Zusammenfassung
Die Mobilitätsforschung hat betont, dass ethnografische Forschungsfelder oft multilokal und beweglich sind, und fordert zu mobileren Strategien auf. Dieser Beitrag fokussiert hingegen die Praxis des Ethnografierens im Sinne einer ethnografischen Arbeitsplatzstudie. Dabei zeigt sich, dass auch die ‚Schreibtischarbeit‘ von vielfältigen Bewegungen gekennzeichnet ist. Diese lassen sich allerdings nur herausarbeiten, wenn man den Blick auf vielfältige materielle Partizipanden des Ethnografierens (und nicht nur Personen) und ihre Mobilitäten ausweitet. Durch ein geschickt austariertes Wechselspiel von Mobilisierungen und Immobilisierungen werden flüchtige Daten zu wissenschaftlichen Studien und Forschende zu soziologischen Akteuren stabilisiert. Die ethnografische Beweglichkeit steht dabei mit größeren gesellschaftlichen Mobilitätsregimes in Wechselwirkung.
Abstract
Mobility studies have stressed that ethnographic research fields are often multi-sited and mobile, and have therefore encouraged more flexible strategies. This paper, however, focuses on the practice of ethnographic work, constituting an in itself ethnographic workplace study. It shows that not only the field but also scientific ‘desk work’ is characterized by diverse movements. Yet, these can only be unraveled if multiple material participants (and not only persons) and their mobilities are scrutinized. The article argues that in a skillfully balanced interplay of mobilities and immobilities, ephemeral data is stabilized as scientific studies and researchers turned into academic actors. At the same time, ethnographic mobility is highly influenced by bigger social mobility regimes.
Notes
Um eine geschlechtergerechte Formulierung zu gewährleisten, changiere ich im Folgenden zwischen männlichen und weiblichen Formen, mit denen ich immer alle Geschlechter gleichermaßen meine (sofern der Kontext nicht einen bestimmten Bezug vorgibt).
Klassische Workplace Studies fokussieren die Rolle von Technologie und konzentrieren sich zumeist auf fest lokalisierte, also wortwörtliche ‚Arbeits-Plätze‘ in Mobilitätssystemen, wie Flughafen-Kontrollräume (Harper und Hughes 1993; Suchman 1993; Goodwin und Goodwin 1997) oder Kontrollräume von Untergrundbahnen (Heath und Luff 1992; Filippi und Theureau 1993).
Orte, Beschäftigungsverhältnisse und Forschungsthemen sind hier abgeändert, um Anonymität zu gewährleisten. Bei diesen Tagebuch-Autorinnen und den interviewten Ethnografen handelt es sich vornehmlich um Nachwuchswissenschaftler in der späten Promotions- oder in der PostDoc-Phase. An dieser Stelle sei ihnen allen für ihre Bereitschaft gedankt, zu diesem Projekt beizutragen.
In dieser Diskussion gibt es allerdings sehr verschiedene Positionen dazu, inwiefern virtuelles Geschehen eine Verortung braucht, also der geografische Ort der vor dem Screen sitzenden Körper und der entsprechende Kontext in die Analyse mit einbezogen werden müssen (Miller und Slater 2000).
Die Darstellung als akademisches Selbst erfolgt zudem auch in einer weiteren ortlosen Ortsanbindung, nämlich über Personenseiten auf Institutshomepages: Hier wird nicht nur der ‚berufliche Werdegang‘ dokumentiert, sondern auch Zugehörigkeiten und Publikationserfolge (vgl. Buková 2011).
Nicht selten berichten Forscherinnen, dass ihre in dieser Formation passivierten Körperteile auf die Schreibtischhaltung als physisches Accomplishment aufmerksam machen: Rücken schmerzen, Nacken spannen und fordern dazu auf, das Schreiben zu unterbrechen, um gymnastisches Wissen zu mobilisieren und mit diesem auch die Wirbelsäule.
Watts (2006, S. 10) stellt fest, dass man mobilitätsanalytisch auch von einem „traveller“ eigentlich nur im Sinne einer schon entfalteten Assemblage sprechen kann, denn erst gemeinsam mit den auf der Gepäckablage, dem Tischchen oder dem Nebensitz entpackten Dingen wird ‚Reisezeit‘ hergestellt. Mit Blick auf die Dinge scheint Watts allerdings zu entgehen, dass manche Reisende sich ‚lediglich‘ kommunikativ ausbreiten und auf diese Weise Reisezeit herstellen – nämlich als Gelegenheit zu einem Plausch.
So erfordert z. B. die Studie einer Ethnografin, der von ihr beforschten Tanzkompanie zu Proben, Aufführungen und Festivals zu folgen; der Körpersoziologe, der sich für Kampfkünste interessiert, fährt zu Beobachtungen von Trainingscamps von Berlin nach Köln, während er in Hannover eine halbe Stelle hat und dort Seminare gibt. Das Feld einer anderen Forscherin – ein Krankenhaus – liegt in ihrer Heimatstadt, weshalb sie einmal die Woche ‚rückwärts‘ zu ihrem 300 km entfernten arbeitgebenden Soziologie-Institut pendelt, wo sie dann Lehrveranstaltungen hält. Und die Mobilitätsforscherin nutzt Bahnfahrten zur teilnehmenden Beobachtung, während sie sich zwischen Familie, Heimatuniversität und Vertretungsstelle bewegt.
Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass sich diese an sich mobile Formation in manchen Fällen eben doch vornehmlich in einem universitären Büro entfaltet, welches durch eine größere Anzahl Bücher, Datenarchive und Ordner als ‚der Arbeitsplatz‘ markiert wird und wechselwirkend die Forscherin an sich binden kann. Es gibt eben je nach Lebensstil und Beschäftigungsverhältnis auch ‚sesshaftere‘ Ethnografen.
Literatur
Anderson, Nels. 2006 [1923]. The Hobo: The sociology of the homeless man. London: Routledge.
Atkinson, Paul, Amanda Coffey, und Sara Delamont. 1999. Ethnography: Post, past and present. Journal of Contemporary Ethnography 28:460–471.
Bachmann, Götz, und Andreas Wittel. 2006. Medienethnographie. In Qualitative Methoden der Medienforschung, Hrsg. Ruth Ayaß, und Jörg Bergmann, 183–219. Reinbek: Rowohlt.
Bergmann, Jörg. 2008. Medienethnographie. In Handbuch Medienpädagogik, Hrsg. Uwe Sander, Frederike von Gross, und Karl-Uwe Hugger, 328–334. Wiesbaden: Springer VS.
Breidenstein, Georg, Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff, und Boris Nieswand. 2013. Ethnographie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UVK.
Bukvová, Helena. 2011. Scientists online: A framework for the analysis of Internet profiles. First Monday 16. doi: http://dx.doi.org/10.5210/fm.v16i10.3584.
Büscher, Monika, und John Urry. 2009. Mobile Methods and the Empirical. European Journal of Social Theory 12: 99–116.
Büscher, Monika, John Urry, und Katian Witchger. 2011. Mobile Methods. London: Routledge.
Engert, Cornelia, und Björn Krey. 2013. Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen. Zur epistemischen Arbeit an und mit wissenschaftlichen Texten. Zeitschrift für Soziologie 42: 366–384.
Falzon, Marc-Anthony. 2009. Multi-sited ethnography. Theory, Praxis and Locality in Contemporary Research. London: Ashgate.
Filippi, Geneviève, und Jacques Theureau. 1993. Analysing cooperative work in an urban traffic control room for the design of a coordination support System. Proceedings of ECSCW 1993 Mailand: 171–186.
Garfinkel, Harold. 1967. Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs: Prentice Hall.
Geertz, Clifford. 1987. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Goffman, Erving. 1974. Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Goodwin, Charles, und Marjorie Goodwin. 1997. Seeing as situated activity: Formulating planes. In Cognition and Communication at Work, Hrsg. Yrjö Engeström, und David Middleton, 61–95. Cambridge: Cambridge University Press.
Gottschall, Karin, und Günter Voß. 2003. Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag. München: Rainer-Hampp.
Hammersley, Martyn, und Paul Atkinson. 2007. Ethnography: Principles in Practice. New York: Routledge.
Harper, Richard, und John Hughes. 1993. What a f-ing System! Send ’em all to the same place and then expect us to stop ’em hitting. Making technology work in air traffic control. In Technology in working order. studies of work, interaction, and technology, Hrsg. Graham Button, 127–144. London: Routledge.
Heath, Christian, und Paul Luff. 1992. Collaboration and control: Crisis management and multimedia technology in London underground line control rooms. Journal of Computer Supported Cooperative Work 1: 69–94.
Hine, Christine. 2000. Virtual ethnography. London: Sage.
Hine, Christine. 2007. Multi-sited ethnography as a middle range methodology for contemporary STS. Science, Technology, and Human Values 32: 652–671.
Hirschauer, Stefan. 2001. Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung. Zeitschrift für Soziologie 30: 429–451.
Hirschauer, Stefan. 2004. Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Hrsg. Karl H. Hörning, und Julia Reuter, 73–91. Bielefeld: transcript.
Hirschauer, Stefan. 2008. Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis. In Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, Hrsg. Stefan Hirschauer, Herbert Kalthoff und Gesa Lindemann, 165–187. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hirschauer, Stefan. 2010. Die Exotisierung des Eigenen. Kultursoziologie in ethnografischer Einstellung. In Kultursoziologie. Paradigmen-Methoden-Fragestellungen, Hrsg. Monika Wohlrab-Sahr, 207-226. Wiesbaden: VS Verlag.
Hirschauer, Stefan. 2014. Intersituativität. Teleinteraktionen und Koaktivitäten jenseits von Mikro und Makro. Zeitschrift für Soziologie Sonderheft 109–133.
Hirschauer, Stefan, und Klaus Amann. 1997. Die Befremdung der eigenen Kultur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hirschauer, Stefan, und Peter Hofmann. 2012. Schwangerschaftstagebücher. In Transnationale Vergesellschaftungen. Der 35. Kongress der DGS, Hrsg. Hans-Georg Soeffner, Wiesbaden: Springer VS.
Hitzler, Ronald, und Miriam Gothe, Hrsg. 2015. Ethnographische Erkundungen. Methodische Aspekte aktueller Forschungsprojekte. Wiesbaden: Springer VS.
Kalthoff, Herbert. 2014. Die Dinglichkeit der sozialen Welt. Mit Goffman und Heidegger Materialität erkunden. In Interferenzen. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Bildungsforschung, Hrsg. Christiane Thompson, Kerstin Jergus, und Georg Breidenstein, 71–88. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Kalthoff, Herbert, Stefan Hirschauer, und Gesa Lindemann, Hrsg. 2008. Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kesselring, Sven. 2012. Betriebliche Mobilitätsregime. Zur sozio-geografischen Strukturierung mobiler Arbeit. Zeitschrift für Soziologie 41: 83–100.
Kirschner, Heiko. 2015. Zurück in den Lehnstuhl. Lebensweltliche Ethnographie in interaktiven Medienumgebungen. In Ethnographische Erkundungen. Methodische Aspekte aktueller Forschungsprojekte, Hrsg. Ronald Hitzler, und Miriam Gothe, 211–230. Wiesbaden: Springer VS.
Kratzer, Nicole. 2003. Arbeitskraft in Entgrenzung – Grenzenlose Anforderungen, erweiterte Spielräume, begrenzte Ressourcen. Berlin: edition sigma.
Laurier, Eric. 2004. Doing office work on the motorway. Theory Culture und Society 21: 261–277.
Law, John, und John Urry. 2004. Enacting the Social. Economy and Society 33: 390–410.
Lynch, Michael. 2000. Against reflexivity as an academic virtue and source of privileged knowledge. Theory, Culture und Society 17: 26–54.
Lynch, Michael, und David Bogen. 1997. Sociology’s Asociological „Core“. An examination of textbook sociology in the light of the sociology of scientific knowledge. American Sociological Review 62: 481–493.
van Maanen, John. 1995. An end to innocence: The ethnography of ethnography. In Representation in ethnography, Hrsg. J. van Maanen, 1–25. London: Sage.
Malinowski, Bronislaw. 1979 [1922]. Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea. Frankfurt a. M.: Syndikat.
Marcus, George. 1995. Ethnography in/of the World System: The emergence of multi-sited ethnography. Annual Review of Anthropology 24:95–117.
Mauss, Marcel. 1989. Körpertechniken. In:Soziologie und Anthropologie, ders. 199–220. Frankfurt a. M.: Fischer.
Miller, Daniel, und Don Slater. 2000. The internet. An ethnographic approach. Oxford: Berg.
Müller, Sophie Merit. 2016. (im Erscheinen). Körperliche Un-Fertigkeiten. Ballett als unendliche Perfektion. Weilerswist: Velbrück.
Poppitz, Angela. 2007. Mobiles Arbeiten im Zug. Räumliche Entgrenzungen von Arbeitsalltag und Bahnabteil. In Welt.Raum.Körper. Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum, Hrsg. Würmann Carsten, Schuegraf Martina, Sandra Smykalla, und Angela Poppitz, 69–86. Bielefeld: transcript.
Reckwitz, Andreas. 2010. Auf dem Weg zu einer kultursoziologischen Analytik zwischen Praxeologie und Poststrukturalismus. In Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, Hrsg. Monika Wohlrab-Sahr, 179–205. Wiesbaden: Springer VS.
Scheffer, Thomas. 2001. Asylgewährung: eine ethnographische Analyse des deutschen Asylverfahrens. Stuttgart: Lucius und Lucius.
Schindler, Larissa. 2012. Visuelle Kommunikation und die Ethnomethoden der Ethnographie. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 37:165–183.
Selent, Petra, und Dorothee Koch, Hrsg. 2015. Wissenschaftliche Karriere muss man sich leisten können: Mobilität und Drop-Out des wissenschaftlichen Nachwuchses. Stuttgart: UTB.
Sheller, Mimi, und John Urry. 2006. The New Mobilities Paradigm. Environment and Planning A 38:207–226.
Strübing, Jörg. 2013. Qualitative Sozialforschung. Eine komprimierte Einführung für Studierende. München: Oldenbourg.
Suchman, Lucy. 1993. Technologies of accountability: On Lizards and Aeroplanes. In Technology in working order, Hrsg. Graham Button, 113–126. London: Routledge.
Urry, John. 2002. Mobility and proximity. Sociology 36:255–274.
Urry, John. 2003. Social networks, travel and talk. British Journal of Sociology 54:155–175.
Urry, John. 2006. Travelling times. European Journal of Communication 21:357–372.
Vannini, Phillip. 2010. Mobile cultures: From the sociology of transportation to the study of mobilities. Sociology Compass 4:111–121.
Wagner, Alexandra. 2001. Entgrenzung der Arbeit und der Arbeitszeit? Arbeit 10: 365–378.
Watts, Laura. 2006. Travel Times or ,Journeys with Ada‘. Paper presented to Stakeholders Workshop, Department of Transport, London. http://eprints.lancs.ac.uk/4348/1/watts_journeyswithada.pdf (22.05.2015).
Watts, Laura, und John Urry. 2008. Moving methods, travelling times. Environment and Planning D 26:860–874.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Müller, S.M. Wissenschaftliche Alltagsbewegungen. Die mobile Formation ethnografischer Arbeitsplätze. Österreich Z Soziol 41, 33–50 (2016). https://doi.org/10.1007/s11614-016-0187-9
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s11614-016-0187-9