Zusammenfassung
Untersucht wird Videoüberwachung im Protest Policing auf Basis von Gruppendiskussionen und Expert/inneninterviews mit Polizist/innen sowie ethnografischen Beobachtungen. Die Polizei legitimiert Videoüberwachung mit dem Versprechen von Objektivität und strikter Rechtsdetermination. Im Aufsatz wird sie stattdessen als kontingenter Prozess der aktiven Konstruktion von Evidenz analysiert. Er besteht aus einer Abfolge von Entscheidungen in drei Grundphasen: von der Potenzialbestimmung über die polizeilich orientierte Durchführung zur staatsanwaltschaftlich orientierten und auf Verurteilung abzielenden Fixierung der Prozessergebnisse in der Nachbereitungsphase. Die Breite der Handlungsoptionen bis hin zur Manipulation wird als Ausdruck soziologischen Ermessens begriffen, in welchem die polizeiliche Definitionsmacht gründet. Insbesondere die beteiligte Sachtechnik ermöglicht, dass die bei jedem Teilschritt bestehende Kontingenz im weiteren Verlauf über Objektivationen und Abstraktionen unsichtbar gemacht wird. Das Recht erweist sich in dieser Definitionsmachtkette als nur ein Handlungsmotiv unter vielen, die Rechtsdeterminiertheit des Polizeihandelns als notwendige Fiktion.
Abstract
The paper examines the use of video surveillance in the context of protest policing, drawing on group discussions and expert interviews with the riot police as well as ethnographic fieldwork. The use of video surveillance is legitimised by the police through a promise of objectivity and stringent compliance to the law. The author analyses the use of video surveillance as a contingent process of actively constructing evidence. It consists of a series of decisions in three phases: starting with the determination of the potential to use surveillance to the police oriented application, and finally, the follow up phase, focusing on the developments of results and prosecution. The variety of courses of action to make use of surveillance right up to manipulation of results is considered to be an expression of sociological discretion, in which the police definitional power rests. Especially, the involved technology allows for existing contingencies apparent in every substep to become invisible through material objectifications and abstractions. In this process, the law proves to be only one motive for agency among others. The idea of the police being determined by law becomes visible as a necessary fiction.
Notes
Reine Bildübertragung ohne Aufzeichnung wird hier nicht behandelt.
Ullrich (2014, S. 42 f.), Verwaltungsgericht (VG) Hannover, 10 A 226/13, VG Leipzig, 1K 222/13 & 1K 259/12.
Zur Prekarität der Anwendung formaler Regeln in Organisationen vgl. Luhmann (1976, S. 309 f.).
Die Dokumente sind durch eine Nummer plus Code zum Dokumenttyp gekennzeichnet (GD = Gruppendiskussion, INT = Expert/inneninterview, FP = Feldprotokoll). Betonungen sind kursiv gedruckt, Unverständliches in doppelten Klammern, Abbrüche sind durch „–“ gekennzeichnet. Zitate wurden sprachlich behutsam geglättet.
„Bedo“/„Besi“ – Polizeiakronyme für „Beweissicherung und Dokumentation“; „Bedos“ im Folgenden auch kurz für Bedo-Beamt/innen.
Als Stimulus wurde i. d. R. eine Videosequenz aus dem Versammlungsgeschehen mit sichtbaren Kameras gezeigt. Die Teilnehmenden wurden dann um eine Interpretation und Deutung aus Sicht ihrer eigenen Arbeit im Feld gebeten und sollten selbstläufig diskutieren.
So in mehreren Gruppendiskussionen, in denen einerseits argumentiert wird, dass Videokameras für niemanden eine Beeinträchtigung darstellten, während an anderer Stelle kamerainduzierte Aggressionen und Verhaltenssteuerungseffekte thematisiert werden.
Entsprechend werden auch Konflikte mit Unterstützungskräften aus anderen Bundesländern beschrieben, die „doch noch ein bisschen mehr Freiheiten“ haben (024_GD).
Als Antwort auf den Bericht eines Kollegen aus dem gleichen Bundesland über restriktive Filmpraxen bei seiner Einheit berichtet ein Befragter „Wir haben uns da […] nie Gedanken gemacht, ist das jetzt erlaubt oder nicht. Die waren einfach mit dabei. […] Und bis auf die einzelnen Gruppen der Bedo-Technik runtergebrochen, ich habe das nie erlebt, dass einer gesagt hat: So, die Kamera ist jetzt an. Die war einfach an, ja.“ (037_GD_Polizei).
Aufschlussreich für eine Analyse der Aufnahmen selbst und ihrer Rezeption wäre sicherlich eine medienwissenschaftlich und kunsthistorisch erweiterte Theorieperspektive, die polizeiliche Videofilme mit anderen perspektivischen Inszenierungen von großer Deutungsmacht vergleicht, bspw. mit den bekannten Opferbildern aus der Zeit des Nationalsozialismus, die mehrheitlich von Tätern geschaffen wurden, oder mit polizeilichen „Verbrecherbildern“; vgl. dazu Regener (1999, S. 18), die die Fotografiegeschichte (als Vorläufer der Filmgeschichte) auch als „Geschichte zunehmender Symbolisierungen von Differenzen“ begreift.
Diese Unterscheidung folgt im Grundsatz Jacobsen (2016), die in Ermittlungen die beiden Phasen des polizeilich orientierten und des staatsanwaltlich orientierten Erkenntnisprozesses identifiziert.
Die Rekonstruktion beider Fälle folgt umfangreichen Presseberichten, Urteilen, Gesprächen mit Prozessbeteiligten, Videomaterial sowie Dokumenten in Eisenberg et al. (2014).
Vermummungs- und Uniformierungsverbot für Demonstrierende vs. polizeiliche Uniformierung mit Tendenz der Unkenntlichkeit im gegenwärtigen riot gear, fehlende Kennzeichnung und – auch in den Projektdaten vorherrschend – strikte Ablehnung einer individuellen Kennzeichnungspflicht.
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Ullrich, P. Videoüberwachung von Demonstrationen und die Definitionsmacht der Polizei. Zwischen Objektivitätsfiktion und selektiver Sanktionierung. Österreich Z Soziol 43, 323–346 (2018). https://doi.org/10.1007/s11614-018-0317-7
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DOI: https://doi.org/10.1007/s11614-018-0317-7
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- Soziale Bewegungen
- Protest
- Demonstrationen
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- Videoüberwachung
- Protest Policing
- Soziologisches Ermessen
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