Eine nächtliche Straßenszene in al-Raqqa: Menschen drängen durch die Straßen, am Markt wird eingekauft. Süßigkeiten sind im Überfluss und in großer Auswahl vorhanden. Der nächtliche Himmel wird durch ein Feuerwerk erleuchtet. Die geschilderte Szene ist eine von fünf zentralen Szenen im Rahmen des ca. fünfminütigen Videos ‘Īd al ‘Aḍḥā Atmosphere in al-Raqqah City (2015), das vom „Islamischen Staat“ am 28. September 2015 verbreitet wurde. Es thematisiert Feierlichkeiten anlässlich des islamischen Opferfestes, das zu den bedeutendsten Festen im islamischen Jahreskreis zählt. Bei diesem Fest wird traditionell ein Tier geopfert. Dieses Opferritual wird im Video durch eine Szene am Viehmarkt und eine Schlachthofszene angedeutet. Auch das Video ‘Īd [al ‘Aḍḥā] Under the Shade of the Caliphate (2015), das vom „Islamischen Staat“ am 26. September 2015 veröffentlicht wurde, thematisiert einen Tag im Rahmen des viertägigen Opferfestes. Die Klammer bilden Spielplatzszenen mit Kindern, bevor das Video einen Tagesablauf präsentiert – vom Muezzin-Ruf bei Sonnenaufgang über das gemeinsame Gebet in der Moschee bis zur Verabschiedung der Gläubigen. Auch die für das Fest typische Schlachtung von Opfertieren wird gezeigt.
Das Video ‘Īd al-Fiṭr in the City of al-Raqqah, das vom „Islamischen Staat“ am 19. Juli 2015 veröffentlicht wurde, beschäftigt sich ebenfalls mit Szenen eines Feiertages, nämlich des Fastenbrechens am Ende des Fastenmonats Ramadan. Nächtliche Feierstimmung, Jahrmarktszenen und die Verteilung von Geschenken durch IS-Anhänger sind die zentralen Bilder dieses Videos.
Das Video Da’wah Forum in al-Raqqah City (2015), das vom „Islamischen Staat“ am 16. Juli 2015 verbreitet wurde, zeigt eine missionarische Veranstaltung der Terrormiliz in al-Raqqa unter reger Beteiligung der Bevölkerung. Mitglieder des „Islamischen Staates“ unterhalten die TeilnehmerInnen mit der Organisation von Spielen, dem Verteilen von Geschenken sowie mit Reden und Gesängen.
Die Utopie des Kalifats und die Implementierung seiner Ordnung in der IS-Hauptstadt al-Raqqa wird in den vier Videobotschaften durch die Auswahl bestimmter thematischer Aspekte und ihre dramaturgische Strukturierung in Form von Szenen sichtbar, die sich zu drei thematischen Frames verdichten. Diese Frames – Alltag, Gemeinschaft und Religiosität – sind eng miteinander verbunden und weisen daher auch inhaltliche Überschneidungen auf. So wird Religiosität beispielsweise als eigener Frame im Rahmen von Gebets- und Moscheeszenen oder in Interviewsequenzen mit Testimonials aus der Bevölkerung sichtbar. Religiosität ist allerdings auch ein fester Bestandteil des Alltags und ein wesentliches gemeinschaftskonstituierendes Element. Der Kauf von Opfertieren ist Bestandteil des religiösen Rituals. Die Verabschiedung nach dem gemeinsamen Gebet ist eine Szene, in der Gemeinschaft sichtbar wird, die ohne den religiösen Aspekt nicht denkbar wäre.
Quer zu den drei thematischen Frames liegt ein visueller Rahmen, der die physische und symbolische Präsenz des IS in al-Raqqa betrifft. Der visuelle Frame wird durch Motive ausgestaltet, die ein wichtiger Bestandteil der drei thematischen Frames sind. Dadurch wird deutlich, dass auch Bilder einen thematischen Rahmen setzen können. Ich möchte im Folgenden kurz auf diese vier Frames eingehen:
Alltagsframe
Der Alltags-Frame wird über Bildmotive ausgestaltet, die auf geregelte Abläufe in der Hauptstadt des IS schließen lassen: Eine funktionierende Versorgung wird durch Marktszenen oder die Schlachtung von Tieren nahe gelegt. Die Marktstände sind gut ausgestattet, es gibt ein vielfältiges Angebot und eine große Auswahl an Speisen. Dabei wird augenfällig, dass es sich nicht um eine Grundversorgung mit dem Notwendigsten, sondern um ein reichhaltiges Warenangebot handelt. Die Sichtbarkeit moderner technischer Geräte im öffentlichen Raum (z. B. Mobiltelefone, elektronische Registrierkassen, Computer) legen darüber hinaus einen hohen Standard und eine gute Versorgung im technologischen Bereich nahe.
Gemeinschaftsframe
Der Gemeinschafts-Frame wird über Bildmotive ausgestaltet, die ein freud- und friedvolles Miteinander der Menschen in al-Raqqa zeigen: Kinder, die auf einem Spielplatz unter dem wachsamen Auge von Erwachsenen spielen, Gläubige, die sich zum Gebet in der Moschee einfinden, die Bevölkerung, die als KonsumentInnen auf Märkten oder in den Straßen sowie als TeilnehmerInnen an Veranstaltungen im öffentlichen Raum in Erscheinung tritt. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Präsentation von Kindern, die in den meisten Szenen präsent sind und durch ihre Anwesenheit auf die Zukunft der Gemeinschaft verweisen. Ausgelassene Spielplatz- und Jahrmarktszenen lassen darauf schließen, dass es sich um ein freudvolles Gemeinschaftsleben handelt.
Religiositätsframe
Der Religiositäts-Frame wird über Bildmotive ausgestaltet, die auf eine zentrale Bedeutung von Spiritualität und Religiosität im Alltag der Bevölkerung schließen lassen. Gebets- und Predigtszenen in der Moschee nehmen einen breiten Raum ein und sind selbstverständlich in den Tagesablauf integriert. Der Religiositätsframe wird aber nicht nur im Rahmen von Moscheeszenen sichtbar, sondern auch bei missionarischen Veranstaltungen im öffentlichen Raum, den Caliphate Celebrations. Bei diesen Veranstaltungen wird dem selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und gefeiert. Die Bedeutung der Religion und ihr Stellenwert im Kalifat stehen auch im Zentrum der Wortmeldungen von Testimonials aus der Bevölkerung.
Visueller Frame: physische und symbolische Präsenz des IS
Ein visueller Frame, der quer zu den Themen Alltag, Gemeinschaft und Religiosität liegt, ist die Präsenz von Angehörigen des IS. Sie organisieren Veranstaltungen im öffentlichen Raum (Caliphate Celebrations), werden bei missionarischen Tätigkeiten (Da’wa) gezeigt, verteilen kleine Geschenke und Symbole des IS (siehe Abb. 1) oder organisieren Spiele (wie beispielsweise das Sesselspiel „Reise nach Jerusalem“). Die Angehörigen des IS werden dabei nicht als Kämpfer inszeniert, sondern als aktive Mitglieder der Gemeinschaft sowie als Missionare, die zur lokalen Bevölkerung in einem freundlichen und unterstützenden Verhältnis stehen. Diese Inszenierung steht in deutlichem Kontrast zur Selbstpräsentation des IS als skrupellose Kämpfer, brutale Schlächter und Zerstörer von Kulturgütern, wie sie im Rahmen zahlreicher Terrorbotschaften sichtbar wird. Auch die für den IS typische moralische Polizierung der Bevölkerung durch so genannte Hisbah-Milizen bleibt ausgespart.
Über die physische Präsenz hinaus ist der IS auch symbolisch im öffentlichen Raum anwesend. Diese symbolische
Präsenz wird einerseits durch eine für den IS typische Geste sichtbar – den ausgestreckten Zeigefinger der rechten
Hand –, andererseits durch IS-Logos auf Fahnen, Kleidungsstücken oder Kopfbedeckungen. Für den IS wurde der
ausgestreckte Zeigefinger der rechten Hand zu einer symbolischen Geste, vergleichbar mit dem Erkennungszeichen von
Gangs (Zelinsky 2014). Der Einsatz von Handzeichen ist im Mittleren Osten
keine Seltenheit. Verschiedene Gruppierungen – von der Muslimbruderschaft in Ägypten bis zu kurdischen Gruppen im Irak
– verwenden Handzeichen, um politische Botschaften mitzuteilen (vgl. ebd.):
When ISIS militants hold
up a single index finger on their right hands, they are alluding to the tawhid, the
belief in the oneness of God and a key component of the Muslim religion. The tawhid
comprises the first half of the shahada, which is an affirmation of
faith, one of the five pillars of Islam, and a component of daily prayers: „There is no god but Allah, Muhammad is the
messenger of Allah.“
Der Verweis auf die Schahāda, das Glaubensbekenntnis des Islams, ist nicht überraschend. Sie findet sich auch auf der Fahne des IS. Der IS-Finger ist allerdings mehr als der Ausdruck eines monotheistischen Glaubens. Er verweist vielmehr auf eine fundamentalistische Interpretation des Glaubens, das andere Auslegungen als götzendienerisch abwehrt:
When ISIS militants display the sign, to one another or to a photographer, they are actively reaffirming their dedication to that ideology, whose underlying principle demands the destruction of the West (Zelinsky 2014).
Der Historiker Nathaniel Zelinsky erklärt, dass der IS-Finger sich nicht zuletzt an ein westliches, mehrheitlich nicht arabischsprachiges Publikum richtet, um theologische Überlegenheit und militärische Hegemonie zu kommunizieren (vgl. ebd.).
Ein weiteres Element der symbolischen Präsenz des IS ist die schwarze Fahne mit weißer Schrift, auf dem die beiden Teile der Schahāda, des islamischen Glaubensbekenntnisses, zu sehen sind. Der erste Teil („Es gibt keinen Gott außer [den einen] Gott“) wurde durch den zweiten Teil („Mohammed ist der Prophet Gottes“) in Form des Prophetensiegels ergänzt. Die Fahne wird auf Fahrzeugen, Uniformen, Kopfbedeckungen, Gebäuden sowie als Logo in Propagandavideos gezeigt. Das Symbol soll dem IS die gewünschte Legitimität und den Anspruch verleihen, ein Staat für alle Muslime zu sein. Die Fahne wird aber nicht nur als zentrales staatliches Symbol eingesetzt, sondern gewinnt darüber hinaus besondere Bedeutung durch Raumbesetzungs- und Eroberungspraktiken des IS, wie sie in zahlreichen Videobotschaften sichtbar werden. Wann immer der IS in Gebiete vordringt oder sie besetzt, ist die Fahne als visuelle Markierung sowie als Zeichen der Eroberung präsent.
Der visuelle Frame einer physischen und symbolischen Präsenz des IS ist Bestandteil aller vier Videos. Der Umstand, dass der Frame in den thematischen Rahmen Alltag, Gemeinschaft und Religiosität sichtbar wird, legt seine Bedeutung für die strategische Kommunikation des IS und die Ausgestaltung der Utopie des Kalifats nahe. Alltag, Gemeinschaft und Religiosität werden durch das Wirken des IS in al-Raqqa erst ermöglicht.