic principle is form-giving and hence speaks to—here I follow the social philosopher Cornelius Castoriadis—the Being of the psyche. In this contribution I will show, by taking the example of Hochhuth’s Deputy, how art is capable of establishing a new pattern of perception, which, through the public discourse, eventually results in a “sensorial order” (Rancière). This new order transforms the notion of the political, a primary social imaginary signification (Castoriadis), which belongs to the constitutive concepts of Western democracies.
Notes
Der literarische Text steht hier für eine bestimmte Struktur, die den Kunstcharakter von Werken ausmacht und sich durch eine Dopplungsstruktur auszeichnet (vgl. Iser 1991, S. 382 f.–383).
Sie weisen somit auch die diesem Diskurs zugrundeliegende Ästhetik von Selbstbefragung und Demut zurück. Interessanterweise eignet sich der AfD-Diskurs allerdings das Imaginäre des Politischen an, das in der Stellvertreter-Debatte begründet liegt, indem es rechte Positionen als durch den Mainstream unterdrückte Wahrheiten „öffentlich benennt“. Mit der Opferrhetorik („Die Deutschen werden unterdrückt“) und den rhetorischen Grenzüberschreitungen (Schießbefehl auf Kinder an den Grenzen) entsteht hier ein Diskurs, dessen spezifische identitätsbegründende Ästhetik noch eingehender zu untersuchen wäre.
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Knapp, M. Wie Fiktionalität das soziale Imaginäre (re)organisiert:. Österreich Z Soziol 44 (Suppl 2), 195–212 (2019). https://doi.org/10.1007/s11614-019-00380-1
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DOI: https://doi.org/10.1007/s11614-019-00380-1
Schlüsselwörter
- Dokumentartheater
- Gesellschaftliche Transformation
- Ästhetik
- Soziale Identität
- Cornelius Castoriadis
- Wahrnehmungsmuster