Zusammenfassung
Die Studie zeigt anhand von qualitativen episodischen Leitfadeninterviews mit blinden Personen, wie Praktiken des Sehens kulturell gelenkt werden und die visuelle Kultur subjektivierend wirkt. Dies wird anhand von zwei empirischen Beispielen verdeutlicht. Zum einen werden die Auskünfte blinder Interviewpartnerinnen über das Aussehen (im Sinne von Attraktivität) von Personen herangezogen, um zu zeigen, inwiefern diese Kategorie situativ relevant oder irrelevant gemacht wird. Hier lässt sich erkennen, wie sie als diskursive Größe die visuelle Wahrnehmung anleitet, insofern sie sich auch für Blinde entlang diskursiver Regeln als relevant erweist. Zum zweiten werden „Reparaturstrategien“ Blinder analysiert, mit denen die unabsichtliche Verletzung von Höflichkeitsnormen (ähnlich Krisenexperimenten) durch Blinde bearbeitet und die visuelle Ordnung interaktiv wiederhergestellt und bestätigt wird. Daran lässt sich nachzeichnen: erstens wie die visuelle Wahrnehmung von Personen in der Interaktion strukturiert ist; zweitens wie die Subjektposition „Blind“ die Ordnung der visuellen Kultur reproduziert. In der Zusammenschau lässt sich erkennen, dass die visuelle Kultur sowohl Praktiken des Sehens als auch der Blindheit normiert und „abweichende“ und „normale“ visuelle Subjekte hervorbringt.
Abstract
By drawing on qualitative episodic interviews with blind people the study shows how practices of looking are culturally instructed and how visual culture produces social subjects. Two empirical examples are used to illustrate this. The first refers to blind people’s way of talking and their knowledge about the look of persons (in the sense of visual attractiveness) in order to show how this category is made relevant or irrelevant due to the current situation. This marks the category as a discursive instruction of how to look at people. The other example draws on blind people’s strategies of “repairing” situations which were unintentionally damaged by them in interactions. The analysis of those strategies shows two things: firstly how the visual perception of people is structured in interactions; secondly how the subject position “blind” reproduces the order of the visual culture. In the end, these strategies restore and confirm a visual order of categorizing persons in interaction. Summarised we learn that visual culture normalizes practices of seeing as well as practices of blindness and produces “normal” and “deviant” visual subjects.
Notes
Gelegentlich wird noch ein „affirmatives Modell“ angegeben, das vorschlägt, Behinderung als positive Identität anzunehmen, um sich von einer „tragischen“ Sichtweise von Behinderung zu befreien (vgl. Swain und French2000). Allerdings ist der Begriff „Modell“ für diese Interpretationsaufforderung problematisch. Zu den Begriffen Interpretation, Modell und Theorie in Bezug auf Behinderung vgl. Finkelstein2001. Eine affirmative Deutung von Blindheit findet sich bei dem Blogger Christian Ohrens (Ohrens2011).
Dem ich – wie auch allen, die sich für ein Interview bereit erklärt haben – herzlich danken möchte.
Die „Befremdung der eigenen Kultur“ (Amann und Hirschauer1994), die hier überraschend stattfand, hatte für mich den Anschein einer „Entdeckung“. Allerdings rückblickend in dem Sinn, wie Christoph Kolumbus Amerika „entdeckt“ hat, das heißt in Ignoranz gelebter, existierender Praxis.
Zeichenerklärung: „SM“ steht für den Interviewer, die anderen Großbuchstaben vor den Doppelpunkten für die (geänderten) Namen der Befragten. Großbuchstaben geben Betonungen wieder. In runden Klammern sind Einwürfe des jeweils anderen Sprechers wiedergegeben, in eckigen Klammern stehen Erklärungen zum Gesagten. […] repräsentiert Auslassungen. Altersangaben beziehen sich auf den Zeitpunkt der Befragung.
Zur ästhetischen Gestaltung blinder Körper vgl. Länger (2002, S. 150 ff.).
„Wenn visuelle epistemische und perzeptive Strukturen an Sehen gebunden wären, so könnten sie von Blinden nicht eingesetzt werden, sind sie aber nicht unbedingt an Sehen gebunden, so sind sie auch keine rein visuellen Strukturen, sondern eben gewissermaßen übervisuelle, also kognitive oder leiblich perzeptive Grundstrukturen von Denken, Handeln oder Wahrnehmen.“ (Saerberg2006, S. 245)
Zur Bedeutung der Kategorie Attraktivität für die soziale Chancenverteilung vgl. Koppetsch2000.
Es sei hier angemerkt, dass es in Deutschland gemäß § 2 Abs. 2 der Fahrerlaubnisverordnung für Blinde und Sehbehinderte eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht für die Teilnahme im Straßenverkehr gibt, in Österreich jedoch nicht (vgl. Kremser2008).
Man denke nur an Fahrbahnmarkierungen, Hinweis- und Verbotsschilder, Türinschriften, Ampeln, Übersichtskarten, Smartphones und vieles anderes mehr. Diese lassen sich auch als visuelle Orientierungshilfen für Sehende auffassen.
In den Verweisen auf den Hörsinn als bevorzugtem „Vikariat“ (s. o.) kommt eine hierarchische kulturelle Reihenfolge der Sinne, die den Hörsinn generell an den zweiten Platz setzt, zum Ausdruck. Die tatsächliche Relevanz der verschiedenen Sinneswahrnehmungen kann je nach Zwecksetzung und Situation natürlich ganz anders sein.
Literatur
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Mraczny, S. Blindheit und die kulturelle Produktion visuellen Sinns. Österreich Z Soziol 37, 185–201 (2012). https://doi.org/10.1007/s11614-012-0030-x
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