Obgleich die Gründung und Etablierung der Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert eine Erfolgsgeschichte war, zählt es vor den immer wieder neuen Studierendengenerationen der an den Universitäten prosperierenden Disziplin zur Verantwortung der Fachgemeinschaft, inmitten ihrer geschäftigen Betriebsamkeit ab und an innezuhalten. Innezuhalten, um zu fragen, warum, wie und für wen wir eigentlich Soziologie betreiben.

Als Friedrich Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung 1789 dieselbe Frage im Angesicht der Universalgeschichte formulierte, konnte seine damalige Antwort Begeisterungsstürme im zahlreich erschienenen Publikum auslösen. Wer will schon zu den „Brotgelehrten“ gerechnet werden, denen „einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen [ihres Amtes, F. W.] zu erfüllen“, der „Vorteile desselben teilhaftig zu werden“, um letzten Endes nur „eine kleine Ruhmsucht zu befriedigen“ (Schiller 1789, S. 5)? Nein, mit zwanzig Jahren und vielen Hoffnungen an der Alma mater frisch inskribiert, ist es nicht die „Sklavenseele“, die ihre memorierten Kenntnisse und gelernten Fertigkeiten pausenlos zur Schau stellen und für „Gold, … Zeitungslob [… und] Fürstengunst“ zu verwerten suchen muss. Vielmehr ist derjenige „Kopf“ erstrebenswert, der nicht das „Einerlei seiner Schulbegriffe hütet“ (S. 6–9), nicht die Geschichte als ein „Aggregat von Bruchstücken“ (S. 26), sondern „immer das Große im Auge hat“ (S. 10), den Zusammenhang der Phänomene.

Hält man bei allem institutionellen Erfolg der Soziologie inne und überlegt, warum, wie und wozu man tut, was man tut, muss die soziologische Analyse der kognitiven Relevanz des Faches in der Gegenwart nüchterner ausfallen. Denn ist man, erstens, was die Arbeitssituation der zwischen publish or perish, Projektanträgen, Kommissionssitzungen, unzähligen Deadlines und vor allem der neueren numerischen Wissenschaftsevaluation (Adler et al. 2008) zu Foucaults Selbst-Unternehmern gewordenen Soziologie-Tätigen betrifft (Foucault 2010, S. 193), nicht ebenso in einem solchen Betrieb von wechselseitig strategisch sich abschottenden thematischen oder theoretischen Schrebergärten gefangen (in die man aufgrund einer mehr zufälligen Studienortwahl meist kontingent gelangt ist) (Schimank 2012), in welchem man, wie Schillers Brotgelehrter, das „Einerlei seiner Schulbegriffe“ schon aus Gründen der akademischen Überlegensstrategie sorgsam hüten und verteidigen muss (Schiller 1789, S. 9)? Und ist, aus fast denselben Gründen, zweitens, was den Gegenstand der Soziologie betrifft, bei allem Anhäufen von Wissen über alle möglichen, immer neuen oder doch oft dieselben gesellschaftlichen Fakten, über Schillers „zusammengehäufte Gedächtnisschätze“, nicht zuweilen vergessen, dass nicht allein technisches Wissen, sondern in einer demokratischen Gesellschaft doch eigentlich wer es und wie aufgreift, „nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt“ (Schiller 1789, S. 6, 10), interessieren muss, so Wissen auch relevant sein können soll? Unlängst warf Richard Münch am Beispiel der Faktenhuberei der PISA-Leistungsmessungen schulischen Erfolgs, die statt zu gestaltendem Eingriff zu verhelfen selbst schon den Schulbetrieb mitgestalten, die genau genommen schon vor langem abgelegte Frage auf, ob die „Soziologie einen neuen Positivismus-Streit“ brauche, so die „globale Industrie der Datenproduktion und -auswertung“ zu einem Ausmaß einer „Herrschaft des ,Szientismus‘“ angewachsen sei, der „sich demokratischer Kontrolle“ entzöge (Münch 2012, S. 36).

Insofern ist es gut, wenn unter denjenigen in der Soziologie, die über das notwendige Maß an beruflicher Autonomie verfügen, einmal innezuhalten und zu überlegen, jemand einmal innehält und überlegt. Noch besser ist es, wenn der meistzitierte Soziologe der Gegenwart dies tut (Times Higher Education 2009). Und zumindest am motivierendsten für die Mitglieder der Fachgemeinschaft und insbesondere ihre neuen Studierenden ist es, wenn dies, wie in Schillers akademischer Übung, in eine so emphatische Apologie des in Frage stehenden Faches, hier der Soziologie, mündet wie in Pierre Bourdieus Dankesrede von 1993, als er akademisch ausgezeichnet hat werden sollen (und wurde), seine Ansprache allerdings in eine begründete Eloge auf das kollektive Unternehmen unserer Disziplin mündete.

Bourdieus 1993 gehaltene Rede erscheint mit einer zwanzigjährigen Verzögerung erstmals in diesem Frühjahr im Druck, hier in diesem Heft, und dabei allerdings ungefähr zeitgleich in dreizehn verschiedenen Sprachen (Dänisch, Deutsch, Englisch, Finnisch, Griechisch, Italienisch, Koreanisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Spanisch, Tschechisch, Ungarisch). Als Mitglied des internationalen Beirats unserer Österreichischen Zeitschrift für Soziologie hat Loïc Wacquant den Abdruck vermittelt, Jerôme Bourdieu gab ihn freundlicherweise frei. Loïc Wacquants eigener Beitrag, den wir ebenfalls dokumentieren, kontextualisiert die akademische Würdigung, die Verleihung des höchsten Wissenschaftspreises in Frankreich, anlässlich der Bourdieu seinen Beitrag verfasste, und verdeutlicht dabei das Jahr 1993 als eine Art Schlüsselstelle in der akademischen Agenda wie auch in der gesellschaftlichen Wirkung Bourdieus.

Die Frage nach dem Wie und Wozu der soziologischen Unternehmung beantwortet Bourdieu eindeutig: Soziologie ist, erstens, die Wissenschaft, die den auf persönliche Zuschreibung kaprizierten gesunden Menschenverstand ebenso entlastet wie die eigentlich auf die Förderung des Allgemeinen verpflichtete Politik, indem sie die Mechanismen, die sozialen Welten, den gesamten Mikrokosmos an Vorgängen und Prozessen aufdeckt, in welchem soziale Wirklichkeit sowie das Wissen über sie historisch produziert werden. Dieses, ihr Beruf oder besser: ihre Berufung, kennt eine notwendige Voraussetzung und ein mit dieser verschränktes Ziel. Dysfunktionen der sozialen Welt zu erkennen und aufzudecken, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu analysieren, ist daher, zweitens, ein entschieden in öffentlichem Interesse liegendes Ziel dieser Wissenschaft. Das wiederum macht unabdingbar, dass, drittens, auch der Modus des Erkenntnisgewinns dieser Disziplin ,öffentlich‘, d. h. unabhängig von der ökonomischen und je aktuellen politischen Macht sein muss. Soziologie kann nur dann den von ihr erwarteten Beitrag für die Allgemeinheit leisten, wenn ihre Wissensproduktion autonom ist. Sie muss reflexiv sein. Ihre Forschung darf nicht dem Quotenkampf, ihre Forscher dürfen nicht allein Karrierekalkülen überantwortet werden. Nur dann kann sie (was sie für Bourdieu zweifellos tut) in einem System wechselseitiger Kontrolle, in einem selbständigen wissenschaftlichen Feld, autonomes Wissen erzeugen, das allen dienen kann.

So sehr Bourdieus Beitrag nun mit gleichsam universalem Anspruch dem kognitiven Selbstverständnis der Disziplin gilt, so sehr wäre er aus Sicht der deutschsprachigen Soziologie, um ihn nicht misszuverstehen, im Vergleich der nationalen Wissenschaftsfelder soziologisch zu relativieren. Im Schaltzentrum der Wissensproduktion, an dessen oberster Stelle deren höchsten Preis zu erhalten – mit welchem Bourdieu 1993 ausgezeichnet wurde –, ist nur im hierarchischen Wissenschaftssystem Frankreichs möglich, für welches Immanuel Wallersteins (und Niklas Luhmanns) Unterscheidung von Zentrum und Peripherie, Paris und dem Rest des Landes, ebenso kategoriale Bedeutung hat wie die in engen Abhängigkeitsverhältnissen stehenden Laufbahnen der einzelnen in der Wissenschaft Tätigen. Nur dort kann dann der ranghöchste einzelne Soziologe im Gegenzug der weltlichen (d. h. außerwissenschaftlichen) ,Macht‘ in der Manier des universalistisch, für die Allgemeinheit, für alle, argumentierenden aufklärerischen Intellektuellen einer europäischen Tradition entgegentreten. In den Vereinigten Staaten auf der einen Seite, in Deutschland auf der anderen Seite scheinen die institutionellen Bedingungen der Sozialwissenschaft auf eine je verschiedene Weise anders, so dass der universale Intellektuelle weder diesseits des Rheins noch jenseits des Atlantiks so zentral in Erscheinung treten kann, wie es Bourdieu in Paris möglich war. Anders als in Frankreich gibt es in Deutschland ein so starkes Zentrum-Peripherie-Gefälle zwischen den Universitäten nicht. Auch zwei unter der neuen „Regierungskunst“ des Staates (Foucault 2010, S. 176) durchgeführte Exzellenzinitiativen konnten die Hierarchisierung nicht leisten. Im Gegenteil. Die beiden millionenschweren Förderprogramme der letzten wenigen Jahre zeigten vielmehr, dass in Deutschland das ,Exzellente‘ nur sehr temporäre Gültigkeit hat. Noch stärker in Österreich. Hier scheint die in Deutschland politisch erstrebte Hierarchisierung politisch nicht gewollt und, entsprechend der föderalen, segmentär differenzierten Struktur hinter den Landesuniversitäten, auch kaum denkbar. Im Positionsgefüge des wissenschaftlichen Feldes fehlt damit in Deutschland in der Großkonkurrenz mehrerer Dutzend Universitäten der institutionalisierte Ort für eine zentrale Repräsentanz der Fachgemeinschaft. Anders in den USA. Dort sind die Besten, die Berater und Einzuladenden qua Universitätszugehörigkeit gut ausgeschildert. Allerdings gibt es dann in den Departments wiederum so viele, die im Unterschied zum deutschen Klientelsystem universitärer Laufbahnen ihre Karrieren notwendig auf die Disziplin (in der die institutionalisierten Führungspositionen, Ämter und Funktionen, wiederum auf häufigen Wechsel angelegt sind) und gerade nicht auf die Universitäten hin ausrichten (Abbott 2001, S. 124, 126), so dass im amerikanischen System die wissenschaftlich Tätigen viel eher Unternehmer ihrer selbst werden müssen, anstatt eine Art Kollektivunternehmen entlang von Ordinarieninteressen gründen zu können, wie Bourdieu in Paris dies gelang.

Dass Wissen nicht einfach wahr oder falsch, sondern geschichtlich und im Kontext der Macht zu sehen ist, hat der Philosoph der Denksysteme, Foucault, reklamiert und mehrfach historisch demonstriert. Bourdieu steuerte das soziologische Kleingeld bei: konzeptuelle Werkzeuge, um die Prozesse der Wissensproduktion in einer dynamischen Ökonomie symbolischer Güter verfolgen zu können, zu welcher sein nachstehender Beitrag deshalb ein packendes Fallbeispiel gibt, weil Bourdieu darin zu einer Art Doppelagent wird, zu einem Objekt einer akademischen Auszeichnung wie zu ihrem Subjekt zugleich. Zu welchem Ende studiert man daher nun diese Disziplin?

Auch wenn Soziologie (und hier für Bourdieu) heißt, als Wissenschaft, in wechselseitiger, allein im Licht der Fachgemeinschaft prozessierter Kontrolle historisch einsehbare Erkenntnisse über die „verborgensten Strukturen der sozialen Welten“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 24) und hier insbesondere über soziale Dysfunktionalitäten zu erzeugen, die ausschließlich aufgrund der wissenschaftlichen Autonomie im Vorgang ihrer Herstellung von öffentlichem, d. h. allgemeinem Interesse sein können, bleibt es immer noch Sache ihrer Subjekte, der Soziologen und Soziologinnen als ihrer Akteure, zuzusehen, was man aus ihr und mit ihr macht.