1 Einleitung

Vorarbeiten für diesen Artikel wurden im Rahmen zweier Forschungsprojekte (Organised Labour and Migrant Workers, 02–10/2013 sowie MigrantInnen als Zielgruppe, 03–09/2014) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien durchgeführt und seitens der Europäischen Kommission (Agreement ref. no. VS/2012/0425) sowie der Arbeiterkammer Wien gefördert. Für ihre Arbeit und hilfreiche Anmerkungen danken wir den HerausgeberInnen und anonymen GutachterInnen des vorliegenden Themenhefts der ÖZS.

Was das neo-korporatistische Arrangement der Interessenvermittlung und seine tragenden Säulen anbelangt, galt im Österreich der Zweiten Republik lange Zeit in historisch wie international vergleichender Perspektive ein hohes Maß an Stabilität als zentrales Charakteristikum. Dieses wurde mit dem Fortbestehen der stark zentralisierten und vereinheitlichten Interessenverbände von Arbeit und Kapital begründet, aber auch mit der anhaltenden Relevanz „sozialpartnerschaftlicher“ Muster der Interessenkonzertierung und -akkordierung im Bereich der Einkommens- und Lohnpolitik ebenso wie in anderen sozial- und wirtschaftspolitischen Feldern (vgl. etwa Ebbinghaus 2000; Traxler 1998). Durch diese Diagnose relativer Stabilität wurde jedoch weder ein gradueller Bedeutungsverlust (vgl. Karlhofer 2012) noch ein sukzessiver Formwandel (vgl. Traxler 1993) neo-korporatistischer Gestaltungsmacht, die in den 1980er-Jahren einsetzten und ab Mitte der 1990er-Jahre an Intensität gewannen, infrage gestellt. Verantwortlich für diese Veränderungen waren ökonomische Faktoren wie steigende Erwerbsarbeitslosigkeit, fortschreitende Tertiarisierung oder verschärfter Wettbewerbsdruck im Zuge der neoliberalen Globalisierung, aber auch politische Faktoren wie der europäische Integrationsprozess oder die gewerkschaftsfeindliche Politik der ÖVP/FPÖ/BZÖ-Regierung Anfang der 2000er-Jahre (vgl. etwa Gstöttner-Hofer 2005, S. 29 ff.; Tálos 2008, S. 77 ff.).

Neben dem neo-korporatistischen Arrangement durchlief mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und seinen Teilgewerkschaften aber auch eine seiner tragenden Säulen einen Prozess krisenhafter Transformation, wurde diese doch ab den 1980er-Jahren in fortschreitendem Umfang von der (zumindest) „‚dreifache[n] Krise‘ der Gewerkschaften“ (vgl. etwa Holst et al. 2008) erfasst. Diese Krise artikuliert sich hierzulande nicht primär als Legitimitäts-, sondern als Mitglieder- und Finanzkrise (vgl. ebd., S. 161; Pernicka und Stern 2011, S. 336).Footnote 2

Was den zweitgenannten Aspekt anbelangt, verlor der ÖGB hinsichtlich seiner Organisationsmacht zunehmend an Boden. Vor dem Hintergrund weitreichender Veränderungen des Arbeitsmarkts und grundlegender Neuzusammensetzungen der Beschäftigten ist in den vergangenen Jahrzehnten eine sukzessive Ausdünnung seiner Mitgliederbasis zu beobachten. War die unmittelbare Nachkriegszeit noch durch einen im internationalen Vergleich hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad gekennzeichnet, veränderte sich dies ab den 1960er-Jahren langsam und ab den 1980er-Jahren mit zunehmender Geschwindigkeit (vgl. Blaschke 2007, S. 247 f.; Traxler und Pernicka 2007, S. 212 ff.): Laut Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD 2016) sank der Organisationsgrad in Österreich zwischen 1960 und 2013 von 67,9 % auf 27,8 %. Mit dem 2006 publik gewordenen Skandal um die ÖGB-eigene Bank für Arbeit und Wirtschaft AG (BAWAG), die infolge riskanter Spekulationsgeschäfte massive Verluste eingefahren hatte, spitzte sich kurzzeitig nicht bloß die Mitgliederkrise des ÖGB weiter zu, sondern – was langfristig von noch größerer Relevanz scheint – auch seine Finanz- und partielle Legitimitätskrise (vgl. Karlhofer 2012, S. 531 f.). Verschärft wird dieses Problem zum einen durch eine „wachsende Vertretungslücke auf betrieblicher Ebene“ (Hermann und Flecker 2009, S. 93), die aus dem Umstand einer rückläufigen Zahl von Betriebsratskörperschaften resultiert, und zum anderen durch die Schwächung der traditionell engen Beziehung zwischen Betriebsratskörperschaften und Gewerkschaften etwa aufgrund der steigenden Anzahl nicht-gewerkschaftlich organisierter BetriebsrätInnen (vgl. Tálos 2008, S. 90 ff.).

In der Gewerkschaftsforschung führten diese Entwicklungen mitunter dazu, für Österreich eine „Erosion gewerkschaftlicher Organisations- und Durchsetzungsmacht“ (Brinkmann et al. 2008, S. 51) zu konstatieren, die durch den einseitigen Fokus auf – vermeintliche oder tatsächliche – institutionelle Stabilitäten verdeckt werde. Zugleich wurde das fortschreitende Schwinden der Organisationsmacht zum Auslöser verschiedener Initiativen einer gewerkschaftlichen Erneuerung (vgl. etwa Blaschke 2002, 2007; Gstöttner-Hofer 2005, S. 93 ff.; Pernicka und Stern 2011, S. 336 ff.). In diesem Kontext gewannen neben Frauen auch MigrantInnenFootnote 3 – also jene Gruppen, die unter den Beschäftigten der expandierenden Dienstleistungssektoren überrepräsentiert sind – als Zielgruppen der Gewerkschaften an Bedeutung (vgl. Biffl 2011, S. 132 f./138).

Durch diese Entwicklungen wurden migrationspolitische Dilemmata, mit denen ArbeitnehmerInnenorganisationen nicht nur hierzulande bereits seit langem konfrontiert sind (vgl. etwa Penninx und Roosblad 2000; Fine und Tichenor 2012), in neuer Form aktualisiert. Hier setzt der vorliegende Artikel an, indem er danach fragt, wie sich österreichische Gewerkschaften und Arbeiterkammern vor dem skizzierten Hintergrund beim Versuch, MigrantInnen zwecks Stärkung ihrer Organisationsmacht als (neue) Zielgruppe zu erreichen, verändern. Der Fokus liegt auf Kriterien einer gelungenen solidarischen Beratungs- und Unterstützungsarbeit, wie sie in diesem Rahmen entwickelt wurde. Um die dargelegte Fragestellung zu beantworten und die erwähnten Gütekriterien herauszuarbeiten, untersuchten wir konkrete Einrichtungen, die von österreichischen ArbeitnehmerInnenorganisationen mit Blick auf die besonderen Interessen und Bedürfnisse von MigrantInnen etabliert wurden. Dazu skizzieren wir zunächst den theoretischen Rahmen der Untersuchung (Abschn. 2) und anschließend die gewerkschaftlichen Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen (Abschn. 3), bevor in der Folge die Beantwortung der Forschungsfrage ins Zentrum rückt (Abschn. 4). Abschließend wird der Argumentationsgang resümiert, und wir präsentieren einige Schlussfolgerungen für eine strategisch erneuerte Gewerkschaftsarbeit im Kontext der österreichischen Migrationsgesellschaft (Abschn 5).

2 Gewerkschaften und Migration: theoretische Ausgangsüberlegungen

Vor dem Hintergrund ihrer Mehrfachkrise stellt sich die Frage der „Organisierbarkeit“ von MigrantInnen für österreichische Gewerkschaften heute in vielen Branchen nicht mehr bloß als eine der Solidarität, sondern – zugespitzt formuliert – immer mehr auch als eine ihres eigenen Überlebens (vgl. ähnlich für Deutschland bzw. Großbritannien Artus 2011, S. 216; Fitzgerald und Hardy 2010, S. 145). Dies ergibt sich bereits aus dem schlichten Umstand, dass die Zahl der unselbstständig Erwerbstätigen ohne österreichische Staatsbürgerschaft in Österreich seit 1998 (mit Ausnahme des „Krisenjahres“ 2009) kontinuierlich von damals rd. 298.600 Personen bzw. 10 % auf rd. 615.700 Personen bzw. 17,4 % im Jahr 2015 anwuchs (vgl. Biffl 2016, S. 92 ff.).Footnote 4

Im Besonderen gilt dies für Branchen, die einen hohen MigrantInnenanteil aufweisen, namentlich etwa für die Land- und Forstwirtschaft (z. B. Erntehilfe), die Beherbergung und Gastronomie (z. B. Tourismus), die Unternehmensdienstleistungen (z. B. Gebäudereinigung), die privaten Haushalte (z. B. Pflegearbeit) und das Bauwesen (z. B. Bauarbeit), wo im Juni 2015 zwischen 25,1 % (Bauwesen) und 58,2 % (Land- und Forstwirtschaft) der hier jeweils Beschäftigten ohne österreichische Staatsbürgerschaft waren (vgl. Biffl 2016, S. 100 ff.). Keineswegs zufällig ist es in diesen Branchen – und speziell in jenen Teilbereichen, die als „ethnisch segmentierte Arbeitsmärkte“ charakterisiert werden können (Krenn et al. 2012, S. 33 ff./91 f.; vgl. auch Riesenfelder et al. 2011, S. 52 ff.) – um die Entgelt- und Arbeitsbedingungen vielfach besonders schlecht bestellt und werden sozial- und arbeitsrechtliche Standards regelmäßig unterlaufen. Zudem gibt es starke Überschneidungen mit solchen Branchen, in denen – im Sinne eines „shadowing effect“ (Krenn und Haidinger 2009, S. 23) informeller auf formelle migrantische Beschäftigung – auch un(ter)dokumentierte Arbeit von MigrantInnen weit verbreitet ist (vgl. auch Jandl et al. 2007, S. 34 ff.).

Aus der Perspektive des Machtressourcenansatzes verweist die prekäre Situation in den genannten Branchen zentral auf die mangelhafte Ausstattung der hier Beschäftigten mit strukturellen und institutionellen Machtressourcen. Den theoretischen Ausgangspunkt des Ansatzes bildet die Annahme, dass das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital zwar aufgrund der bestehenden Eigentums- und Besitzverhältnisse durch eine grundlegende Asymmetrie gekennzeichnet ist, dass diese jedoch in Abhängigkeit von der Mobilisierung unterschiedlicher Machtressourcen variiert. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Bildung von „Organisationen kollektiven Handelns“ wie etwa Gewerkschaften, die es erlauben, die Machtressourcen verschiedener Individuen bzw. Gruppen zu koordinieren und darüber deren relative Unterlegenheit zu kompensieren (vgl. etwa Korpi 1983, S. 14 ff.; Olsen und O’Connor 1998, S. 6).

Der Jenaer Arbeitskreis Strategic Unionism machte den Machtressourcenansatz für die Gewerkschaftsforschung produktiv (vgl. einführend Brinkmann et al. 2008, S. 24 ff., und der Artikel von Dörre in diesem Heft):Footnote 5 Unter Bezugnahme auf Beverly J. Silver (2005, S. 30 ff.) und Eric Olin Wright (2000, S. 962), die Macht als individuelle oder kollektive Fähigkeit zur Durchsetzung von (Klassen-)Interessen begreifen, unterscheiden die Jenaer ForscherInnen in einem ersten Schritt zwischen struktureller Macht (structural power), die aus der Stellung der Arbeitenden im Wirtschaftssystem resultiert, und Organisationsmacht (associational power), die aus ihrer Vereinigung etwa zu Gewerkschaften folgt. Im Bereich der strukturellen Macht differenzieren sie wiederum zwischen Produktionsmacht (workplace bargaining power), die von der strategischen Positionierung im Produktionsprozess abhängt (z. B. Störpotenzial durch Streik), und Marktmacht (marketplace bargaining power), die mit der Stellung am Arbeitsmarkt verbunden ist (z. B. Drohpotenzial aufgrund seltener Qualifikationen). In einem zweiten Schritt erweitern sie das Modell von Wright und Silver um eine dritte grundlegende Form, nämlich die institutionelle Macht, die aus institutionell sedimentierten und häufig gesetzlich festgeschriebenen Basiskompromissen resultiert.

Was nun die oben genannten Branchen anbelangt – von der Land- und Forstwirtschaft bis zum Bauwesen, von den unternehmensorientierten bis zu den personennahen Dienstleistungen –, so scheinen diese dadurch gekennzeichnet, dass die Ausstattung der hier Beschäftigten mit strukturellen und institutionellen Machtressourcen in der Regel schwach ausgeprägt ist. Gerade MigrantInnen finden sich hier nämlich vielfach auf sogenannte „Jedermannsteilarbeitsmärkte“ (Sengenberger 1978, S. 61 ff.; Kalter 2005, S. 311 ff.) konzentriert, die aufgrund unspezifischer Qualifikationsanforderungen und entsprechend leichter Substituierbarkeit mit wenig Marktmacht sowie aufgrund ihrer marginalen Stellung im Produktionsprozess und in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung mit ebenso wenig Produktionsmacht verbunden sind.Footnote 6 Hinzu kommt, dass unter anderem infolge der dargestellten „Vertretungslücke“ auf betrieblicher Ebene in diesen vielfach durch räumliche Fragmentierung gekennzeichneten Branchen (z. B. kleinbetriebliche Strukturen, Subunternehmertum) auch institutionelle Machtressourcen häufig eine geringere Rolle spielen.

Wegen der wirtschaftlichen Bedeutung vor allem von Branchen wie den unternehmensorientierten bzw. den personennahen Dienstleistungen sowie aufgrund des Mangels an strukturellen und institutionellen Machtressourcen aufseiten der hier Beschäftigten erhält die Frage einer strategisch erneuerten Organisationsmacht wachsende Relevanz für aktuelle ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegungen (vgl. Silver 2005, S. 134 ff./214 ff.; Artus 2011, S. 209 ff.). Nicht von ungefähr markieren im Rahmen der internationalen Labor Revitalization Studies (LRS) die Stärke und Zusammensetzung der Mitgliederbasis von Gewerkschaften eine zentrale Dimension für die Erneuerung ihrer Handlungs- und Konfliktfähigkeit (vgl. etwa Voss und Sherman 2000, S. 310 ff./316; Behrens et al. 2004, S. 20 f.). Wenngleich die Richtung, der Einsatz und die Methoden der damit verbundenen Bemühungen divergieren, gewann in diesem Zusammenhang auch die Frage der gewerkschaftlichen Organisierung von bislang nicht bzw. unterrepräsentierten Gruppen wie MigrantInnen an Bedeutung (vgl. Heery und Adler 2004; Milkman und Wong 2001). Oder wie Craig Phelan (2007, S. 26) es formuliert: „Organising those who have been traditionally excluded or underrepresented in trade union movements has become a key component of revitalising strategies.“

In einigen Ländern wie etwa in den USA haben Gewerkschaften in diesem Zusammenhang eine grundlegende Neupositionierung zu den eingangs angesprochenen Dilemmata in Bezug auf das Themenfeld Migration bzw. auf MigrantInnen als Zielgruppe vollzogen (vgl. etwa Meyer 2002, S. 119 ff.; Adler und Cornfield 2014). Im Rahmen neuartiger Organisierungsmodelle und -kampagnen konnten so umfangreiche Erfahrungen mit Ansätzen gewonnen werden, die sich speziell an den besonderen Interessen und Bedürfnissen dieser Zielgruppe orientierten (vgl. etwa Choi 2008; Benz 2014). Doch nicht bloß in den USA, auch in europäischen Ländern wie beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien gingen Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten von einer vornehmlich restriktiven zu einer stärker solidarischen Haltung gegenüber MigrantInnen über und entwickelten spezifische Angebote für diese Zielgruppe (vgl. etwa Fine und Tichenor 2012; Adler et al. 2014). Für ArbeitnehmerInnenorganisationen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) markierten in diesem Kontext die fortschreitende Transnationalisierung des Arbeitsmarkts und die damit verbundenen Formen einer häufig temporären (Ost-West-)Migration eine besondere Herausforderung (vgl. etwa Krings 2009; Hardy et al. 2012; Meardi et al. 2012). Doch auch in Reaktion darauf erweiterten in jüngster Zeit Gewerkschaften in Ländern wie Deutschland (vgl. etwa Greer et al. 2013; Schröder 2015, S. 137 ff.) und Großbritannien (vgl. etwa Fitzgerald und Hardy 2010; Mustchin 2012) auf innovative Weise ihr Strategie- und Handlungsrepertoire.

Für Österreich hingegen konstatierte Sabine Blaschke (2002, S. 97) noch im Jahr 2002 im Kontext der Revitalisierungsdebatte: „Auffällig ist, dass die Gewerkschaften sich um MigrantInnen als spezielle Zielgruppe nicht bemühen“ (vgl. ähnlich auch bereits Bauböck 1990, S. 49). Diese Einschätzung erklärt sich vor dem Hintergrund der Ambivalenzen, wie sie für das Verhältnis österreichischer ArbeitnehmerInnenorganisationen zum Themenfeld Migration bzw. zu MigrantInnen als Zielgruppe lange Zeit offensichtlich waren (vgl. exemplarisch Gächter 2000; Kreisky 2013). Erst in jüngster Zeit finden sich in der Literatur vermehrt Hinweise auf einen Wandel dieses Verhältnisses – und damit in Zusammenhang stehend auch Ansätze einer gewerkschaftlichen Praxis, die mittels Dienstleistungs- und/oder Organisierungsstrategien auf MigrantInnen als potenzielle Mitglieder zielen (vgl. etwa Biffl 2016, S. 139).

Vor diesem Hintergrund, der andernorts im Detail rekonstruiert wurde (vgl. Griesser und Sauer 2015), soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie sich österreichische ArbeitnehmerInnenorganisationen veränderten, um MigrantInnen als (neue) Zielgruppe zu erreichen. Welche Faktoren sind im Hinblick auf dieses Ziel von Bedeutung, und inwiefern gelingt es österreichischen Gewerkschaften und Arbeiterkammern, auf der Serviceebene, aber auch auf Ebene der Organisation bzw. der Gesellschaft erfolgreiche Initiativen zu ergreifen? Den empirischen Gegenstand unserer Untersuchung bilden gewerkschaftliche Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen, die sich explizit an den spezifischen Interessen und Bedürfnissen von MigrantInnen orientieren. Die Untersuchung basiert auf Daten, die im Rahmen von rund 20 leitfadengestützten Interviews mit Beschäftigten von ÖGB und AK, die entweder als muttersprachliche BeraterInnen (BR) oder in leitender Funktion (LF) in solchen Einrichtungen tätig waren, erhoben wurden (vgl. Griesser und Sauer 2014). Im Zentrum der zwischen April 2013 und August 2014 in fünf österreichischen Bundesländern (Burgenland, Oberösterreich, Tirol, Vorarlberg, Wien) geführten und in der Folge inhaltsanalytisch ausgewerteten ExpertInneninterviews (vgl. etwa Gläser und Laudel 2010, S. 43 ff.; Bogner et al. 2014, S. 71 ff.) standen die Arbeits- und Funktionsweisen der erwähnten Einrichtungen sowie die Bedingungen und Kriterien des Gelingens der von diesen geleisteten Beratungs- und Unterstützungsarbeit.

Im Folgenden stellen wir kurz die MigrantInnen adressierenden Angebote vor, nicht zuletzt deshalb, weil diese in der Migrations- und Gewerkschaftsforschung in Österreich bislang gleichermaßen unterbelichtet blieben.

3 Gewerkschaftliche Beratungs- und Unterstützungsangebote: der empirische Gegenstand

In der akademischen Auseinandersetzung mit dem Thema Gewerkschaften und Migration fanden die von österreichischen ArbeitnehmerInnenorganisationen etablierten Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen lange Zeit allenfalls am Rande Beachtung (vgl. etwa Bauböck 1990; Gächter 2000). Erst in der jüngsten Vergangenheit wurden einige dieser Einrichtungen zum Gegenstand von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen (vgl. etwa Hammer 2010a, 2010b) und – begriffen als Beispiele guter Praxis – von politischen Empfehlungen (vgl. etwa Biffl 2011, S. 133; Biffl et al. 2011, S. 28).

Eines der historisch gesehen ersten Serviceangebote, das explizit auf die spezifischen Bedürfnisse und Interessen von MigrantInnen fokussierte, waren Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen für Türkisch/Kurdisch sowie Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BKS) bzw. – wie es damals hieß – Serbokroatisch. Obschon im internationalen Vergleich von eher randständiger Bedeutung (vgl. Penninx und Roosblad 2000), wurden solche Angebote ab Mitte der 1960er-Jahre in mehreren österreichischen Bundesländern vom ÖGB und/oder der Arbeiterkammer etabliert. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte um-, zum Teil aus-, mitunter aber auch wieder zurückgebaut, entstanden daraus unterschiedlich konzipierte Modelle der muttersprachlichen MigrantInnenberatung, wie sie aktuell etwa beim ÖGB in Wien, Vorarlberg, Oberösterreich, Tirol und im Burgenland existieren (vgl. Griesser und Sauer 2014).Footnote 7

In den vergangenen Jahren initiierte der ÖGB zudem auf Bundes- bzw. Länderebene mehrere Kooperationsprojekte (KP) mit ungarischen, slowakischen und tschechischen Gewerkschaften, die ebenfalls muttersprachliche Beratungs- und Unterstützungsangebote für MigrantInnen bzw. PendlerInnen umfassten. Damit reagierten die ArbeitnehmerInnenorganisationen auf die neuen Herausforderungen, wie sie mit der angesprochenen Transnationalisierung des Arbeitsmarkts und den damit verbundenen Migrationsbewegungen einhergingen (vgl. etwa Krings 2009, S. 57). Finanziert waren diese Einrichtungen zumeist über die Strukturfonds der Europäischen Union, allen voran dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung (EFRE), und formal basierten sie häufig auf den über den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) organisierten Strukturen der Interregionalen Gewerkschaftsräte (IGRs) (vgl. Noack 2001; Hammer 2010b).Footnote 8

Die mit der Etablierung solcher Unterstützungs- und Beratungsangebote verbundene Motivation wurde im ÖGB-Grundsatzprogramm 2009 wie folgt gefasst:

Der ÖGB fordert […], ArbeitsmigrantInnen durch Angebote wie Rechtsberatung und Rechtsschutz zu unterstützen. Der ÖGB sieht in der WanderarbeitnehmerInnenschaft eine wichtige Zielgruppe, deren gewerkschaftliche Organisierung einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Arbeitsmarkts und zur Sanierung prekärer Arbeitsverhältnisse leisten kann (ÖGB 2009, S. 58 f.).

Bei diesen gewerkschaftlichen Angeboten ist zu bedenken, dass (arbeits- und sozialrechtliche) Beratungstätigkeiten grundsätzlich nicht in den Kernaufgabenbereich des ÖGB, sondern – entsprechend einer komplexen Arbeitsteilung zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften und Arbeiterkammern als den zentralen Institutionen der österreichischen ArbeitnehmerInnenvertretung (vgl. Karlhofer 2006) – in jenen der AK fällt. Verglichen mit den jährlich rd. zwei Millionen Beratungskontakten der AK nehmen sich etwa die rd. 2300 persönlichen Beratungen in Türkisch/Kurdisch sowie die rd. 2000 persönlichen Beratungen in BKS, die laut Bericht für den 18. Bundeskongress im Berichtzeitraum 2009–2013 vom ÖGB-Servicecenter in Wien durchgeführt wurden (vgl. ÖGB 2013, S. 18), so auch bescheiden aus. Nicht außer Acht gelassen werden darf jedoch, dass das Aufgabenprofil der ÖGB-BeraterInnen stets viel breiter angelegt war und eine Reihe anderer Aktivitäten – von aufsuchender Arbeit in den Betrieben bis hin zu gewerkschaftlichen Organisierungstätigkeiten – umfasste.

In der Literatur wurde das mit diesen Einrichtungen verbundene Verhältnis von ÖGB und AK zu MigrantInnen(-Organisationen) vor allem in historischer Perspektive – aufgrund ihrer ambivalenten Positionierung zu Fragen der Migrationspolitik bzw. der gewerkschaftlichen Inklusion (vgl. Griesser und Sauer 2015)Footnote 9 – verschiedentlich als „klientelistisch“ und „paternalistisch“ charakterisiert (vgl. etwa Bratić 2004, S. 66 f.; Waldrauch und Sohler 2004, S. 646; Sohler 2007, S. 384). Auch unter den BeraterInnen selbst kritisieren einige das zugrundeliegende Selbstverständnis der österreichischen ArbeitnehmerInnenorganisationen als paternalistische „Schutzmacht für Ausländer“ (Interview ÖGB_BR_03): „Wir sind für euch da. Ihr müsst uns bei Wahlen eure Stimmen geben und wir machen’s für euch. Dolmetscher? Bitteschön! Oder: Habt ihr einen Fußballverein? Kriegt ihr Uniformen, Mieten, Unterstützung …“ (ebd.). Zudem sehen manche in den Angeboten deshalb reine „Alibistellen“ (Interview ÖGB_BR_02) bzw. „Alibijobs“ (Interview AK_BR_02), weil die personellen Ressourcen vor allem in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens aufgrund der massiven Nachfrage völlig unzureichend gewesen seien. Zugleich wird jedoch darauf verwiesen, dass ÖGB und AK gerade in den 1970er- und 1980er-Jahren in mancher Hinsicht die einzigen Organisationen waren, von denen überhaupt finanzielle, informationelle oder andere Unterstützungsangebote kamen, und dass die Zusammenarbeit in dieser Hinsicht auch „ganz gut funktioniert[e]“ (Bratić 2000, S. 13; vgl. auch Bratić 2003, S. 399 ff.): „Ich muss ehrlich sagen, es gab damals keine anderen Ansprechpartner wegen Unterstützung, Hilfe, Beratung oder Rechtsschutz … Und die Leute sind auch Mitglieder geworden, da gab es keine Diskussion.“ (Interview ÖGB_BR_02)

Vor dem Hintergrund eines inkrementellen Wandels des Verhältnisses österreichischer ArbeitnehmerInnenorganisationen zum Thema Migration, wie er etwa in einer stärkeren Inklusion von MigrantInnen in gewerkschaftliche Strukturen oder in einer punktuellen Neupositionierung von AK und ÖGB zu migrationspolitischen Fragen zum Ausdruck kommt (vgl. Griesser und Sauer 2015), scheint sich in jüngster Zeit – wie wir im Folgenden darlegen – auch die Bedeutung solcher Serviceangebote gewandelt zu haben.

4 Gewerkschaftliche Erneuerung: MigrantInnen gewinnen

Bei ihrem Versuch, MigrantInnen mit der Absicht ihrer gewerkschaftlichen Organisierung als (neue) Zielgruppe zu adressieren, verfolgen die österreichischen ArbeitnehmerInnenorganisationen im Rahmen der Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen bislang vorrangig eine Dienstleistungsstrategie. Wie die Interviews mit den GewerkschafterInnen verdeutlichten, lässt sich diese Strategie jedoch nicht auf einen simplen Service-Ansatz reduzieren. Ähnlich wie im Falle internationaler Beispiele guter Praxis (vgl. etwa Benz 2014, S. 208 f.; Fine und Holgate 2014, S. 146 f.) kam es auch in Österreich zu einer Erweiterung des gewerkschaftlichen Strategierepertoires, indem Elemente traditioneller Dienstleistungsansätze mit solchen innovativer Organisierungsansätze gekoppelt wurden (vgl. etwa Hammer 2010a, S. 34/42 f.). Unter anderem aufgrund dieses – in der Literatur als „Organizing by servicing“ (Greer et al. 2013, S. 12) bezeichneten – Modells scheint es sinnvoll, die auf der Serviceebene lokalisierten Maßnahmen im Kontext umfassenderer Versuche einer gewerkschaftlichen Erneuerung zu verorten.Footnote 10

Die im Folgenden dargestellten Gütekriterien, die wir aus den ExpertInneninterviews extrahieren konnten, werden entlang dreier Achsen sortiert. Dabei bezieht sich die Darstellung auf zwei zentrale Referenzen (vgl. Griesser und Sauer 2014, S. 64 ff.): Einerseits geht es um drei für das Verhältnis von Gewerkschaften zu Fragen der Migration verbindliche Dilemmata, die Rinus Penninx und Judith Roosblad (2000) in ihrer Studie Trade Unions, Immigration, and Immigrants in Europe herausgearbeitet haben. Das erste Dilemma betrifft die Entscheidung zwischen Kooperation oder Widerstand im Zusammenhang mit der Anwerbung bzw. Beschäftigung von MigrantInnen; das zweite bezieht sich auf die Frage ihrer (vollen) Inklusion in bzw. ihrer (partiellen) Exklusion aus gewerkschaftlichen Strukturen; und das dritte zielt auf die Wahl zwischen der Anwendung gleicher und der Entwicklung spezieller Maßnahmen für MigrantInnen. Andererseits greift die Darstellung einen Vorschlag von Petra Wlecklik (2013) auf, der mit Blick auf ein Fallbeispiel aus Deutschland entwickelt wurde. Dieser ordnet die gewerkschaftlichen Aktivitäten im Rahmen eines topologischen Modells drei Ebenen – der Serviceebene, der Ebene der Organisation bzw. der Ebene der Gesellschaft – zu, auf denen auch die Dilemmata von Penninx und Roosblad lokalisiert werden können (vgl. dazu Tab. 1). Von zentraler Bedeutung wird aufgrund der dargelegten Dominanz der Dienstleistungsstrategie im Folgenden die erstgenannte Ebene sein.

Tab. 1 Gütekriterien einer gewerkschaftlichen Adressierung von MigrantInnen in Österreich. (Quelle: Eigene Erhebungen)

4.1 Faktoren auf der Serviceebene

Die Gütekriterien einer solidarischen Beratungs- und Unterstützungsarbeit auf der Serviceebene umfassen – wegen der häufig prekären Situation und der daraus resultierenden Vulnerabilität der Zielgruppe – laut den interviewten GewerkschafterInnen möglichst niederschwellige Angebote für MigrantInnen.

In Bezug auf (a) das Personal ergeben sich daraus Gütekriterien wie Sprach- und „interkulturelle Kompetenzen“, rechtliche und vor allem praktische Expertise, „Parteilichkeit“ sowie Vernetzung in der Community: Während die Bedeutung „interkultureller Kompetenzen“ bzw. eigener Migrationserfahrungen aufseiten der BeraterInnen in den Interviews nur vereinzelt angesprochen wurde (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_04, AK_BR_03), bestand in Bezug auf die Relevanz entsprechender Sprachkompetenzen weitgehende Einigkeit (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_02, KP_BR_01). Was die erforderliche Expertise anbelangt, blieb der inhaltliche Schwerpunkt – für gewerkschaftliche Einrichtungen wenig überraschend – über die Jahrzehnte hinweg unverändert im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts. Ebenso unverändert blieb in der Regel jedoch für die BeraterInnen die Notwendigkeit, auch in anderen Feldern über rechtliche (z. B. zum Fremdenrecht) bzw. praktische Expertise (z. B. zu relevanten Behörden) zu verfügen (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, KP_LF_03). Vor allem seitens der ersten Generation von BeraterInnen, die zwischenzeitlich überwiegend bereits pensioniert sind, wurde zudem die Bedeutung einer „parteilichen“ Beratung im Interesse der Ratsuchenden akzentuiert, also – wie ein oberösterreichischer Gewerkschafter es formulierte – „dass man dieses Vertrauen hat: Der ist auf unsrer Seite“ (Interview ÖGB_BR_03). Vornehmlich von Angehörigen dieser Generation wurde darüber hinaus auch die Verankerung und der Status der BeraterInnen in der jeweiligen Community als ein relevanter Faktor betrachtet (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_05, AK_BR_01).

Hinsichtlich (b) der Kanäle, über die Informationen zu den Angeboten verbreitet werden, wurde in den Interviews auf einen zentralen und eine Reihe ergänzender Kanäle verwiesen: In keinem anderen Punkt bestand dabei – über alle historischen und geografischen Distanzen zwischen den einzelnen Einrichtungen hinweg – größere Einigkeit unter den BeraterInnen als im Hinblick auf die Bedeutung von Mundpropaganda als zentralem Kanal für die Verbreitung von Informationen zu den Angeboten (vgl. u. a. Interviews KP_BR_01, AK_LF_01). Weniger Einigkeit gab es im Hinblick auf die Frage der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Während diese seitens einzelner Einrichtungen mit Blick auf vor allem Regional- und Lokalmedien in anlassbezogener Form betrieben wurde (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_01, KP_LF_03), fokussierten andere auf gewerkschaftliche bzw. auf Medien der relevanten Communitys (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_BR_04) oder verzichteten auf entsprechende Aktivitäten (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_02, AK_LF_01). Hinzu kamen von den Einrichtungen selbst produzierte Drucksorten (z. B. Plakate, Folder), die in Betrieben, Community- und anderen Einrichtungen verteilt wurden (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_01, KP_BR_02). Vor allem in jüngster Zeit gewannen zudem E-Mail- und diverse andere Social-Media-Kanäle sowie der Webauftritt der verschiedenen Einrichtungen als Informationsmedien an Bedeutung (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_04, KP_LF_03).

In Bezug auf (c) die Rahmenbedingungen wurde in medialer sowie inhaltlicher Hinsicht Vielfalt als zentrales Gütekriterium bemüht und in geografischer sowie zeitlicher Hinsicht Flexibilität: Was die Beratungs- und Informationsmedien anbelangt, wurde in den Interviews die Bedeutung vielfältiger Angebote betont. Lief dies in den ersten Jahrzehnten vor allem darauf hinaus, neben der persönlichen auch telefonische Beratung anzubieten und Informationen zudem etwa über Broschüren zu verbreiten (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_02, ÖGB_BR_05), so spielt neuerdings E-Mail als Beratungsmedium eine zunehmend wichtigere Rolle (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_04, KP_BR_01). Trotz des bereits angesprochenen Fokus auf arbeits- und sozialrechtliche Themen war Vielfalt darüber hinaus auch hinsichtlich der im Rahmen der Beratung abzudeckenden Rechts-Materien von zentraler Bedeutung. Als „Mädchen für alles“ (Interview ÖGB_BR_02) informierten die BeraterInnen deshalb auch in formeller bzw. informeller Form zu zahlreichen weiteren Themen (z. B. Steuern, Aufenthalt, Familie) (vgl. u. a. Interviews KP_BR_02, AK_BR_01). Vor allem während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens war es zudem üblich, dass die muttersprachliche Beratung nicht bloß in den Gewerkschaftszentralen, sondern auch in den Bezirks- bzw. Regionalsekretariaten des ÖGB oder bei den Teilgewerkschaften angeboten wurde (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_03, ÖGB_BR_05). Das galt in vergleichbarer Form für die internationalen Kooperationsprojekte, die jenseits ihrer Zentralen stets auch über ein Netz an Außenstellen verfügten (vgl. u. a. Interviews KP_BR_01, KP_LF_02). Darüber sowie durch das gezielte Aufsuchen von Betrieben bzw. anderen einschlägigen Orten (z. B. Grenzübergängen) sollte es gelingen, durch geografische Flexibilität im Sinne der angesprochenen Niederschwelligkeit näher an die Leute zu kommen“ (Interview KP_LF_03). Aus ähnlichen Gründen versuchte man vielerorts lange Zeit, solche bürokratischen Sachen“ (Interview ÖGB_BR_03) wie fixe Beratungszeiten oder obligatorische Voranmeldungen zu vermeiden. Zwischenzeitlich ist letzteres zwar in den meisten Einrichtungen Usus; nichtsdestotrotz ist man zumeist auch weiterhin um zeitliche Flexibilität bemüht (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_LF_01).

Bei den einzelnen Projekten von unterschiedlicher Bedeutung, im Hinblick auf die Frage gewerkschaftlicher Organisierung jedoch zentral, waren bzw. sind schließlich (d) Angebote, welche die Beratungstätigkeit im engeren Sinn ergänzen: Neben (telefonischen) Interventionen bei und zum Teil auch persönlichen Begleitungen zu ArbeitgeberInnen und Behörden umfasste dies vor allem die Weitervermittlung in den Rechtsschutz der zuständigen Teilgewerkschaft bzw. der Arbeiterkammern. Unter anderem in Abhängigkeit von den personellen Ressourcen der jeweiligen Einrichtung kam mitunter Informations- und Bildungsarbeit oder auch Betriebs- und aufsuchende Arbeit hinzu (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, KP_LF_02).

Neben den dargestellten Faktoren auf der Serviceebene wurden in den Interviews von den GewerkschafterInnen aber auch flankierende Maßnahmen auf Ebene der Organisation bzw. der Gesellschaft angesprochen, worauf im Folgenden kurz eingegangen werden soll.

4.2 Faktoren auf der Ebene der Organisation

Auf der Ebene der Organisation wurde von vielen Interviewten unter anderem mit Verweis auf entsprechende Wünsche seitens migrantischer BetriebsrätInnen (a) die Schaffung einer Einrichtung innerhalb der Organisation angeregt, in der migrations- und integrationspolitische Verantwortlichkeiten und Kompetenzen gebündelt werden sollen (vgl. u. a. Interview ÖGB_BR_01, AK_LF_02). Dies sei, wie ein oberösterreichischer Gewerkschafter betont, in der Vergangenheit auch immer wieder Gegenstand von Forderungen gewesen:

Wir haben immer wieder von der Zentrale verlangt, dass es in der Organisationsform des ÖGB ein Migrationsreferat oder -sektion oder -abteilung geben soll […]. Das war immer eine Forderung von uns in Kongressen […]; hat’s aber nie gegeben. Ich werd’s wahrscheinlich auch nicht erleben (Interview ÖGB_BR_03).

Daneben plädierten mehrere Interviewte für (b) die Schaffung einer Plattform innerhalb der Organisation, über die im gewerkschaftlichen Rahmen die Selbstorganisation und -vertretung der Zielgruppe ermöglicht werden soll, wofür es in Österreich auch bereits einige Beispiele guter Praxis gebe (z. B. das 2009 beim ÖGB Oberösterreich eingerichtete Kompetenzzentrum Migration) (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_03, ÖGB_BR_04).

Ein weiterer in den Interviews wiederholt angesprochener Aspekt war (c) die Verfolgung einer Diversitäts-Strategie in der gesamten Organisation zwecks Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse und Interessen von MigrantInnen im Rahmen aller internen und Außenbeziehungen (vgl. u. a. Interviews AK_LF_01, AK_LF_02). In gewerkschaftlichen Kreisen wurde hier vor allem die Bedeutung der Bildungsarbeit akzentuiert, um die „interkulturelle Kompetenz“ von Hauptamtlichen und FunktionärInnen ebenso wie von BetriebsrätInnen – auch jenseits der mit dem Thema befassten Kreise – zu vertiefen (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_BR_03).

Darüber hinaus sprachen viele Interviewte (d) die Stärkung der Vernetzung als wichtigen Aspekt an – und zwar sowohl „innerhalb des Hauses“ (zwischen Selbstvertretungs-, politischen und Serviceabteilungen) als auch jenseits davon (innerhalb des ÖGB bzw. der AK; zwischen ÖGB, AK und Teilgewerkschaften) (vgl. u. a. Interviews KP_BR_02, AK_BR_03). Besonders häufig wurde dabei – zum Teil unter Verweis auf (historische) Erfahrungen in diesem Feld – der Wunsch nach Möglichkeiten des Austauschs und der Vernetzung unter den BeraterInnen selbst artikuliert (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_02, AK_BR_01). Vor allem die mit den grenzüberschreitenden Kooperationsprojekten verbundenen GewerkschafterInnen akzentuierten zudem die Bedeutung des transnationalen Wissenstransfers im gewerkschaftlichen Rahmen (vgl. u. a. Interviews KP_LF_01, KP_LF_03).

Als kontroversester Punkt wurde schließlich in nahezu allen Interviews (e) auf die Frage einer verstärkten Repräsentation von MigrantInnen auf Ebene der Hauptamtlichen und FunktionärInnen eingegangen. Im Hinblick auf das Ziel bestand dabei zwar weitgehende Einigkeit (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_03, ÖGB_LF_01). Was die dafür zum Einsatz zu bringenden Mittel anbelangt – konkret etwa Maßnahmen wie Affirmative Action in der Personalpolitik oder Quotenregelungen bei der Vergabe von Funktionen –, dominierte jedoch Ambivalenz (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_BR_04).

4.3 Faktoren auf der Ebene der Gesellschaft

Auf der Ebene der Gesellschaft wurde unter anderem (a) auf die Notwendigkeit der Entwicklung klarer Standpunkte zu migrations- und integrationspolitischen Fragen verwiesen. In der Perspektive mancher InterviewpartnerInnen soll dies entweder im Rahmen umfassender Positions- bzw. Standpunktpapiere passieren (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_03, AK_LF_03); oder auch in Bezug auf konkrete Themen wie etwa die Übergangsfristen für die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit von BürgerInnen der neuen EU-Mitgliedstaaten (vgl. u. a. Interview KP_LF_03, ÖGB_LF_01).

Um eine solche Positionierung vor dem Hintergrund lückenhafter Wissensbestände zu ermöglichen, sei es laut mehreren Interviewten zudem von zentraler Bedeutung, (b) Wissen zu generieren und Expertise zu entwickeln. Verwiesen wurde dabei beispielsweise auf die Erarbeitung wissenschaftlicher Studien zu migrantischen BetriebsrätInnen (vgl. Interview ÖGB_BR_01); oder allgemein darauf, dass „Felder, die für Integration wichtig sind, studienmäßig erfasst werden […] mit der Option, politikmächtiges Handeln daraus ableiten zu können“ (Interview AK_LF_02).

Einmal entwickelt, sollen die angesprochenen Positionen, wie manche InterviewpartnerInnen betonten, auch (c) offensiv nach außen kommuniziert werden. Dafür infrage kämen Kampagnen, die verschiedene AkteurInnen einbinden und adressieren (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_03, AK_LF_02), oder auch klassische Pressearbeit, die – wie eine Tiroler Gewerkschaftssekretärin meinte – auch als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der Zielgruppe wirke:

Das ist ganz wichtig […]. Wir machen auch immer wieder diesbezüglich Aussendungen, Pressearbeit. Jetzt zum Beispiel zu „50 Jahre Gastarbeiter“ haben wir eine Presseaussendung geschrieben. […] Und ja, das ist für die schon von Relevanz: Ich merk schon, dass in letzter Zeit das Vertrauen uns gegenüber wesentlich höher geworden ist (Interview ÖGB_LF_01).

Schließlich sahen viele der interviewten GewerkschafterInnen (d) die Vernetzung nach außen im Sinne des Coalition-Building mit migrantischen Selbstorganisationen und Community-Einrichtungen sowie mit NGOs und unabhängigen Beratungseinrichtungen als zentral an. Im Beratungsalltag funktioniere dies vor allem im Bereich der etablierten Einrichtungen von ÖGB und/oder AK vielerorts gut (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_01; AK_BR_02), was zum Teil auch für die internationalen Kooperationsprojekte gelte (vgl. u. a. Interviews KP_BR_02, KP_LF_03). Jenseits davon, also beispielsweise im Rahmen politischer Kampagnen, passiere dies bislang aber nur punktuell bzw. anlassbezogen (vgl. u. a. Interview ÖGB_LF_03, AK_LF_02).

5 Schlussfolgerungen

Auf der Basis der in Tab. 1 in komprimierter Form dargestellten Ergebnisse unserer Untersuchung zu Gütekriterien gewerkschaftlicher Beratungs- und Unterstützungsarbeit für MigrantInnen lassen sich im Anschluss an Penninx und Roosblad (2000) bzw. Wlecklik (2013) mit Blick auf die forschungsleitende Frage folgende Schlussfolgerungen ziehen: Was die Serviceebene anbelangt, ist mit Wlecklik gesprochen eine „zielgruppenspezifische Ansprache der Beschäftigten mit Migrationshintergrund“ anzustreben. Mit Blick auf das dritte von Penninx und Roosblad formulierte Dilemma setzt dies voraus, dass aufgrund der besonderen Bedürfnisse und Interessen von MigrantInnen die Entwicklung spezieller Angebote durch Gewerkschaften erforderlich ist.

Wie aus den Interviews hervorging, ist der ausschließliche Fokus auf die Serviceebene für eine erfolgreiche Adressierung von MigrantInnen als (neue) Zielgruppe jedoch unzureichend. In der Literatur zum Thema wird in diesem Zusammenhang entsprechend auf die Notwendigkeit eines „comprehensive effort“ (Milkman und Wong 2001, S. 128) verwiesen. Laut Milkman und Wong bedürfen solche Angebote nämlich der Ergänzung durch Veränderungen auf Ebene der Organisation (Stichwort: „effectively incorporating immigrants into leadership at all levels“) bzw. auf Ebene der Gesellschaft (Stichwort: „signal its support of immigrant workers on a broader level“) (vgl. ebd.; vgl. ähnlich Fitzgerald und Hardy 2010, S. 140 ff.).

Entsprechend ist flankierend zu den dargestellten Maßnahmen auf der Serviceebene auf Ebene der Organisation das zu entwickeln, was Wlecklik eine „interkulturell ausgerichtete Personal- und Organisationspolitik“ nennt. Mit Blick auf das zweite von Penninx und Roosblad dargelegte Dilemma impliziert dies, dass das erstrebenswerte Ziel einer vollen Inklusion von MigrantInnen nicht bloß die Zuerkennung gleicher Rechte, sondern eine Transformation der gesamten Organisation(-skultur) erfordert (vgl. auch Artus 2011, S. 227; Adler und Cornfield 2014, S. 42 ff.). Auf Ebene der Gesellschaft schließlich geht es im Anschluss an Wlecklik um eine „Themensetzung für MultiplikatorInnen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“. Im Hinblick auf das erste von Penninx und Roosblad formulierte Dilemma setzt dies eine Neupositionierung von Gewerkschaften im Sinne der Verschiebung des Akzents von einer vornehmlich restriktiv-ausschließenden zu einer stärker solidarisch-einschließenden Haltung gegenüber MigrantInnen voraus (vgl. auch Alberti et al. 2014, S. 129; Schröder 2015, S. 16 ff.).

Letztlich weisen die im vorliegenden Artikel beispielhaft behandelten Beratungs- und Unterstützungspraxen Wege in Richtung einer gewerkschaftlichen Erneuerung, die den Einsatz für die Stärkung der Organisationsmacht von MigrantInnen zu einer zentralen Grundlage der organisationseigenen Stärke von Gewerkschaften macht.