Bei ihrem Versuch, MigrantInnen mit der Absicht ihrer gewerkschaftlichen Organisierung als (neue) Zielgruppe zu adressieren, verfolgen die österreichischen ArbeitnehmerInnenorganisationen im Rahmen der Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen bislang vorrangig eine Dienstleistungsstrategie. Wie die Interviews mit den GewerkschafterInnen verdeutlichten, lässt sich diese Strategie jedoch nicht auf einen simplen Service-Ansatz reduzieren. Ähnlich wie im Falle internationaler Beispiele guter Praxis (vgl. etwa Benz 2014, S. 208 f.; Fine und Holgate 2014, S. 146 f.) kam es auch in Österreich zu einer Erweiterung des gewerkschaftlichen Strategierepertoires, indem Elemente traditioneller Dienstleistungsansätze mit solchen innovativer Organisierungsansätze gekoppelt wurden (vgl. etwa Hammer 2010a, S. 34/42 f.). Unter anderem aufgrund dieses – in der Literatur als „Organizing by servicing“ (Greer et al. 2013, S. 12) bezeichneten – Modells scheint es sinnvoll, die auf der Serviceebene lokalisierten Maßnahmen im Kontext umfassenderer Versuche einer gewerkschaftlichen Erneuerung zu verorten.Footnote 9
Die im Folgenden dargestellten Gütekriterien, die wir aus den ExpertInneninterviews extrahieren konnten, werden entlang dreier Achsen sortiert. Dabei bezieht sich die Darstellung auf zwei zentrale Referenzen (vgl. Griesser und Sauer 2014, S. 64 ff.): Einerseits geht es um drei für das Verhältnis von Gewerkschaften zu Fragen der Migration verbindliche Dilemmata, die Rinus Penninx und Judith Roosblad (2000) in ihrer Studie Trade Unions, Immigration, and Immigrants in Europe herausgearbeitet haben. Das erste Dilemma betrifft die Entscheidung zwischen Kooperation oder Widerstand im Zusammenhang mit der Anwerbung bzw. Beschäftigung von MigrantInnen; das zweite bezieht sich auf die Frage ihrer (vollen) Inklusion in bzw. ihrer (partiellen) Exklusion aus gewerkschaftlichen Strukturen; und das dritte zielt auf die Wahl zwischen der Anwendung gleicher und der Entwicklung spezieller Maßnahmen für MigrantInnen. Andererseits greift die Darstellung einen Vorschlag von Petra Wlecklik (2013) auf, der mit Blick auf ein Fallbeispiel aus Deutschland entwickelt wurde. Dieser ordnet die gewerkschaftlichen Aktivitäten im Rahmen eines topologischen Modells drei Ebenen – der Serviceebene, der Ebene der Organisation bzw. der Ebene der Gesellschaft – zu, auf denen auch die Dilemmata von Penninx und Roosblad lokalisiert werden können (vgl. dazu Tab. 1). Von zentraler Bedeutung wird aufgrund der dargelegten Dominanz der Dienstleistungsstrategie im Folgenden die erstgenannte Ebene sein.
Tab. 1 Gütekriterien einer gewerkschaftlichen Adressierung von MigrantInnen in Österreich. (Quelle: Eigene Erhebungen)
Faktoren auf der Serviceebene
Die Gütekriterien einer solidarischen Beratungs- und Unterstützungsarbeit auf der Serviceebene umfassen – wegen der häufig prekären Situation und der daraus resultierenden Vulnerabilität der Zielgruppe – laut den interviewten GewerkschafterInnen möglichst niederschwellige Angebote für MigrantInnen.
In Bezug auf (a) das Personal ergeben sich daraus Gütekriterien wie Sprach- und „interkulturelle Kompetenzen“, rechtliche und vor allem praktische Expertise, „Parteilichkeit“ sowie Vernetzung in der Community: Während die Bedeutung „interkultureller Kompetenzen“ bzw. eigener Migrationserfahrungen aufseiten der BeraterInnen in den Interviews nur vereinzelt angesprochen wurde (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_04, AK_BR_03), bestand in Bezug auf die Relevanz entsprechender Sprachkompetenzen weitgehende Einigkeit (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_02, KP_BR_01). Was die erforderliche Expertise anbelangt, blieb der inhaltliche Schwerpunkt – für gewerkschaftliche Einrichtungen wenig überraschend – über die Jahrzehnte hinweg unverändert im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts. Ebenso unverändert blieb in der Regel jedoch für die BeraterInnen die Notwendigkeit, auch in anderen Feldern über rechtliche (z. B. zum Fremdenrecht) bzw. praktische Expertise (z. B. zu relevanten Behörden) zu verfügen (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, KP_LF_03). Vor allem seitens der ersten Generation von BeraterInnen, die zwischenzeitlich überwiegend bereits pensioniert sind, wurde zudem die Bedeutung einer „parteilichen“ Beratung im Interesse der Ratsuchenden akzentuiert, also – wie ein oberösterreichischer Gewerkschafter es formulierte – „dass man dieses Vertrauen hat: Der ist auf unsrer Seite“ (Interview ÖGB_BR_03). Vornehmlich von Angehörigen dieser Generation wurde darüber hinaus auch die Verankerung und der Status der BeraterInnen in der jeweiligen Community als ein relevanter Faktor betrachtet (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_05, AK_BR_01).
Hinsichtlich (b) der Kanäle, über die Informationen zu den Angeboten verbreitet werden, wurde in den Interviews auf einen zentralen und eine Reihe ergänzender Kanäle verwiesen: In keinem anderen Punkt bestand dabei – über alle historischen und geografischen Distanzen zwischen den einzelnen Einrichtungen hinweg – größere Einigkeit unter den BeraterInnen als im Hinblick auf die Bedeutung von Mundpropaganda als zentralem Kanal für die Verbreitung von Informationen zu den Angeboten (vgl. u. a. Interviews KP_BR_01, AK_LF_01). Weniger Einigkeit gab es im Hinblick auf die Frage der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Während diese seitens einzelner Einrichtungen mit Blick auf vor allem Regional- und Lokalmedien in anlassbezogener Form betrieben wurde (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_01, KP_LF_03), fokussierten andere auf gewerkschaftliche bzw. auf Medien der relevanten Communitys (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_BR_04) oder verzichteten auf entsprechende Aktivitäten (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_02, AK_LF_01). Hinzu kamen von den Einrichtungen selbst produzierte Drucksorten (z. B. Plakate, Folder), die in Betrieben, Community- und anderen Einrichtungen verteilt wurden (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_01, KP_BR_02). Vor allem in jüngster Zeit gewannen zudem E-Mail- und diverse andere Social-Media-Kanäle sowie der Webauftritt der verschiedenen Einrichtungen als Informationsmedien an Bedeutung (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_04, KP_LF_03).
In Bezug auf (c) die Rahmenbedingungen wurde in medialer sowie inhaltlicher Hinsicht Vielfalt als zentrales Gütekriterium bemüht und in geografischer sowie zeitlicher Hinsicht Flexibilität: Was die Beratungs- und Informationsmedien anbelangt, wurde in den Interviews die Bedeutung vielfältiger Angebote betont. Lief dies in den ersten Jahrzehnten vor allem darauf hinaus, neben der persönlichen auch telefonische Beratung anzubieten und Informationen zudem etwa über Broschüren zu verbreiten (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_02, ÖGB_BR_05), so spielt neuerdings E-Mail als Beratungsmedium eine zunehmend wichtigere Rolle (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_04, KP_BR_01). Trotz des bereits angesprochenen Fokus auf arbeits- und sozialrechtliche Themen war Vielfalt darüber hinaus auch hinsichtlich der im Rahmen der Beratung abzudeckenden Rechts-Materien von zentraler Bedeutung. Als „Mädchen für alles“ (Interview ÖGB_BR_02) informierten die BeraterInnen deshalb auch in formeller bzw. informeller Form zu zahlreichen weiteren Themen (z. B. Steuern, Aufenthalt, Familie) (vgl. u. a. Interviews KP_BR_02, AK_BR_01). Vor allem während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens war es zudem üblich, dass die muttersprachliche Beratung nicht bloß in den Gewerkschaftszentralen, sondern auch in den Bezirks- bzw. Regionalsekretariaten des ÖGB oder bei den Teilgewerkschaften angeboten wurde (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_03, ÖGB_BR_05). Das galt in vergleichbarer Form für die internationalen Kooperationsprojekte, die jenseits ihrer Zentralen stets auch über ein Netz an Außenstellen verfügten (vgl. u. a. Interviews KP_BR_01, KP_LF_02). Darüber sowie durch das gezielte Aufsuchen von Betrieben bzw. anderen einschlägigen Orten (z. B. Grenzübergängen) sollte es gelingen, durch geografische Flexibilität im Sinne der angesprochenen Niederschwelligkeit „näher an die Leute zu kommen“ (Interview KP_LF_03). Aus ähnlichen Gründen versuchte man vielerorts lange Zeit, „solche bürokratischen Sachen“ (Interview ÖGB_BR_03) wie fixe Beratungszeiten oder obligatorische Voranmeldungen zu vermeiden. Zwischenzeitlich ist letzteres zwar in den meisten Einrichtungen Usus; nichtsdestotrotz ist man zumeist auch weiterhin um zeitliche Flexibilität bemüht (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_LF_01).
Bei den einzelnen Projekten von unterschiedlicher Bedeutung, im Hinblick auf die Frage gewerkschaftlicher Organisierung jedoch zentral, waren bzw. sind schließlich (d) Angebote, welche die Beratungstätigkeit im engeren Sinn ergänzen: Neben (telefonischen) Interventionen bei und zum Teil auch persönlichen Begleitungen zu ArbeitgeberInnen und Behörden umfasste dies vor allem die Weitervermittlung in den Rechtsschutz der zuständigen Teilgewerkschaft bzw. der Arbeiterkammern. Unter anderem in Abhängigkeit von den personellen Ressourcen der jeweiligen Einrichtung kam mitunter Informations- und Bildungsarbeit oder auch Betriebs- und aufsuchende Arbeit hinzu (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, KP_LF_02).
Neben den dargestellten Faktoren auf der Serviceebene wurden in den Interviews von den GewerkschafterInnen aber auch flankierende Maßnahmen auf Ebene der Organisation bzw. der Gesellschaft angesprochen, worauf im Folgenden kurz eingegangen werden soll.
Faktoren auf der Ebene der Organisation
Auf der Ebene der Organisation wurde von vielen Interviewten unter anderem mit Verweis auf entsprechende Wünsche seitens migrantischer BetriebsrätInnen (a) die Schaffung einer Einrichtung innerhalb der Organisation angeregt, in der migrations- und integrationspolitische Verantwortlichkeiten und Kompetenzen gebündelt werden sollen (vgl. u. a. Interview ÖGB_BR_01, AK_LF_02). Dies sei, wie ein oberösterreichischer Gewerkschafter betont, in der Vergangenheit auch immer wieder Gegenstand von Forderungen gewesen:
Wir haben immer wieder von der Zentrale verlangt, dass es in der Organisationsform des ÖGB ein Migrationsreferat oder -sektion oder -abteilung geben soll […]. Das war immer eine Forderung von uns in Kongressen […]; hat’s aber nie gegeben. Ich werd’s wahrscheinlich auch nicht erleben (Interview ÖGB_BR_03).
Daneben plädierten mehrere Interviewte für (b) die Schaffung einer Plattform innerhalb der Organisation, über die im gewerkschaftlichen Rahmen die Selbstorganisation und -vertretung der Zielgruppe ermöglicht werden soll, wofür es in Österreich auch bereits einige Beispiele guter Praxis gebe (z. B. das 2009 beim ÖGB Oberösterreich eingerichtete Kompetenzzentrum Migration) (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_03, ÖGB_BR_04).
Ein weiterer in den Interviews wiederholt angesprochener Aspekt war (c) die Verfolgung einer Diversitäts-Strategie in der gesamten Organisation zwecks Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse und Interessen von MigrantInnen im Rahmen aller internen und Außenbeziehungen (vgl. u. a. Interviews AK_LF_01, AK_LF_02). In gewerkschaftlichen Kreisen wurde hier vor allem die Bedeutung der Bildungsarbeit akzentuiert, um die „interkulturelle Kompetenz“ von Hauptamtlichen und FunktionärInnen ebenso wie von BetriebsrätInnen – auch jenseits der mit dem Thema befassten Kreise – zu vertiefen (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_BR_03).
Darüber hinaus sprachen viele Interviewte (d) die Stärkung der Vernetzung als wichtigen Aspekt an – und zwar sowohl „innerhalb des Hauses“ (zwischen Selbstvertretungs-, politischen und Serviceabteilungen) als auch jenseits davon (innerhalb des ÖGB bzw. der AK; zwischen ÖGB, AK und Teilgewerkschaften) (vgl. u. a. Interviews KP_BR_02, AK_BR_03). Besonders häufig wurde dabei – zum Teil unter Verweis auf (historische) Erfahrungen in diesem Feld – der Wunsch nach Möglichkeiten des Austauschs und der Vernetzung unter den BeraterInnen selbst artikuliert (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_02, AK_BR_01). Vor allem die mit den grenzüberschreitenden Kooperationsprojekten verbundenen GewerkschafterInnen akzentuierten zudem die Bedeutung des transnationalen Wissenstransfers im gewerkschaftlichen Rahmen (vgl. u. a. Interviews KP_LF_01, KP_LF_03).
Als kontroversester Punkt wurde schließlich in nahezu allen Interviews (e) auf die Frage einer verstärkten Repräsentation von MigrantInnen auf Ebene der Hauptamtlichen und FunktionärInnen eingegangen. Im Hinblick auf das Ziel bestand dabei zwar weitgehende Einigkeit (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_03, ÖGB_LF_01). Was die dafür zum Einsatz zu bringenden Mittel anbelangt – konkret etwa Maßnahmen wie Affirmative Action in der Personalpolitik oder Quotenregelungen bei der Vergabe von Funktionen –, dominierte jedoch Ambivalenz (vgl. u. a. Interviews ÖGB_BR_01, ÖGB_BR_04).
Faktoren auf der Ebene der Gesellschaft
Auf der Ebene der Gesellschaft wurde unter anderem (a) auf die Notwendigkeit der Entwicklung klarer Standpunkte zu migrations- und integrationspolitischen Fragen verwiesen. In der Perspektive mancher InterviewpartnerInnen soll dies entweder im Rahmen umfassender Positions- bzw. Standpunktpapiere passieren (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_03, AK_LF_03); oder auch in Bezug auf konkrete Themen wie etwa die Übergangsfristen für die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit von BürgerInnen der neuen EU-Mitgliedstaaten (vgl. u. a. Interview KP_LF_03, ÖGB_LF_01).
Um eine solche Positionierung vor dem Hintergrund lückenhafter Wissensbestände zu ermöglichen, sei es laut mehreren Interviewten zudem von zentraler Bedeutung, (b) Wissen zu generieren und Expertise zu entwickeln. Verwiesen wurde dabei beispielsweise auf die Erarbeitung wissenschaftlicher Studien zu migrantischen BetriebsrätInnen (vgl. Interview ÖGB_BR_01); oder allgemein darauf, dass „Felder, die für Integration wichtig sind, studienmäßig erfasst werden […] mit der Option, politikmächtiges Handeln daraus ableiten zu können“ (Interview AK_LF_02).
Einmal entwickelt, sollen die angesprochenen Positionen, wie manche InterviewpartnerInnen betonten, auch (c) offensiv nach außen kommuniziert werden. Dafür infrage kämen Kampagnen, die verschiedene AkteurInnen einbinden und adressieren (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_03, AK_LF_02), oder auch klassische Pressearbeit, die – wie eine Tiroler Gewerkschaftssekretärin meinte – auch als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der Zielgruppe wirke:
Das ist ganz wichtig […]. Wir machen auch immer wieder diesbezüglich Aussendungen, Pressearbeit. Jetzt zum Beispiel zu „50 Jahre Gastarbeiter“ haben wir eine Presseaussendung geschrieben. […] Und ja, das ist für die schon von Relevanz: Ich merk schon, dass in letzter Zeit das Vertrauen uns gegenüber wesentlich höher geworden ist (Interview ÖGB_LF_01).
Schließlich sahen viele der interviewten GewerkschafterInnen (d) die Vernetzung nach außen im Sinne des Coalition-Building mit migrantischen Selbstorganisationen und Community-Einrichtungen sowie mit NGOs und unabhängigen Beratungseinrichtungen als zentral an. Im Beratungsalltag funktioniere dies vor allem im Bereich der etablierten Einrichtungen von ÖGB und/oder AK vielerorts gut (vgl. u. a. Interviews ÖGB_LF_01; AK_BR_02), was zum Teil auch für die internationalen Kooperationsprojekte gelte (vgl. u. a. Interviews KP_BR_02, KP_LF_03). Jenseits davon, also beispielsweise im Rahmen politischer Kampagnen, passiere dies bislang aber nur punktuell bzw. anlassbezogen (vgl. u. a. Interview ÖGB_LF_03, AK_LF_02).