1 Ausgangspunkt: Die Praxis des Schweigens über Gewalt in Institutionen

Machtmissbrauch und Gewalt durch Personal in institutionellen Kontexten ist ein historisches und gegenwärtiges Phänomen (Kuhlmann und Schrapper 2001), das in verschiedenen Phasen der Geschichte von Institutionen als angemessene Disziplinierung und Erziehung legitimiert wurde. Auch gegenwärtig bilden sich Gewaltsysteme in Einrichtungen aus. Vor dem Hintergrund der rechtlichen Ächtung von Gewalt als Erziehungsmittel ist es dabei besonders aufschlussreich, auf die konzeptionelle und fachliche Sprache zu achten, mit der disziplinierende Maßnahmen gegenüber Adressat:innen dargestellt werden. Insofern ist eine missbräuchliche Verwendung von Sprache zur Verschleierung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen ein Feld, in dem sich der Umgang mit dem Nicht-Sagbaren besonders deutlich zeigt. Vor diesem Hintergrund will ich in diesem Beitrag anhand einer Fallstudie zu konzeptionell legitimierter Gewalt der Frage nachgehen, wie sich das Sagbare in Organisationen in solchen institutionellen Praktiken verschiebt.

In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten hat sich international eine neue Debatte zu Machtmissbrauch und Gewalt durch pädagogische, psychologische und medizinische Fachkräfte in Institutionen entwickelt. Initiiert haben dies Menschen, die als Kinder und Jugendliche in Heimen und Internaten gelebt und dort entsprechende Erfahrungen gemacht haben. Infolgedessen wurden in verschiedenen Ländern betroffenenorientierte Aufarbeitungsformate entwickelt, Kommissionen eingesetzt und Forschungen gefördert (vgl. Andresen 2015).

In der einschlägigen Debatte fällt die vielfältige Verwendung des Schweigebegriffs auf. Oftmals wird der Begriff des Schweigens metaphorisch genutzt, etwa durch die Rede vom „Schweigen brechen“ oder von „Mänteln“, „Mauern“ und „Kartellen“ des Schweigens. Mit solchen Formulierungen erscheint Schweigen als schwer zu durchdringende Hülle, die Institutionen von außen zu umgeben scheinen und der Aufdeckung von Gewaltsystemen entgegenstehen (vgl. Lorenz 2020). Wie sich dieses Schweigen im vielfältigen Reden und Schreiben im organisationalen Alltag praktisch gestaltet, bleibt dabei offen. Schweigen ist jedoch nicht selbsterklärend, sondern stets interpretationsbedürftig und kontextgebunden (vgl. Geiss und Magyar-Haas 2015). Deutlich wird dies an den zahlreichen Bedeutungen, die Schweigen haben und vermitteln kann, wie z. B. andächtiges, inniges, betretenes oder feindseliges Schweigen (vgl. Assmann 2013).

Mit der Untersuchung von Schweigepraktiken in Organisationen wird an Forschungsarbeiten angeschlossen, in denen aufgedeckte Gewaltkonstellationen historisch rekonstruiert werden (vgl. Keupp 2017; Schmuhl und Winkler 2011). Empirische Forschungen zum Schweigen fragen nach dem Organisationsklima und nach Fehlerkulturen in Einrichtungen, die ein Schweigen oder Sprechen über Gewalt befördern oder verhindern (vgl. Derr et al. 2017). Zudem gibt es erste Studien aus der Personal- und Organisationsforschung, die sich mit den Begründungen von Mitarbeiter:innen für ein Schweigen oder Sprechen über Missstände in Organisationen befassen (vgl. Knoll und van Dick 2013).

In Erweiterung dieses Forschungsstands fragt die in diesem Artikel vorgestellte Studie nach dem Wie des Schweigens. Das Erkenntnisinteresse betrifft damit routinierte soziale Praktiken des Schweigens über Machtmissbrauch und Gewalt durch Mitarbeiter:innen im organisatorischen Alltag. Ein praxeologischer Zugang geht von einer Einsozialisierung und Einübung in kontextspezifische, routinierte Praktiken sowie von der Möglichkeit ihrer stummen Weitergabe aus. Organisationsmitglieder können allein durch ihre Teilhabe am Organisationsgeschehen zum Verschweigen der Gewalt beitragen, ohne vom Gewaltgeschehen oder von dessen Ausmaß zu wissen. Zugleich sind implizite Wissensbestände um organisationale Strukturen und Machtverhältnisse zentral, um kontextspezifische Praktiken überhaupt ausführen zu können (vgl. Schmidt 2012; Reckwitz 2003). Wie sich das Sagbare in solchen Praktiken verschiebt, wird im Folgenden anhand einer Fallstudie im Bereich der Eingliederungshilfe diskutiert.

2 Die Verschiebung des Sagbaren: Eine Fallstudie

2.1 Konzeptionell legitimierte Gewalt in Wohngruppen der Eingliederungshilfe

In zwei Wohngruppen der stationären Eingliederungshilfe in einem großen diakonischen Träger in Nordrhein-Westfalen übte ein Team über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren (2005–2008) systematisch Gewalt aus. Die damaligen Bewohner:innen der Gruppen sind Mädchen und Jungen im Alter von 9 bis 15 Jahren, die sogenannte „Mehrfachdiagnosen“ erhalten haben. Eine der beiden Gruppen, das „Lernfenster“, wird als intensivpädagogische Gruppe damit beworben, auch solche jungen Menschen aufnehmen und mittels seines therapeutischen Programms verändern zu können, mit denen sich andere Gruppen überfordert sehen (vgl. Gruppenkonzept Lernfenster o.J., S. 3). Das Team einte die Vorstellung, sie würden die Kinder und Jugendlichen vor Psychiatrieaufenthalten bewahren und langfristig verändern können.

Das therapeutische Selbstbild speisten die Mitarbeiter:innen aus dem auf dem IntraActPlus-Konzept (Jansen und Streit 2006) basierenden Gruppenkonzept. Dem IntraActPlus-Konzept zufolge könnten Bezugspersonen Verhaltensänderungen durch „sekundengenaue Bestrafungen für negatives Verhalten“ oder „Belohnungen für positives Verhalten“ (ebd., S. 202) erzielen. Im Alltag der Wohngruppen konkretisierte sich diese Vorstellung in gewaltförmigen Interventionen, die dokumentiert sind, da das Team zu Reflexionszwecken Videos aufnahm. Zu den Gewalthandlungen zählen verbale Demütigungen, systematischer Essensentzug und Vergabe ungenießbaren Essens, Strafsitzen, wiederholtes vom Stuhl Stoßen einer Jugendlichen durch mehrere Erwachsene, stundenlanges Festhalten der Bewohner:innen in Kombination mit dem gezielten Zufügen von Schmerzen und tagelanger Isolation einzelner Jugendlicher. Dabei wurden aus dem Ansatz in erster Linie zwei Instrumente aufgegriffen und gewaltförmig ausgelegt:

  • Ein Bestrafungssystem durch den schrittweisen Entzug einer bestimmten Anzahl von Klötzchen als Symbolfiguren bei unerwünschtem Verhalten (vgl. Gruppenkonzept o.J., S. 8). Beim Verlust aller Symbolfiguren erfolgten gewaltförmige Bestrafungen.

  • Die „Körperorientierte Interaktionstherapie“ (KIT), durch die Kinder und Jugendliche das Zulassen von Körperkontakt erlernen und vermeintliche „Körperkontaktblockaden“ überwinden sollen (vgl. Gruppenkonzept o.J., S. 10; Jansen und Streit 2015, S. 5). Alle Bewohner:innen mussten sich der KIT in teils stundenlangen Sitzungen unterziehen, bei denen sie von mehreren Erwachsenen festgehalten wurden. Die massive Gewalt, die hierbei angewandt wurde, entwickelte sich im Zuge der teaminternen Auslegung des Ansatzes. Zum Zeitpunkt der Konzeptbewilligung wurde die KIT bereits von Psycholog:innen kritisiert, und es wurde darauf hingewiesen, dass sie eine modifizierte Form der Festhaltetherapien nach Jirina Prekop darstellt (vgl. Benz 2013).

Ab Sommer 2008 wurde die Gewalt durch Mitarbeiter:innen der Gruppen sowie durch einen betroffenen Jugendlichen schrittweise aufgedeckt. Nach einer Selbstanzeige der Organisation wurde eine strafrechtliche Aufarbeitung eingeleitet, die in einen Strafprozess und die Verurteilung dreier Fachkräfte zu mehrmonatigen Haftstrafen mündete, von denen zwei zur Bewährung ausgesetzt wurden. Über Mitarbeiter:innen und Supervisor:innen der Organisation wurde eine externe wissenschaftliche StudieFootnote 1 initiiert, die von 2013 bis 2016 durchgeführt wurde (vgl. Lorenz 2020).

2.2 Methodik

Das Material des qualitativen Samplings der Studie umfasst das Gruppenkonzept, 18 narrative Interviews mit ehemaligen und aktuellen Mitarbeiter:innen der Organisation, zwei leitfadengestützte Interviews mit Fachkräften der Einrichtungsaufsicht und des Kostenträgers sowie 164 Seiten aus dem Übergabebuch des Teams. Die Perspektiven der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern wurden in der Analyse nicht berücksichtigt.

In der Datenanalyse wurde ein materialübergreifendes Codierungssystem zu Phänomenen aus dem Material entwickelt (vgl. Strauss 1998), ergänzt um eine Interpretation des Übergabebuchs des Teams als kollektive legitimatorische Selbsterzählung der Fachkräfte (vgl. Hall et al. 1997). Auf diese Weise konnten soziale Praktiken rekonstruiert werden, die mithilfe einer Heuristik zum Schweigebegriff interpretiert wurden.

3 Theoretischer Rahmen zum Schweigen und Verschweigen von Gewalt

3.1 Zum Gewaltbegriff der Untersuchung

Verschiedene Gewaltformen verschränkten sich in Handlungen der Mitarbeiter:innen, mit denen sie den Kindern und Jugendlichen Leid zufügten und die ihrer Entwicklung entgegenstanden. Diese Gewalt in institutionellen Machtverhältnissen war von einem instrumentellen Einsatz von Machtmitteln gekennzeichnet. Zu diesen Machtmitteln zählen in den stationären Hilfen körperliche Überlegenheit, materielle Ressourcen, physische und emotionale Versorgung (vgl. Wolf 2007) sowie die Macht der Fachkräfte, das Verhalten von Kindern in institutionellen Dokumenten zu interpretieren. Legitimatorisch beriefen sich die Fachkräfte in ihren Gewalthandlungen auf das konzeptionell fixierte „ideale Verhaltensmodell“ (Goffman 1973), durch dessen Folie Handeln bewertet und jegliche Abweichung sanktioniert wurde. Statt den Kindern ein förderliches, auf ihre Bedarfe abgestimmtes Alltagsumfeld zu gestalten, wurden sie beschämt, gerahmt von normativen Konzepten des „schwierigen“ versus des „funktionierenden“ Kindes (vgl. Demant und Lorenz 2020).

3.2 Schweigen und Verschweigen

Aufgrund der Allgegenwärtigkeit von Schweigen in der Kommunikation (vgl. Hahn 2014) und der phänomenologischen Nähe des Schweigens zur Lautlosigkeit oder zur Stille ist die Wahrnehmung, dass jemand schweigt, zunächst eine Zuschreibung. Die jeweilige Bedeutung von Schweigen gilt es in sozialen Kontexten zu erkennen und zu verstehen (Assmann 2013; Hahn 2014). Methodisch kann Schweigen daher nicht direkt aus dem Material rekonstruiert werden, sondern die Frage gilt den sozialen Praktiken, die es im Untersuchungsfall ermöglicht haben, Gewalt zu de-thematisieren und damit im Effekt zu verschweigen. Im Folgenden skizziere ich einige Dimensionen des Schweigens in der (Schrift‑)Sprache, die für das Verständnis der folgenden Interpretationen des Materials relevant sind (vgl. ausführlicher Lorenz 2020).

Schweigen als soziale Ordnungsfunktion in Institutionen:

Gesellschaften werden strukturiert durch Sprech- und Schweigeregeln darüber, was durch wen mit wem besprochen werden soll und was nicht. Praktiken des Schweigens sind ein wesentliches Element des Sozialen, indem sie auf Loyalitäten basieren und Gruppenmitglieder aneinanderbinden (vgl. Assmann 2013; Hahn 2014). Spezifische Schweigerechte oder -verbote sind institutionalisiert und verbunden mit Hierarchien und Machtverhältnissen. In den stationären Hilfen ist demnach zu fragen, welche institutionellen Rollen mit welchen Optionen oder Hürden verbunden sind, über Gewalterfahrungen oder -beobachtungen zu sprechen oder darüber zu schweigen. Goffman zeigte, wie Schweigen ein konstitutives Element von Institutionen mit einem sozialtherapeutischen Mandat ist. Das Verschleiern bestimmter Dimensionen der Biografien von Klient:innen und das Ignorieren der Auswirkungen des institutionellen Kontexts auf ihr Verhalten ist für die Legitimation von Interventionen und Entscheidungen des Personals relevant (vgl. Goffman 1973).

Schweigen im Sprechen:

Von den in der Literatur zum Schweigen unterschiedenen Formen ist für den Untersuchungszusammenhang das verbale Schweigen besonders relevant. Dieses wird auch beschrieben als „wortreiche Stille“ (Assmann 2013) oder „das Schweigen im Reden, das Schweigen mit dem Wort“ (von Sass 2013, S. 15). Die Annahme, dass die Sprache der bevorzugte Ort ist, um über etwas zu schweigen (Hahn 2014), sensibilisiert für das Verschwiegene im vielfachen Sprechen in pädagogischen Institutionen. Aleida Assmann (2013) bezieht die wortreiche Variante des Schweigens ausdrücklich auf den Umgang mit Schuld. Hannah Arendt (1967) wies darauf hin, wie Wörter missbraucht werden können, wenn sie nicht dazu verwendet werden, Handeln anderen verständlich zu machen, sondern es gegenüber anderen sprachlich zu verschleiern. Ein solcher Missbrauch von Sprache zur Verschleierung von Handlungen kann als Übergang von legitimer, da auf einem Konsens basierender Machtausübung zu Machtmissbrauch und Gewalt verstanden werden. In Arendts Gewaltverständnis ist die Gewalt stumm (ebd., S. 36). Gewalt beginnt demnach, wenn Worte missbraucht werden, um Handeln zu verschleiern und unkenntlich zu machen (ebd., S. 252).

Schweigen in schriftlichen Dokumenten:

Schreiben ist reduziert auf eine Ausdrucksform, in der Ton, Gesten und Mimik fehlen (vgl. Simmel 2016, S. 430). Diese Reduzierung und Materialität eines Textes begünstigen die subjektive Interpretation, Rezeption und Missverständnisse der Leser:innen. Wenn es um schriftliche Dokumente geht, wird zudem die Nichtreaktion als stille Zustimmung zu deren Inhalt verstanden. Die stille Annahme von Texten wirkt hinsichtlich der Effekte von Aussagen in institutionellen Dokumenten wie Akten, Berichten und Dokumentationen. Denn schriftliche Erklärungen, denen nicht ausdrücklich widersprochen wird, scheinen gebilligt zu werden oder zumindest legitim zu sein (vgl. Assmann 2013).

3.3 Das Übergabebuch: Verschweigen von Gewalt in professionellen Selbsterzählungen

Die Narrationsanalyse des Übergabebuchs als professional storytelling (Hall et al. 1997) zeigt, wie die Teamerzählung im Übergabebuch interaktiv hergestellt wurde. Charakteristisch für social work talk ist die narrative Etablierung der Charaktere von Fachkräften und Addressat:innen, indem ein Fall so dargestellt wird, dass die Handlungen der Fachkräfte sinnvoll erscheinen. Die Darstellung der Adressat:innen als abweichend ist erzählerisch notwendig, um Interventionen zu legitimieren. Dafür werden die Stimmen der Adressat:innen in social work talk ausgelassen, als nicht vertrauenswürdig oder als die Professionellen bestätigend dargestellt, während die Stimmen der Fachkräfte als Fakten erscheinen. Verstärkt wird dies, indem das Handeln von Fachkräften und Addressat:innen als Kontrast dargestellt wird (ebd.). In diesem Sinne verfassten die Mitarbeiter:innen im Untersuchungsfall in ihrem Übergabebuch eine kollektivierende Selbsterzählung, in der sie die Einträge ihrer Kolleg:innen rezipierten und fortschrieben. Dabei inszenierten sich die Fachkräfte als erfolgreich therapeutisch handelndes Team. Dafür werden die Stimmen der Kinder und Jugendlichen in den Einträgen des Übergabebuchs verschwiegen oder funktionalisiert, während die gewalttätigen Handlungen der Erwachsenen ausgelassen, umgedeutet, erzählerisch eingebettet, euphemisiert und legitimiert werden. Insgesamt erscheint die Dokumentation als fragile Erfolgsgeschichte, die das Team über sich selbst und seinen vermeintlich erfolgreichen Umgang mit den als besonders „schwierig“ etikettierten Bewohner:innen verfasst.

4 Befunde: Die Verschiebung des Sagbaren in organisationalen Schweigepraktiken

Aus der Datenanalyse ließen sich Komplexe von Schweigepraktiken rekonstruieren, in denen die Gewalt in den Wohngruppen verschwiegen und de-thematisiert wurde. In den betreffenden Praktiken vollzieht sich das Schweigen im professionellen Sprechen und Schreiben, das Verschleiern von Gewalt gegenüber Außenstehenden, die Verschiebung des Sagbaren in ausbleibenden Reaktionen Außenstehender sowie das Schweigen nach dem Schweigebruch. Diese vier Komplexe werden im Folgenden erläutert.

4.1 Schweigen im professionellen Sprechen und Schreiben

Das auf dem IntraActPlus-Ansatz basierende Gruppenkonzept war wesentlich für die Verschleierung von Gewalt in der Teamkommunikation. Das Konzept bot dem Team zahlreiche Begriffe und Begründungen an, mit denen es seine Übergriffe gegen die Bewohner:innen als pädagogisch oder verhaltenstherapeutisch kategorisieren und umdeuten konnte, sodass die Gewalt in der Kommunikation über das Handeln sprachlich verschleiert wurde. Die Strukturelemente des so praktizierten verbalen Schweigens über Gewalt zeigen sich in folgendem längeren Eintrag aus dem Übergabebuch des Teams.

„[…] Hatice → Hatte Spaß am Frühlingsfest, viel getanzt und gelacht, aber auch extrem viel provoziert. Später KIT-Ähnliche Einheiten und halten, auch ca. 2 h, dann entspannt und geschafft ins Bett.“ (Übergabebuch)

Im zitierten Ausschnitt wird nach einem Fließtext, in dem das Team gelobt wird, stichpunktartig auf die einzelnen Bewohner:innen eingegangen. Dabei sind die aufgelisteten Verhaltensbeschreibungen von thematischen Sprüngen gekennzeichnet. Zu Hatice wird notiert, dass sie „Spaß“ bei einem Fest im Einrichtungsbereich gehabt und zugleich „extrem viel provoziert“ habe. Mit diesem Hinweis wird legitimatorisch die Nennung von „KIT-ähnliche[n] Einheiten und halten“ über „ca. 2 h“ eingeleitet. Die Einordnung der KIT erfordert Kontextwissen: Außenstehende, die das Konzept, aber nicht die Gruppenpraxis kennen, können die KIT einordnen als „körperorientierte Interaktionstherapie“ aus dem IntraActPlus-Ansatz. Eingeweihte Teammitglieder lesen den Begriff „KIT“ und können damit die Teampraxis des Festhaltens von Kindern und Jugendlichen unter Zwang mit mehreren Erwachsenen und oft unter Zufügung von Schmerzen verbinden. Im Lesen des Gesamteintrags gehen die Hinweise auf das „Halten“ beim Lesen eher unter, indem sie eingebettet sind in zahlreiche andere Aufzählungen. Textstrukturell stellen die Erwähnungen des Haltens zwar immer eine kurze erzählerische Auflösung einer vorherigen Konfliktsituation oder einer Störung durch die Jugendlichen dar (hier: „extrem viel provoziert“). Sie erscheinen jedoch nicht als erzählerischer Höhepunkt, sondern werden unter anderen Punkten aufgezählt, was ihre Selbstverständlichkeit unterstreicht. Wie genau gehalten wurde und was während der „zwei Stunden“ des sogenannten Haltens zwischen den Mitarbeiter:innen und Hatice passiert ist, bleibt unbeschrieben und offen. Diese fehlende Präzisierung ist ein Hinweis darauf, dass es sich um eine Form von Listenkonstruktion (Knerich 2013) handelt, die in erster Linie als Inszenierung fungiert. Durch den Einsatz vorgeformter Ausdrücke (wie z. B. „total konsequent und grenzsetzend sein“ oder „entspannt und geschafft ins Bett“) wird eine Detaillierung suggeriert. Tatsächlich bleiben die einzelnen Elemente der Liste aber sehr reduziert und inhaltlich leer (vgl. ebd.), sodass trotz der Notizen zu den einzelnen Bewohner:innen offenbleibt, was sich eigentlich in dieser Dienstzeit in der Wohngruppe ereignet hat. In der vermeintlich genauen schriftlichen Darstellung des Gruppenalltags wird etwas Bestimmtes, für den Kontext Entscheidendes verschwiegen.

4.2 Verschleiern von Gewalt in der Elternarbeit

Der zweite Komplex umfasst Praktiken, mit denen das Team ausgewählte Dimensionen des täglichen Gruppenlebens für Außenstehende kontrolliert verschleierte und enthüllte. So wurden unter anderem die Eltern der Kinder und Jugendlichen in den Gruppen durch situative Einblicke in die Gruppenpraxis getäuscht. Die Eltern wurden in die Handlungslogik des Teams einbezogen und auf eine bestimmte Rolle festgelegt: Dem Konzept zufolge waren sie zunächst überfordert und nun auf die therapeutische Arbeit der Fachkräfte angewiesen. Die Verwendung des IntraActPlus-Ansatzes wurde konzeptionell durch die pauschale Aussage gerechtfertigt, dass „Eltern schwieriger Kinder oft an ihre Grenzen stoßen“ (Gruppenkonzept) würden. Mit Hinweis auf eine „besonders schwere Belastung“ in der Herkunftsfamilie wird erklärt, dass die Eltern in den „therapeutischen Prozess“ (ebd.) einbezogen werden sollten. Diese konzeptionelle Ankündigung nimmt Bezug auf anerkannte Konzepte der partizipativen und systemischen Arbeit mit Familien. Solche terminologischen Referenzen zu anerkannten pädagogischen und therapeutischen Ansätzen sind exemplarisch für die Selbstrepräsentation des Teams. In der Gruppenpraxis bedeutete dies jedoch, dass der Einbezug der Eltern unter enger Kontrolle des Teams erfolgen sollte: „Gespräche und Übungen sind in regelmäßigem Tonus genauso wichtig wie klar festgelegte und direktiv begleitet Kontakte“ (Gruppenkonzept). Die Kontakte zwischen Kindern und Eltern wurden damit in die Team-Interpretation der Wohngruppe als therapeutisches Umfeld eingebettet. Dieser konzeptionelle Rahmen stellte sicher, dass die Teammitglieder die Zeiten und den Ablauf der Elternkontakte kontrollieren konnten und dass es eher keine kurzfristigen oder unangekündigten Besuche in den Wohngruppen geben würde. Eine solche Regelung der Besuchszeiten ist auch in Wohngruppen denkbar, in denen keine Gewalt stattfindet, und könnte pädagogisch begründet sein – z. B. mit dem Argument, dass Kinder sich auf den Besuch vorbereiten können. Im Fall der gewalttätigen Teamkonstellation ermöglichte die Praxis der absoluten Kontrolle der Elternbesuche jedoch, die Gewalt in den Gruppen zu verbergen.

Im Gruppenkonzept wird die Funktion des kontrollierten Einbezugs erkennbar, wenn die Ziele der Elternarbeit beschrieben werden. Die konzeptionell formulierte Maxime „keine Nischen“, die auch eine zentrale Figur im Übergabebuch des Teams darstellt, enthält mehrere Bedeutungen: Die erste, explizite Bedeutung, die Außenstehende im Text erkennen können: Wenn die Eltern den Ratschlägen der Fachkräfte folgen, erhält ihr Kind „keine Nischen mehr, um das Fehlverhalten stabil aufrechtzuerhalten“ (Gruppenkonzept). Die zweite Bedeutung ist für das Team und seine Verschleierung von Gewalt relevant: Die „Nische“, die es zu schließen gilt, bedroht die Selbsterzählung des Teams, denn Eltern könnten durchaus zu alternativen Interpretationen des Verhaltens ihres Kindes kommen, die der Behauptung der notwendigen therapeutischen Interventionen durch das Team entgegenstehen. Eine weitere „Nische“ ist die Möglichkeit, dass die Kinder und Jugendlichen ihren Eltern von der Gewalt erzählen könnten. Diese Option wurde durch die konzeptionell definierte Allianz von Eltern und Mitarbeiter:innen jedoch eingeschränkt. Teil dieser Narration ist, dass die Eltern die Therapie unterstützen können, indem sie dazu beitragen, dass ihrem Kind „keine Nischen“ im familiären Kontakt bleiben.

Zu den Praktiken der Elternarbeit zählten insbesondere regelmäßige Telefonkontakte, die vielfach im Übergabebuch des Teams erwähnt werden. Dabei dokumentieren Teammitglieder ein positives Feedback der Eltern, wie in diesem Eintrag über eine Mutter: „Sie ist erleichtert, weil Manuel jetzt bei uns ist und sie endlich wieder gut schlafen kann“. Die von einem Mitarbeiter dokumentierte Aussage der Mutter bestätigt den Kolleg:innen, dass sich die Arbeitsweise des Teams positiv auf das gesamte Familiensystem auswirkt. Die Teammitglieder verstärken sich gegenseitig in ihrem Ansatz, indem sie diese und ähnliche Beiträge zitieren, in denen Elternstimmen ihre Arbeit bestätigen.

Goffman zufolge müssen systematische Einblicke in Einrichtungen mit einem therapeutischen Mandat für die funktionale Zusammenarbeit mit Angehörigen garantiert werden. Die Eindrücke der Besucher:innen werden auf diese Weise kontrolliert, und die Institution wird entsprechend inszeniert (vgl. Goffman 1973, S. 104). Aus dieser Perspektive können die ständigen Telefonkontakte auch als wortreiches Schweigen über die gewalttätigen Dimensionen im Leben der Kinder in den Gruppen beschrieben werden. Der stetige telefonische Kontakt mit dem Team erweckte bei den Eltern möglicherweise den Eindruck, dass sie umfassend informiert würden. Tatsächlich erhielten sie nur eine selektive Darstellung der Situation ihres Kindes. Ihre Eindrücke von den Wohngruppen wurden vom Personal kontrolliert, und die Gewalt wurde verschleiert. Die Eltern erhielten durch die konzeptionellen Versprechungen die Aussicht, dass der Aufenthalt in den Gruppen im Interesse ihrer Kinder sei und dass die Beeinträchtigungen ihrer Kinder durch die angebliche Therapie überwunden werden könnten. Dieses Versprechen bildete zusammen mit der Elternarbeit des Teams die Grundlage für die Annahme vieler Eltern, dass ihre Kinder in den Wohngruppen in guten Händen seien. Soweit rekonstruierbar, wurden die Eltern in diesen Praktiken nicht direkt belogen, jedoch wurden ihnen systematisch Informationen vorenthalten, die sie hätten wissen müssen, um die Ereignisse in den Wohngruppen angemessen beurteilen zu können. Indem das Team wesentliche Dimensionen des täglichen Gruppenlebens verschleierte, wurden die Eltern in ihrem Gesamteindruck getäuscht. Die ausführliche Kommunikation mit den Eltern zeigt sich als ein sprachliches Verschleiern gewaltförmiger Handlungen.

4.3 Ausbleibende Reaktionen Außenstehender

Der dritte Komplex umfasst Praktiken von Außenstehenden wie Vorgesetzten und Mitarbeiter:innen benachbarter Gruppen. Ihre Reaktionen auf das Team stabilisierten jahrelang die gewaltförmige Konstellation, auch wenn sie nicht um das Ausmaß der Gewalt wussten. Aus dem Datenmaterial geht hervor, dass andere Bewohner:innen, Fach- und Hauswirtschaftskräfte im Einrichtungsbereich einzelne Übergriffe beobachteten, wie im folgenden Ausschnitt aus einem Interview mit einer Fachkraft aus einer Nachbargruppe deutlich wird.

„es gibt einen (.) bewohner […] der is irgend-wann (2) 2006 oder 2007 (1) ganz aufgeregt […] reingekommen und hat die (.) pädagogen (1) ähm (.) in der [Nachbargruppe] angesprochen (1) wat machen (.) was machen denn eigentlich die betreuer in der Räuberhöhle mit der Rabea (1) die sitzen da alle auf stühlen um die Rabea drum herum (.) und die Rabea sitzt in der mitte und die werfen die da immer vom stuhl runter was soll das denn (.) die ham die gardinen zugezogen (.) aber da war ein kleiner spalt und er hatte sich so dann dahin gestellt (.) bis er verjagt worden war (1) ((holt luft)) von daher (.) ja das war bekannt (Fachkraft Gruppendienst)“

Der Interviewausschnitt verdeutlicht, wie ein Kind aus einer Nachbargruppe Zeuge von Gewalthandlungen wurde und die Fachkräfte davon durch seine Schilderung erfuhren. Auf solche Beobachtungen blieben jedoch Interventionen überwiegend aus, oder es erfolgten einzelne Meldungen an die Bereichsleitung, die aber lange Zeit unwirksam blieben, da das Team Rückhalt von der Leitung hatte und da die nach dem IntraActPlus-Ansatz neu konzipierte Wohngruppe als „Vorzeigegruppe“ galt. Aus dem Datenmaterial lassen sich insbesondere zwei Praktiken des Umgangs mit wahrgenommenen Irritationen rekonstruieren: interner Spott über das Team und das Zurückhalten kritischer Impulse.

So verspotteten Mitarbeiter:innen des Einrichtungsbereichs in Gesprächen mit ihren unmittelbaren Kolleg:innen das betreffende Team als „die Scientologen“ oder „Sekte“. Mit solchen Sprachbildern verdichteten sie ihre Wahrnehmung von sektenhaften Merkmalen der gewalttätigen Teamkonstellation. Tatsächlich weist das Team einige Strukturmerkmale auf, die Coser (2015) als Merkmale von Sekten analysiert hat. Hierzu zählt das Selbstverständnis des Teams, höheren moralischen Standards zu folgen und damit begründet seine eigenen moralischen Kriterien im Umgang mit den Bewohner:innen festzulegen. Es war Teil der Selbsterzählung des Teams, durch seine Orientierung am IntraActPlus-Ansatz ein exklusives Wissen zu besitzen, über das Außenstehende nicht verfügen würden. Hieraus begründete sich die Resistenz des Teams gegen jegliche externe und teaminterne Kritik. Ein Merkmal sektenhafter Strukturen ist zudem die Erwartung von totaler Loyalität (ebd.). Dies führte zu einer Vermischung von privaten und beruflichen Bereichen, etwa wenn Teammitglieder ihre Freizeit und Feiertage in den Wohngruppen verbrachten und ehrenamtlich die Gruppenräume renovierten. Diese sektenhaften Dynamiken trugen dazu bei, dass sich das Team innerhalb des Einrichtungsbereichs abgrenzte und jahrelang keine Intervention gegen die gewalttätige Praxis aus dem Team heraus erfolgte.

4.4 Die Verschiebung des Sagbaren in zurückgehaltener Kritik

Die Praktik der Fachkräfte aus Nachbargruppen, Kritik an der Arbeit des Teams primär als Spott unter ihren Kolleg:innen auszudrücken, blieb eine unwirksame Form der Thematisierung, indem sie nicht in die gewalttätige Praxis intervenierte und damit indirekt die Gewaltstruktur stabilisierte. In Interviews schildern Mitarbeiter:innen aus Nachbargruppen zudem, dass sie kritische Impulse in der Kommunikation mit dem Team gleichsam „geschluckt“ hätten. So erzählt eine Fachkraft im Interview von Situationen beim morgendlichen gemeinsamen Warten auf die Schulbusse, in denen Mitarbeiter:innen des Teams irritierende Einzelheiten ihres Umgangs mit den Kindern und Jugendlichen mit Fachkräften aus anderen Gruppen des Einrichtungsbereichs teilten.

„[…] dass die gesagt haben so ja man (.) gewöhnt den bewohnern das und das verhalten ab wenn man denen immer das zu essen gibt was die nicht mögen und so so: äh wo man dann so geschluckt hat und gedacht hat äh […] (Fachkraft Nachbargruppe)“

Ähnlich wie andere Interviewpartner:innen erinnert die zitierte Fachkraft ihre Irritation über die ihr von Mitarbeiter:innen des Teams geschilderte Bestrafungspraxis. Sie schildert im Interview eine Irritation, die nicht verbalisiert wurde, sondern „gedacht“ und „geschluckt“ blieb. Mit ihrem gegenwärtigen Wissen über die als vermeintliche Verhaltenstherapie gelabelte Gewaltpraxis und vor dem Hintergrund der organisationalen Auseinandersetzung ordnet sie das vor Jahren Gehörte nun im Interview als Teil und Ausdruck eines umfassenden Gewaltsystems ein. Die Deutung und (Neu‑)Einordnung von Situationen als gewaltförmig zeigt sich in solchen Erinnerungen als ein sozialer Prozess.

Das Schweigen über die Gewalt vollzog sich damit in fehlenden Nachfragen und ausbleibenden Meldungen, aber nicht wortlos. Das Sprechen über irritierende Wahrnehmungen wurde in den kollegialen Austausch verlagert. Diese Form der Thematisierung von Unbehagen vermochte jedoch nicht in das Gewaltsystem einzugreifen und die Situation der jungen Menschen in den Gruppen zu verbessern. Neben den beschriebenen Praktiken des internen Spotts und der unausgesprochenen Kritik gibt es im Datenmaterial einzelne Hinweise auf Mitarbeiter:innen benachbarter Gruppen, die den Bereichsleitungen ihre Beobachtungen melden. Den Interviewerinnerungen zufolge wurden solche Einzelmeldungen von den Vorgesetzten mehrere Jahre lang nicht aufgegriffen oder sogar zurückgewiesen. Institutionelle Hierarchien filterten die im Einrichtungsbereich ausgesprochenen Beobachtungen. Die Leitung intervenierte erst, als sich drei Teammitglieder und eine Fachkraft einer Nachbargruppe zusammenschlossen und gemeinsam eine detaillierte Meldung über die Gewalthandlungen machten.

4.5 Schweigen nach dem Schweigebruch

Infolge der geschlossenen Meldung der Mitarbeiter:innen erfolgte eine schrittweise Aufdeckung, die sich über eineinhalb Jahre hinzog. Zunächst wurde nur die Gruppenleiterin von ihren Pflichten entbunden, und die Geschäftsleitung erklärte sie zur Hauptursache der Gewalt. Es folgte eine Phase von etwa einem Jahr, in der keine weiteren Ermittlungen stattfanden. Eine endgültige Offenlegung erfolgte im August 2009 nach einem Wechsel der Gesamtleitung. Eines der Opfer, ein Bewohner, der weiterhin in der Einrichtung lebte, wurde von einem Mitarbeiter einer anderen Gruppe ernst genommen, als er die Gewalt beschrieb, woraufhin das neue Management reagierte, sodass eine polizeiliche Untersuchung eingeleitet wurde. In der Zeit zwischen diesen beiden Momenten der Offenlegung, aber auch darüber hinaus, zeigen die Daten, wie die Schweigepraktiken zur Geschichte der Gewaltkonstellation in der Einrichtung fortgesetzt wurden. Deutlich wird daran, dass die routinierten Schweigepraktiken nicht mit einem einmaligen Bruch enden, wie es die Formulierung des „Schweigebrechens“ nahelegt, sondern dass es Ermöglichungs- und Verhinderungskontexte des (Nicht‑)Sagbaren in Organisationen gibt. Die Fortsetzung der Schweigepraktiken nach der Aufdeckung zeigt, dass die Aufarbeitung eines Gewaltsystems eine separate Phase ist, die explizite Aufmerksamkeit erfordert.

Geteilte Geheimnisse binden Gruppen zusammen und stärken gegenseitige Loyalität (Simmel 2016). Die Teammitglieder der beiden Wohngruppen waren aufgrund des jahrelangen Wissens über den gemeinsamen Einsatz von Gewalt gegen die Jugendlichen in der Gruppe voneinander abhängig. Das Geheimnis des Teams und die Durchsetzung des Schweigens prägten die Teamerzählung vor der ersten wirksamen Offenlegung. Die Analyse legt nahe, dass das gemeinsame Geheimnis des Teams vor der ersten Offenlegung für die meisten Teammitglieder mit einem subjektiven Gewinn verbunden war. Dieser Gewinn lag im Selbstbild, Teil eines erfolgreichen therapeutisch arbeitenden Teams zu sein, was durch die Bezugnahme auf den IntraActPlus-Ansatz ermöglicht wurde. Dass dieses Selbstbild über die Aufdeckung hinaus aufrechterhalten wurde, zeigen die Dokumentationspraktiken des Teams, die sich nach der ersten Offenlegung zunächst nicht grundlegend änderten. Mit der Entfernung der Gruppenleitung und dem Verzicht auf bestimmte Strafen änderte sich der Rahmen der Arbeit zwar erheblich, doch die Gewalt in den Wohngruppen wurde in der Dokumentation weiterhin nicht benannt, und die routinierte Dokumentationspraktiken wurden fortgeführt. Dies ist möglicherweise auf die Wiederholbarkeit sozialer Praktiken zurückzuführen, die zeitlich und unter veränderten Umständen fortgesetzt werden können (vgl. Reckwitz 2003; Schmidt 2012). Die Selbstdarstellung des Teams wurde nach der ersten effektiven Diskussion fragiler, war aber noch nicht grundlegend dekonstruiert. So wurde z. B. dokumentiert, dass die Eltern über das „Verlassen“ der Gruppenleitung informiert wurden, und es wurden interne Teamvereinbarungen darüber getroffen, wie mit der Situation umzugehen ist, wenn ein junger Mensch während seines Besuchs zu Hause „etwas“ sagte. Die vom Team begangene Gewalt und das Leiden der Kinder als Grund für diese Ereignisse blieben in solchen Formulierungen unbenannt.

In den Interviews wird jedoch deutlich, wie sich solche Praktiken in einem mehrjährigen Prozess veränderten und wie Reflexionsprozesse bei einzelnen Mitarbeitern einsetzten. Im Laufe der Jahre sind mehrere organisationale Narrative zur Geschichte der Gewalt in der Organisation entstanden. Dazu gehört ein personalisierendes Narrativ, in dem die Ursache in den Persönlichkeiten der direkt beteiligten Mitarbeiter gesehen wird. Andere Erzählungen erklären die Ursache der Gewalt eher durch Organisationsstrukturen und die Organisationskultur, die die gewalttätige Konstellation ermöglichten (vgl. auch Klatetzki 2019).

5 Resümee und Schlussfolgerungen

Die Befunde aus der in diesem Artikel diskutierten Fallstudie verdeutlichen, dass es zum Verschweigen von Machtmissbrauch und Gewalt durch Mitarbeiter:innen in Organisationen keine aufwändigen Geheimhaltungsmaßnahmen braucht. Offenbar kann die Gewalt in organisationalen Hierarchien und mithilfe von Fachsprache verschleiert, umgedeutet und de-thematisiert werden. Weiterhin zeigen die Befunde, wie sich das Sagbare im Kontext einer Normalisierung von Gewaltpraktiken in einem Team und in der Form der Darstellung der Gruppenpraxis nach außen verschieben kann. Dies wirft die Frage nach Verhinderungsmöglichkeiten auf, auch in Bezug auf den Kontext Supervision.

Team- und Einzelsupervisionen können ein Reflexionssetting sein, um etablierte Handlungsroutinen und die zu ihrer Beschreibung genutzte Sprache zu reflektieren. Angesichts der in den Befunden deutlich werdenden Stabilität von organisationalen Schweigepraktiken liegt eine Herausforderung für Supervisor:innen darin, nicht Teil dieser Routinen zu werden. In Bezug auf die Verhinderung von Machtmissbrauch und Gewalt durch Professionelle in Organisationen könnte die Aufgabe von Supervisor:innen also darin liegen, Teams und einzelne Fach- und Leitungskräfte in der Reflexion, Hinterfragung und Irritation etablierter Praktiken der Besprechung, Dokumentation und Darstellung des fachlichen Handelns zu unterstützen.