1 Vorbemerkung

Am dritten April 2023 verfolge ich im „Lyndon B. Johnson Space Center Houston, Tx“ die Präsentation der Crew der Artemis 2-Mission der NASA. Ziel des Artemis-Programms ist es, seit der Apollo 17-Mission im Jahr 1972 erstmals wieder Astronauten auf dem Mond zu landen. In Anspielung auf das Apollo-Programm ist es nach Artemis benannt, der Mondgöttin und Zwillingsschwester Apollons in der griechischen Mythologie. Die internationale Crew wurde „politisch korrekt“ aufgestellt, was am nächsten Tag in den Medien hervorgehoben wird. Ein Afroamerikaner, eine Frau, zwei weiße Männer – das ist die Crew der Artemis 2-Mission. Ziel der Mission ist die Mondumrundung, nicht die Mondlandung. Ein Jahr zuvor habe ich Chazelles „First Man“ im Kino vorgestellt. Es war ein NASA-Gedenktag, der den 55. Jahrestag der Apollo 1-Tragödie markierte. Jedes Jahr im Januar führt die NASA einen Gedenktag durch, um die Mitglieder zu ehren, die bei der Erforschung und Entdeckung des Weltalls ihr Leben verloren haben, darunter die Besatzungen von Apollo 1 und der Space Shuttles Challenger und Columbia.

Die Artemis 2-Crew firmiert unter den Namen „humanity’s crew“ und gibt sich sicher, dass ihre Mondmission ein Erfolg wird. Mit den Worten „We go for all and by all“, wird die Astronautin Christina Koch von den Medien zitiert (Smith 2023). Eine erste Mondlandung der Artemis-Mission war ursprünglich für das Jahr 2024 geplant, kann jedoch aus finanziellen, rechtlichen und technischen Gründen voraussichtlich erst im Zeitraum 2026–2028 stattfinden (Wikipedia 2024a). Die Gewährleistung der Sicherheit der Besatzung sei der Hauptgrund für die Änderungen im Flugplan der Artemis 2, gibt die NASA bekannt (Donaldson 2024).

Mir stellt sich die Frage, wie die freundlich lächelnden Crewmitglieder mit dem Wissen umgehen, dass sie – trotz modernster Technik – ihr Leben riskieren, bei den vorbereitenden Übungen sowie bei der Mission selbst (Kempkens und Willeke 2024). Und ob ein Coaching für den Kommandanten und seine Crew im Umgang mit dieser Frage hilfreich sein könnte.

2 In-extremis-leadership

Die Führungsforschung beschäftigt sich seit den 1930er-Jahren mit unterschiedlichen Führungsstilen und deren Auswirkungen auf Gruppen und soziale Prozesse. Die Arbeits- und Organisationspsychologie, die Sozialwissenschaften und vor allem die Managementforschung ziehen dabei auch Vergleiche zwischen dem Management ziviler Organisationen und der Führung in Extremsituationen. Direkte Vergleiche greifen jedoch zu kurz. In Unternehmen herrscht häufig aufgrund wirtschaftlicher und finanzieller Krisen hoher Leistungsdruck, und Mitarbeitende müssen unter erheblichen psychischen Belastungen geführt werden. Doch Führung in Extremsituationen bedeutet das zielgerichtete Führen von Personen während einer Gefahr für Leib und Leben und ist von daher mit keiner Extremsituation in der Arbeitswelt zu vergleichen (Krückel 2022). Bei potenziell letalen Extremsituationen denkt man zunächst an militärische Einsätze, bei denen es letztlich um das „scharfe Ende“, das heißt um die Anwendung tödlicher Gewalt geht. Ebenfalls lebensgefährlich können Polizeieinsätze und Einsätze ziviler Spezialeinheiten sein, wie etwa beim Katastrophenschutz der Feuerwehr, Rettungseinsätze des Technischen Hilfswerks (THW) oder Veranstaltungen von Extremsportarten wie Bergsteigen oder Fallschirmspringen (Krückel 2022). Ein eher exotisches und überschaubares Feld des Einsatzes von „in-extremis-leadership“ ist die Raumfahrt. Die Beteiligung an einer bemannten Weltraummission ist mit immensem Prestige und Anerkennung in der Gesellschaft verbunden. Jedoch riskieren Raumfahrerinnen und Raumfahrer bei jeder Weltraummission ihr Leben.

Extremsituationen sind mit besonderen Anforderungen an die Führungspersonen verbunden. Führer und Team wissen um das hohe Risiko. Die conditio sine qua non für die Mission ist die Bereitschaft aller Beteiligter, sich in Lebensgefahr zu begeben. Auf dieser Grundlage lassen sich Merkmale erfolgreichen Führens in Extremsituationen ableiten (Kolditz 2007; Krückel 2022):

  • Inhärente Motivation und kontinuierliches Lernen: „In extremis leaders are inherently motivated and embrace continuous learning.“ Der Führer ist selbstmotiviert und erfüllt seinen Auftrag, dabei behält er die sich verändernde Lage im Blick und fügt neue Informationen in sein Gesamtbild ein. Kritische Entscheidungen werden schnell getroffen. Eine gesonderte Motivation der Geführten ist nicht nötig, da ihnen die Gefahr, in der sie sich befinden, bewusst ist.

  • Gleiches Risiko für alle: „In extremis leaders share risk with their followers.“ Führer und Geführte sind in gleichem Maße Gefahren ausgesetzt und gehen gleiche Risiken ein. Die Geführten wissen, dass sie nicht in Situationen geschickt werden, die der Führer selber nicht betreten würde. Die Führung wirkt dadurch glaubwürdig und schafft Vertrauen und Gehorsam.

  • Ähnliche Lebensführung und Werte: „In extremis leaders have a common lifestyle with their followers: There’s no elitism.“ Es gibt nur geringe Unterschiede in der Lebensführung und keine elitären Strukturen. In der Lebensgefahr zählen moralische Werte mehr, als das materielle Wohl, Besoldungsunterschiede sind sekundär.

  • Kompetenz, Vertrauen, Loyalität: „In extremis leaders have and inspire high competence, trust and loyalty.“ Die Bewältigung von Gefahrensituationen durch die Kontrolle der Situation zeugt von Kompetenz; dies führt zu Vertrauen und schließlich zu Loyalität. Das Vertrauen zwischen Geführten und Führer beruht auf Gegenseitigkeit. Herrscht kein gegenseitiges Vertrauen, das bereits vor der Extremsituation aufgebaut wurde, werden die Geführten im Extremfall ihrem Führer nicht folgen.

Das von Kosaba (1979, zit. bei Krückel 2022) entwickelte Führungsmerkmal „Hardiness“ kommt einer Kurzform der oben beschriebenen Merkmale gleich. Kosaba legt Gewicht auf eine außerordentliche Widerstandsfähigkeit der Führungsperson gegenüber Belastungen. Sie entsteht durch tiefe Überzeugung von der Bedeutung der Mission und aufgrund von Zuversicht, die Situation kontrollieren zu können. Kosaba grenzt diese Widerstandsfähigkeit explizit von einem Resilienzkonzept ab, das von Anpassungsfähigkeit und Flexibilität im Umgang mit Veränderungen ausgeht (vgl. Vogt und Schneider 2016).

3 Das Apollo-Projekt der NASA

Im Folgenden soll In-extremis-leadership am Beispiel des Apollo-Projekts der NASA analysiert werden. Als Kommandant von Apollo 11 steht Neil Armstrong im Fokus der Betrachtung. Als Referenztheorien zur Einordung des Führungsstils werden das „In-extremis-leadership“-Modell von Kolditz (2007) und Krückel (2022) herangezogen. Als Sekundärquelle dient die fiktionale Filmbiografie: First Man oder Aufbruch zum Mond (2018) von Damien Chazelle. Das Drehbuch basiert auf der autorisierten Biografie „First Man: The Life of Neil A. Armstrong“ von James R. Hansen aus dem Jahr 2005 (Hansen 2018). Chazelles Film feierte am 29. August 2018 im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig Weltpremiere. In der Filmbiografie ist Ryan Gosling in der Rolle des Astronauten Neil Armstrong zu sehen, Claire Foy in der Rolle seiner Ehefrau Janet. Der Film handelt von der Vorlaufzeit der Mondlandung, von Fehlschlägen und den aus den Fehlschlägen resultierenden Traumata der beteiligten Astronauten und ihrer Familien. Im besonderen Fokus steht die Familie Armstrong, die Paarbeziehung und das Familienleben mit zwei Söhnen, nachdem das erste Kind Karen im Kleinkindalter an einem Hirntumor verstorben ist.

3.1 Patriotismus als Leitkultur – das militärische Erbe der NASA

Die NASA (National Aeronautics and Space Administration) ist die 1958 gegründete zivile US-Bundesbehörde für Raumfahrt und Flugwissenschaft. Sie geht aus dem National Advisory Committee for Aeronautics (NACA) hervor; diese Institution unterstand der Luftwaffe. Die etwa 8000 Angestellten wurden von der NASA übernommen (Wikipedia 2024d). Als Mitglieder der Streitkräfte tragen die Astronauten militärische „Astronaut Badges“. Mit der Auswahl der ersten zivilen Astronautenanwärter wurde für diese ein eigenes Abzeichen geschaffen (Wikipedia 2024b).

Die Auszeichnungspraxis der NASA ist mit der des US-amerikanischen Militärs verwandt, die zur strengsten weltweit gehört. Sie wird nicht für Führungsleistungen allein, sondern für „Tapferkeit über die normale Pflichterfüllung hinaus“ verliehen, häufig posthum (Krückel 2022). So auch die Vergabepraxis der NASA: Bis 2006 wurden 28 Astronauten mit der „Congressional Space Medal of Honor“ ausgezeichnet. Neil Armstrong war der erste, der ausgezeichnet wurde. Mehr als der Hälfte der Ausgezeichneten wurde die Auszeichnung postum verliehen (Wikipedia 2024c).

Anlässlich der Ehrung für die Besatzungen von Apollo 1, Challenger STS-51L, Columbia STS-107 äußert sich NASA Acting Administrator Steve Jurczyk am 28. Januar 2021: „NASA has a unique culture that is fueled by possibility, set on a path to the next giant leap for humanity, and guided by its history. … The lessons of our past are the enduring legacy of the brave women and men who did not put limits on what could be achieved, and we all recognize the honor of being counted among them as part of the NASA family“ (Potter 2021).

3.2 The New Frontier – Zeitgeschichtliche Einordnung des Apollo-Projekts

Die 60er-Jahre waren Jahre politischen Umbruchs in den USA. Die Bürgerrechtsbewegung, das Wettrüsten und der kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion (Kubakrise 1962) sind Ereignisse, die genauso in diese Zeit fallen wie die Ausweitung des Vietnamkriegs, das Erstarken der Friedensbewegung und die Ermordungen von J. F. Kennedy (1963), M. L. King (1968) und Robert Kennedy (1968).

Präsident Kennedys Aufruf zum Aufbruch zu „New Frontiers“ stand für die Wiederaufnahme der Fortschrittsmission der USA. Als eine dieser „Grenzen“ sollte das Apollo-Programm mit Ziel der bemannten Mondlandung den alten Traum der territorialen Expansion wieder aufleben lassen (vgl. West-Leuer 2022). Für Wernher von Braun, Leiter der Abteilung für die Entwicklung der Trägerraketen, hatte Apollo ein ultimatives Format: „Space is the last frontier – and the greatest.“ Der präzise Vorschlag von Kennedy mit dem schon historischen Kernsatz erfolgte am 25. Mai 1961 in einer Rede vor dem Kongress: „I believe that this nation should commit itself to achieving the goal, before this decade is out, of landing a man on the moon and returning him safely to earth.“ In seiner Rede betonte Kennedy die Bedeutung eines solchen Programms als kollektive Aufgabe der Nation, eine führende Rolle bei der Erkundung des Weltalls einzunehmen, da dies womöglich den Schlüssel für die Zukunft des Menschen auf der Erde trüge (Zimny 1994).

Im Wettlauf um die bemannte Raumfahrt liegt das sowjetische Mondprogramm vorn. Der erste Raumflug eines Menschen gelingt dem Kosmonauten Juri Gagarin 1961. Den Wettlauf um den ersten Außenbordeinsatz gewinnt ebenfalls die Sowjetunion. Am 18. März 1965 ist Alexei Leonov der erste Mensch im All. Der NASA gelingt die erste bemannte Mondlandung: Apollo 11 landet am 21. Juli 1969. Das Projekt der Mondlandung war in den USA durchaus umstritten. Chazelles Film zitiert den Schriftsteller Kurt Vonnegut, der die enormen finanziellen Ausgaben kritisiert. Der Song „Whity on the Moon“, der 1970 veröffentlicht wurde, persifliert die Mondlandung, um auf die sozialen und Rassendiskriminierungen in den USA aufmerksam zu machen.

4 Inhärente Motivation – Leben als Kampf gegen den Tod

Neil Armstrong und Elliot See sind die ersten Zivilisten, die sich für das Gemini- und Apollo-Projekt bewerben und angenommen werden (vgl. Hansen 2018). Von den anderen Bewerbern, Mitglieder der Streitkräfte, werden sie misstrauisch beäugt und zunächst nicht ganz ernst genommen. Auf die Frage der Auswahlkommission, warum er sich für das Gemini-Projekt bewerbe, antwortet Armstrong: „Wir (Menschen) werden durch die Erforschung des Weltraums Dinge sehen, die wir längst schon hätten sehen sollen. Die uns aber verschlossen waren“ (Hansen 2018, S. 261). Und auf die persönliche Frage, ob der Tod seiner Tochter Auswirkungen auf ihn habe, antwortet er, es sei nicht davon auszugehen, dass dies keinen Einfluss auf ihn habe.

Mit diesen Antworten beschreibt er unprätentiös und nüchtern, was ihn antreibt, sein Leben für die Erforschung des Weltraums zu riskieren. Auf der bewussten Ebene bezieht er seine Motivation aus der intrinsischen Neugier eines Flugzeugingenieurs und Luftfahrttechnikers, technische Neuerungen in unbekannten Sphären einzusetzen und auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen. Er verspricht (sich) Erkenntnisse zum Wohle der Menschen und denkt dabei vielleicht, unter dem Einfluss des frühen Todes seiner Tochter, auch an Fortschritte im medizinischen Bereich (ebd., S. 137).

Unbewusst mag Armstrongs Bewerbung bei der NASA auch von einem Selbstheilungsversuch motiviert sein. Denn er leidet seit dem Tod der Tochter an einer Art Wiedergutmachungszwang, der sowohl ihr Sterben als auch seine Hilflosigkeit ungeschehen machen soll. Immer wieder begegnet ihm Karen in seinen Fantasien. Er lässt die Tochter nicht los. Erst in der äußersten Einsamkeit, der Leere und der Stille der Mondoberfläche gelingt es dem Vater, den Verlust seiner Tochter zu realisieren. In einer sehr anrührenden Szene lässt er Karens kleines Armband, das ihr bei der Geburt zur Identifizierung angelegt wurde, in einen Mondkrater fallen: Hier soll sie ruhen. So gibt diese Szene eine Antwort auf die Frage, was der Tod der Tochter mit seiner Bewerbung bei der NASA zu tun hat: Die Mondmission ermöglicht es ihm, sich seiner Trauer zu entäußern, die seit Jahren in seinem Inneren eingefroren war.

Tatsächlich gibt es keinerlei Beweis für diese filmische Inszenierung des Trauerprozesses. Den Astronauten stand ein sogenanntes „personal preference kit“ zur Verfügung. Darin konnten sie persönlich Gegenstände mitnehmen. Armstrong hat nie publik gemacht, was sich in seinem PPK befand. Es ist aber vorstellbar, dass er, neben einem goldenen Ölzweig für Janet, auch eine Erinnerung an Karen mit zum Mond genommen hat (ebd., S. 373). Die filmische Szene symbolisiert jedoch nicht nur die Verarbeitung des individuellen Traumas, das der Vater durch den Tod seiner kleinen Tochter erlitten hat. Sie symbolisiert auch Schock und Trauer der Crewmitglieder der Weltraummissionen, die diese in Folge vieler tödlicher Unfälle von Kollegen erlebten. Offizielle Anerkennung erfolgte mit der Einführung der „Congressional Space Medal of Honor“ 1969, die vom Präsidenten der USA und dem Administrator der NASA vergeben wird, eine Auszeichnungspraxis, die ein „Containment“ für das Trauma der Überlebenden bereitstellt (s. oben).

Armstrong hat die Auswahlkommission von seiner inhärenten Motivation überzeugt. Allerdings qualifiziert dies ihn nicht automatisch für eine Führungsposition. Er ist erstens Zivilist und hat zweitens in seiner Vita immer wieder Extremsituationen, die ihn als einen Hasardeur erscheinen lassen, den man nicht unbedingt mit einem Führungsauftrag betraut. Seine Karriere als Testpilot und auch als Astronaut wirkt wie eine sich ständig wiederholende Herausforderung des Todes. Schon im Koreakrieg rettet er sich mit Hilfe des Schleudersitzes aus seinem Flugzeug (ebd., S. 68). Sein US-amerikanisches Testflugzeug X‑15, ein raketengetriebenes Experimentalflugzeug für Höhen- und Hochgeschwindigkeitsflüge, prallt ab beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre. Im Gemini 8-Projekt, bei dem erstmalig ein Ankoppelungsmanöver im All durchgeführt wird, spielt eine Steuerdrüse verrückt. Die Kapsel der Astronauten gerät außer Kontrolle und taumelt mit atemberaubender Umdrehungsgeschwindigkeit. Beim Testflug mit dem Mondlandungstrainingsgerät kommt der Schleudersitz in der letzten Sekunde zum rettenden Einsatz. Und schließlich führt die Mondlandung knapp am Absturz in einen Krater vorbei, denn der Treibstoff geht aus (vgl. Hansen 2018). Für einen solchen Fall war der Nachruf auf die beiden Astronauten bereits vorbereitet.

In lebensbedrohlichen Situationen folgt Armstrongs Handeln einem wiederkehrenden Muster. Statt „ohnmächtig“ den Anordnungen des Kontrollzentrums in Houston zu folgen, wechselt er auf manuelle Steuerung und bringt so die diversen Flugobjekte unter seine Kontrolle. Dies bringt ihm bei seinem Testflug mit dem Raketenflugzeug zunächst heftige Kritik seiner Vorgesetzen ein. Er wird bis auf weiteres von den Testflügen suspendiert. Nach dem Versagen der Technik beim Ankopplungsmanöver des Gemini 8-Programms wird sogar eine interne Untersuchung eingeleitet, bevor das Projekt offiziell als Erfolg gewertet wird.

Slochower schreibt 1969: „Das Trauma des Todes wird im Laufe eines Menschenlebens immer wieder erlebt. Das Wissen um den Tod ist das kontinuierlichste, hartnäckigste und unvermeidlichste, vielleicht das verhängnisvollste Trauma für den Menschen“ (zit. n. Müller-Augustin 2014, S. 9). Jeder dieser Einsätze hätte auch tödlich enden können. So drängt sich die Frage nach einer latenten Suizidalität des Protagonisten auf, die er durch die „Begegnungen“ mit dem Tod in Schach zu halten sucht. Nach Situationen mit Todesgefahr zeigt sich häufig ein Triumphgefühl, die Angst bewältigt und den Tod – bis auf weiteres – entkommen zu sein (vgl. Krückel 2022).

5 Führen von vorne

Damit sich die Geführten in der Krise dem Führer anvertrauen, gilt das Prinzip des „Führens von vorne“. Der Führer setzt sich der gleichen Gefahr aus wie die von ihm Geführten, im Zweifelsfall geht er voran. Elitismus, Arroganz oder Überheblichkeit des Führers sind ausgeschlossen. Um dem Führer auch in unabsehbare Gefahrenzonen zu folgen, muss das Team Erfahrungen mit ihm gemacht haben, die seine Kompetenz belegen. Zum einen wurde mit dem wachsenden Einsatz komplexer technischer Geräte die Fachkompetenz von Führern wichtiger. Sie sollen sich mit der Handhabung des Materials gegebenenfalls besser auskennen als die Geführten. Zum anderen können Gefahrensituationen, die als volatil, unsicher, complex und ambigueFootnote 1 beschrieben werden, nicht adäquat von fernen Kommandozentralen gesteuert werden. Selbstständigkeit im Denken und Handeln des Führers ist von daher der Abhängigkeit von den Entscheidungen vorgesetzter Strukturen vorzuziehen (vgl. Krückel 2022, S. 70).

Die Kommandozentrale in Houston sieht dies nicht so und bleibt bei der Überzeugung, sie sei auch in Extremsituationen „in command“. Dass es sich dabei um eine männlich dominierte Wunschvorstellung handelt, macht Janet deutlich. Als die Kapsel beim Gemini 8-Projekt außer Kontrolle gerät, versucht Deke Slayton, Leiter des Astronautenbüros, sie mit den Worten zu beruhigen: „Wir haben alles unter Kontrolle“. Wütend schleudert sie ihm ihre Antwort entgegen „Ihr habt gar nichts unter Kontrolle“.

Bei der Entscheidung, wer als erster den Mond betreten sollte, Aldrin oder Armstrong, entscheiden sich die vier Verantwortlichen einstimmig für Armstrong, und zwar aus genau den von Krückel (s. oben) beschriebenen Gründen: als Führer vertrauenserweckend, technisch hochkompetent, menschlich zurückhaltend, loyal dem Auftrag und dem Land gegenüber (Hansen 2018, S. 240 f.).

Der Führungsstil des „Führens von vorne“ war Armstrong sicherlich nicht bekannt, doch in extremen Gefahrensituationen übernimmt er die Rolle des „First Man“ (der Originaltitel des Films). Im Gemini 8-Projekt ist die Kommandozentrale kaum zu erreichen. Armstrong macht sich unabhängig von Anweisungen der Kommandozentrale in Houston und übernimmt zusätzliche Funktionen seines Piloten, der wegen der hohen Rotationsgeschwindigkeit das Bewusstsein verloren hat. In dieser Situation erschweren Lärm, hohe Drehgeschwindigkeit und die Sorge um den Kollegen die Wahrnehmung. Trotz fehlender Informationen über technische Fehlerquellen gelingt es ihm, die Steuerungsfunktionen und damit die Kontrolle über die Kapsel zurückzugewinnen. Ähnlich unabhängig reagiert Armstrong bei der Mondlandung, als der Treibstoff der Landefähre auszugehen droht. Er übernimmt die Steuerung der Fähre, und Buzz Aldrin folgt seinen Anweisungen unwidersprochen. Nach der Landung meldet sich Armstrong: „Houston, Tranquillity Base here. The Eagle has landed.“

Wie stressvoll es gewesen sein mag, als erster die Mondoberfläche zu betreten, ist kaum nachzuvollziehen. Dass Armstrong extrem angespannt war, mag in seinem Versprecher deutlich werden, als er sagte: „It’s one small step for man, one giant leap for mankind.“ Sein Versprecher wird im Film korrigiert und er sagt: „It’s one small step for a man, one giant leap for mankind.“

Ein geheimer Nachruf auf die „Apollo 11“-Crew und die Entscheidung der Verantwortlichen, die beiden Astronauten im Fall eines technischen Scheiterns von jeglicher Kommunikation mit der Kommandozentrale „abzukoppeln“, offenbart die ultimative Bedeutung des Führungsstils von vorne. Wäre es Armstrong und Aldrin nicht gelungen, vom Mond zur „Apollo 11“ zurückzukehren, hätten sie sich selbst überlassen werden sollen – zum Sterben in galaktischer Funkstille (Safire 1969; Spiegel 2009).

6 Loyalität, Vertrauen, Zusammenhalt

Ohne unbedingten und unhinterfragten Zusammenhalt der Astronauten wäre weder das Gemini- noch das anschließende Apollo-Projekt möglich gewesen. Dass ein solcher Zusammenhalt gelingt, wird unterstützt durch die patriotische Leitkultur der NASA, die eine ähnliche Lebensführung und gemeinsame Werten unterstützt. Die Astronauten leben mit ihren Familien in einem geschützten Bereich, ähnlich einer Militärbasis, in El Lago, einem Vorort von Houston, in der Nähe des Manned Spacecraft Center. Es gibt nur geringe Unterschiede in der Lebensführung und keine elitären Strukturen. Während der Vorlaufphase der ersten Mondlandung entstehen enge Freundschaften unter den Kollegen und ihren Familien. Gab es Konkurrenz unter den Kollegen wegen der Frage, wer bei den ersten bemannten Raumfahrtexpeditionen dabei sein würde? Ob Neidgefühlen den „Auserwählten“ gegenüber vorhanden waren, wird im Film ebenso wenig thematisiert wie die Frage, ob sich bei dem einen oder anderen auch ein wenig Erleichterung eingestellt haben mag, bei diesem „Himmelfahrtskommando“ nicht dabei zu sein.

Kollegialer Wettkampf wird von den Ausbildern angefacht und findet beispielhaft bei einer Trainingseinheit im „Multi-Axis-Trainer“ statt. Der „Multi-Axis-Trainer“ dreht sich in hoher Geschwindigkeit um mehrere Achsen. Die Astronauten haben die Aufgabe, das Gerät zu stabilisieren, bevor sie das Bewusstsein verlieren. Neil Armstrong und Ed White machen den Anfang. Beide gehen über ihre Grenzen und treffen sich anschließend im Waschraum, um sich zu übergeben. Nonverbal signalisieren sie sowohl Wissen um die Konkurrenz als auch Mitgefühl für die Unpässlichkeit des Anderen. Diese kollegiale Geste hilft beiden, das Scheitern an der Aufgabe zu verarbeiten. Von den Trainern mag so auch getestet worden sein, ob ein Zivilist einem militärisch ausgebildeten Kollegen ebenbürtig sein kann. Armstrong besteht solche subtilen Tests wiederholt.

Die Flugleitung befindet sich während der Mission in der Kommandozentrale in Houston; Entscheidungen, wer bei welcher Mission das Kommando übertragen bekommt, wird im Astronautenbüro getroffen. Unmittelbar gefährdet an Leib und Leben sind die Verantwortlichen nicht. Nicht nur durch die Hierarchie, auch räumlich von den Astronauten getrennt, sind sie weniger involviert in die Beziehungsdynamiken in den Teams und versuchen, möglichst objektiv festzulegen, wer bei geplanter Mission als Kommandant der geeignetste ist. Bei der Auswahl geht es, neben der körperlichen Fitness, um ingenieurtechnisches Fachwissen, die Fähigkeit, in Extremsituationen schnell und adaptiv Entscheidungen zu treffen und auf Stress im Sinne von „Hardiness“ zu reagieren. Es gilt ein Rotations- und Dopplungsprinzip, sodass bei potenziellen, auch letalen, „Ausfällen“ das Projekt an sich nicht gefährdet ist.

In der Regel hat der Kommandant des Raumschiffs keinen Einfluss auf die Auswahl seiner Crew, eine aus gruppendynamischer Sicht plausible Strategie, um Favoritismus auszuschalten und das Gleichheitsprinzip aufrechtzuhalten. Im Fallbeispiel ist es Armstrong jedoch gelungen, Einfluss zu nehmen und Collins als Pilot des Kommandomoduls zu gewinnen.

6.1 Der „Charakter“ des Kommandanten aus militärischer Perspektive

Um in Extremsituationen im Team Loyalität, Vertrauen und Zusammenhalt auszulösen, benötigt der Kommandant einer Mission den „richtigen“ Charakter. Auch hier zeigt sich die militärische Tradition der NASA. Der dem Militär entlehnte Begriff des „Charakters“Footnote 2 beinhaltet persönliche Integrität und Tapferkeit im Angesicht lebensbedrohlicher Gefahr. Zeigt der Führer dann noch Fürsorge und pflegt soziale Beziehung zu seinen Untergebenen, so wird ihm die Crew im Ernstfall, ohne zu zögern, folgen. Während Armstrong bei seinem letzten Flug mit dem Raketenflugzeug X‑15 den Vorgesetzten trotz seiner technisch außergewöhnlichen Kompetenzen zu waghalsig und eigensinnig erscheint, werden bei der NASA seine besonderen Führungsqualitäten als „leader in extremis“ erkannt. Zu seinen wesentlichen Charaktereigenschaften gehört die Fähigkeit, Situationen existenzieller Bedrohung unsentimental und affektiv ruhig zu begegnen und die Teammitglieder mit dieser Haltung „anzustecken“. So wirkt die Crew der Apollo 11-Mission im Film bei „Henkersmahlzeit“ und „Ankleideritual“ geradezu gelassen. Seine sachorientierte Haltung steht im Kontrast zu Buzz Aldrin, der Kollegen auch mal arrogant und besserwisserisch be- und auch entwertet, aber bei den Medien gut ankommt. So unterschiedlich die beiden Männer sind, ihre Kooperation während der Apollo 11-Mission ist nicht beeinträchtigt (vgl. Hansen 2018, S. 241).

Armstrong entspricht nicht in allen Kategorien den Anforderungen an den „leader-in-extremis“. Von diesen wird auch gefordert, bei Todesfällen die eigene Erschütterung unter Kontrolle zu halten (Krückel 2022, S. 120). Diese Affektkontrolle gelingt Armstrong nicht immer. Als Elliot See als Pilot eines „supersonic jet trainer“, gemeinsam mit Charles Bassett, 1966 verunglückt, weist Armstrong Buzz Aldrins Spekulation über einen Pilotenfehler deutlich zurück. Respekt für den Verunglückten und Loyalität über den Tod hinaus sind für ihn selbstverständlich. Mit Elliot See, Zivilist wie er selbst, ist Armstrong seit der Bewerbung freundschaftlich verbunden. Seine Reaktion auf Aldrins Kommentar basiert auf einer Mischung aus Trauer um den Freund und Wut über den leichtfertig urteilenden Kollegen.

Ed White hätte zu denjenigen gehören sollen, die als erste den Mond betreten. Gus Grissom war als Kommandant vorgesehen. Die Tragödie des Plugs-out-Test von Apollo 1, bei dem alle drei Astronauten bei einem Brand in der Kapsel ums Leben kommen, ist für das Apollo-Projekt ein traumatisches Ereignis. Als Neil von dem Unglück erfährt, ist er in Washington, um bei Politikern für das Programm zu werben. Während des Telefonats, in dem er über die Katastrophe informiert wird, zerbricht er das Glas in seiner Hand. Die Erschütterung ist zu belastend, um sie unmittelbar ins Bewusstsein zu lassen, und wird körperlich unkontrolliert ausagiert.

Als Armstrong vom Administrator der NASA nach dem für ihn fast tödlich verlaufenden Test mit der Mondlandungstrainingseinheit auf einen möglichen Abbruch der Mondmission angesprochen wird und dieser ihn fragt, „um welchen Preis“ sie die Mission fortsetzen, wird Armstrong wütend und antwortet: „Es ist ein Bisschen spät für diese Frage.“ Ein Abbruch würde bedeuten, dass seine Freunde vergeblich gestorben sind. Ein Überleben, ohne den Versuch einer Mondlandung unternommen zu haben, wäre ein Verrat am patriotischen Wertesystem der NASA und ein Verrat an den Astronauten der Apollo 1-Mission, die aufgrund von Nachlässigkeiten der Verantwortlichen ihr Leben verloren haben (Gast 2017). Überlebendenschuld wäre bei allen Kollegen eine Folge gewesen.

6.2 Die Privatperson des Kommandanten aus psychodynamischer Perspektive

Armstrongs „Charakter“, der im Team Loyalität, Vertrauen und Zusammenhalt inspiriert, spiegelt seine Persönlichkeit und hängt mit seiner Geschichte zusammen. Über Armstrongs frühkindliche Beziehungs- und Bindungserfahrungen erfahren wir im Film nichts. Sein Handeln und Verhalten erinnern an Riemanns (1990) „schizoide Persönlichkeit“; in einigen Szenen könnte man auch autistische Züge vermuten. Primär auf Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung bedacht, hat er jedoch zu seiner kleinen Tochter eine tiefe Bindung aufgebaut. Bei Karens Erkrankung ist er machtlos. Er kann sie nur halten, tragen, wiegen und sie begleiten. Auch nach ihrem Tod lässt er sie nicht los. In seinen Fantasien begegnet sie ihm immer wieder. Mit seiner Frau Janet kann er den Schmerz nicht teilen. Sobald wie möglich geht er wieder zu Arbeit, beide bleiben in ihrem Schmerz allein.

In Folge scheint er die Wiederholung eines solch schmerzhaften Verlusts eines Kindes zu fürchten. Den neugeborenen Sohn betrachtet er in seinem Bettchen vom Türrahmen aus, ohne dem Impuls nachzugeben, zu ihm zu gehen und ihn zu streicheln. Auch später hält er seine Söhne emotional auf Distanz. Wenn es die Zeit zulässt, spielt er mit ihnen, maximal rauft er mit ihnen. Vor dem Aufbruch zum Mond muss Janet ihn zwingen, sich von den beiden zu verabschieden. Sie muss ihn wütend konfrontieren, dass er ihnen eine aufrichtige Antwort schuldig ist: „Du machst das. Du! Ich mach’ das nicht.“ Der jüngere Sohn umarmt ihn zum Abschied, der ältere weiß wohl um die Angst des Vaters vor emotionaler Nähe; er verabschiedet sich tapfer mit Handschlag, wie von Mann zu Mann. Nur in den Augen spiegelt sich der Schmerz.

In seinen Annäherungsversuchen an seine Frau wirkt er unbeholfen, liebevoll und sentimental. Auf dem Flug zum Mond hat er nicht nur das Säuglingsarmband seiner Tochter mitgenommen, er hat auch eine Kassette mit dem Liebeslied aus der Anfangsphase ihrer Beziehung dabei, um Janet einen Gruß aus dem All zu senden. Als Michael Collins die Kassette abspielt, fragt er: „Houston, hört Ihr dies?“ Nach seiner Rückkehr vom Mond, noch in Quarantäne, steht er mit dem Rücken zu Janet. Er weiß nicht, ob sie ihm verzeihen wird, was er ihr – immer wieder – zugemutet hat: Todesangst um ihn. Ob die Ehe Bestand hat, bleibt in der Schwebe. Der Film endet mit einer zärtlichen Geste des Paares, getrennt durch eine Fensterscheibe. Als Zuschauerin wünscht man sich: „Ja, die beiden schaffen das.“ Der Held hat eine Entwicklung durchlaufen und verstanden, was er wissen sollte: dass es sich bei den stoischen Wiederholungen selbstmörderisch anmutender Expeditionen um Abwehr seiner Angst vor dem Tod handelt. Im wirklichen Leben haben Janet und Neil Armstrong sich nach langjähriger Trennung scheiden lassen; Neil Armstrong hat wieder geheiratet. Er hat sich immer für eine Fortsetzung der bemannten Raumfahrt eingesetzt, auch nachdem das Programm von Präsident Obama beendet wurde.

7 „First Man“ – Hommage an den Mythos Raumfahrt

Bei der Filmvorführung sind Erstaunen und Bewunderung unvermeidlich, wenn das Publikum miterlebt, mit welchen fast primitiv anmutenden technischen Mitteln die Mondlandung 1969 gelungen ist: keine Wisch-Wisch-Bildschirme, überall Knöpfe und Schalter von Hand zu bedienen und ein Wackeln, Knarren und Knirschen, sodass dem Publikum blümerant werden kann. Technische Neugier, Forscherdrang, Mut und Abenteuerlust haben 1969 die Landung auf dem Mond ermöglicht. Für die Nachwelt ist dies eine Großtat. Neil Armstrong wurde zum Symbolträger eines Menschheitstraums und zu einem Nationalhelden. Anlässlich seines Todes 2012 würdigte Präsident Barack Obama Armstrong mit den Worten: „Neil was among the greatest of American heroes – not just of his time, but of all time. When he and his fellow crew members lifted off aboard Apollo 11 in 1969, they carried with them the aspirations of an entire nation. They set out to show the world that the American spirit can see beyond what seems unimaginable – that with enough drive and ingenuity, anything is possible“ (Obama 2012).

Mit seinem Originaltitel „First Man“ verweist Chazelle auf den mythologischen Adam, in den monotheistischen Religionen der erste Mensch. Doch anders als der europäische „alte Adam“, der aufgrund seiner Hybris, alles erkennen und verstehen zu wollen, aus dem Paradies vertrieben wird, ist der US-amerikanische „neue Adam“ als ein unbescholtener Held, ein Abenteurer auf der Suche nach neuen Frontiers, um der Menschheit die Rückkehr ins Paradies zu ermöglichen, in die nationale US-Ideologie eingegangen (West-Leuer 2022). Raumfahrt und Erforschung des Weltraums nähren jedoch nicht nur in den USA die unbewusste Illusion, dass mit Hilfe von Wissenschaft und Technik am Ende der Sieg über den Tod und damit die Rückkehr ins Paradies möglich sein möge.

Seit dem ersten Aufbruch zum Mond ist die technische Entwicklung nicht nur in der Raumfahrt rasant weitergegangen; sie führte zu wissenschaftlichen Höchstleistungen und wirtschaftlichem Wachstum und gleichzeitig zu einem immer schnelleren Verbrauch an Ressourcen, was einer zweiten Vertreibung aus dem Paradies näher kommt als einer Rückkehr. Der Aufbruch zum Mond und die Landung dort symbolisieren einen uralten Menschheitstraum und markieren gleichzeitig das menschliche Unvermögen, Wachstum einzudämmen, sondern alles auszuprobieren, was Menschen möglich ist. Von einem Journalisten nach dem Warum des Raumfahrtprojekts gefragt, antwortet Armstrong: „Es liegt dies beim Menschen in der Natur seiner tiefsten, inneren Seele. Wir müssen diese Dinge einfach tun, so wie der Lachs zur Laichzeit die Flüsse hinaufziehen muss“ (Hansen 2018, S. 264). In diesem Sinne zeugt auch das Artemis-Projekt von einem veritablen menschlichen Dilemma zwischen der Hoffnung auf Erkenntnisse zum Wohle der Menschheit und der Sorge um die menschliche Zivilisation aufgrund eines unumkehrbaren Klimawandels. Im Film wird dieses Dilemma für mich beim atemberaubenden Start der Apollo 11 spürbar, wenn die gewaltigen Zündungen der Raketen gleichzeitig Angst und Faszination auslösen.

Seit 1971 liegt eine winzige Aluminium-Statuette (8,5 cm) eines stilisierten Raumfahrers im Mondstaub. Es waren die Astronauten, die „leaders-in-extremis“, die den bei Unfällen gestorbenen Raumfahrern ein Denkmal setzen wollten. Ihre Vorgabe war, dass die Figur weder männlich noch weiblich, weder schwarz noch weiß sein sollte. Der „Fallen Astronaut“ des Künstlers Paul Van Hoeydonck wurde dort von Apollo 15-Astronaut David Scott niedergelegt. Daneben platzierte er eine Plakette mit den 14 Namen gefallener Astronauten und Kosmonauten, um US-amerikanische und russische Raumfahrer zu ehren, die im Rahmen der Weltraummission ihr Leben verloren haben, ein starkes Symbol, mitten im Kalten Krieg (Gunkel 2019) und ein früher Einsatz für „Diversity“.

8 Transfer – Coaching Führungskräfte in Extremis

Gemäß meinem psychodynamischen Beratungsverständnis gehe ich davon aus, dass eine lebensbejahende Einstellung, ein differenzierter Zugang zu eigenen und fremden Emotionen sowie die Fähigkeit zu einem konstruktiven Umgang mit intra- und interpersonellen Konflikten als Merkmale „guter“ Führung gelten. Als psychisches „Rüstzeug“, um diesen Anforderungen gerecht zu werden, gelten Empathie- und Mentalisierungsfähigkeit. Als psychisches Rüstzeug für den Leader in Extremis gilt dagegen die Identifikation mit den Werten der auftraggebenden Institution. Loyalität, Respekt, Mut, Pflichterfüllung und Integrität werden als konstitutiv für ein sinnerfülltes Leben im Rahmen der gewählten lebensgefährlichen Aufgabe verstanden (Krückel 2022, S. 5). In Extremsituationen sind emotional differenzierte Beziehungs- und Konfliktfähigkeiten nur bedingt von Bedeutung. Stattdessen muss es dem Führer gelingen, den Fokus nach außen auf die Bewältigung der Situation zu richten und nicht auf die Gefühle im Innen. Emotionskontrolle hat Vorrang. Die eigene Angst und die der Kollegen muss trotz Reizüberflutung in Schach gehalten werden. Dies gelingt „Charakteren“ mit einer scharfen Beobachtungsgabe und affektlos-kühler Sachlichkeit, die auch im Krisenfall beibehalten wird (Riemann 1990, S. 57).

Ins Coaching kommen Führungskräfte in Extremis bisher eher selten. Doch in einer VUCA-Welt, in der Extremwetterereignisse und terroristische Anschläge zunehmen, geraten Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte bei ihren Einsätzen immer wieder in Gefährdungssituationen und riskieren ihr Leben. Ein eindringliches fiktives Beispiel findet sich in der Serie „In Therapie“ (Staffel I): Der Elitepolizist Adel war Leiter einer Einheit beim Einsatz im Konzertsaal Bataclan, der am 13. Nov. 2015 von islamistischen Terroristen besetzt wurde und in dem hunderte Menschen als Geisel gefangen gehalten und getötet wurden. Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) führt ihn zehn Tage nach seinem Einsatz in die Psychotherapie.

Vor dem Hintergrund aktueller nationaler und internationaler, gewaltsamer und kriegerischer Konflikte kann für die betroffenen Berufsgruppen ein präventives Beratungsangebot durchaus sinnvoll sein. Coaches werden sich im Vorfeld mit den Merkmalen von „leadership in extremis“ auseinandersetzen. Und sie werden sich mit den Strukturen und der Kultur der auftraggebenden Institution vertraut machen. Sie können dann die Sinn stiftenden und Mut gebenden Funktionen der Werteorientierung nachvollziehen und werden nicht versuchen, sie als Abwehr zu relativieren. Denn der Mut, ein Team in eine potenziell letale Situation von vorne zu führen, basiert auf der Überzeugung, letztlich im Rahmen einer humanitären Mission und im Sinne der Gesellschaft zu handeln. Während im Führungskräftecoaching in Unternehmen emotionsaktivierende Interventionen zum besseren Selbstverständnis und Selbsterkenntnis regelmäßig angeboten werden, kommen im Coaching von Führern in Extremis primär emotionskontrollierende Interventionen und Übungen zur Anwendung. Findet die Coachingsitzung nach einer Extremsituation mit belastenden, auch letalen Ereignissen statt, kann das Coaching die Funktion einer Clearing-Stelle übernehmen. Gleichzeitig gilt es zunächst, Suizidalität als Reaktion auf traumatische Erfahrungen auszuschließen. Bis zur Aufnahme eines adäquaten Therapieangebots wird der Coach für die Klienten im Hintergrund verfügbar sein. Auch das können wir von der Geschichte der Raumfahrt lernen.