1 Herleitung der Fragestellung

Laut einer Umfrage des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz) aus dem Jahre 2020 sind 86 % der Deutschen zu deutlichen Einschränkungen ihres Lebensstils bereit, um das Klima zu schützen (BUND 2020). Wenn das so ist, dann ist ja alles klar, die gesellschaftliche Transformation scheint ja ganz einfach zu sein! Schauen wir hingegen auf die aktuelle politische Debatte, lässt sich diese Bereitschaft durchaus in Frage stellen. Hitzige Diskussionen um Wärmepumpen-Sozialismus (NZZ) und Heizkataster – es ist die Rede von der Ökodiktatur – werfen ein ganz anderes Bild auf die Veränderungsbereitschaft der Bürger:innen. Psychodynamisch gesprochen, scheint in der Umfrage des BUND das Über-Ich durch ein Ich-Ideal ersetzt worden zu sein.

In der aktuellen politischen Debatte verschwindet die Perspektive, dass dem Staat der Schutz der Bürger:innen auch vor nicht leistbaren Kosten, die fossile Brennstoffe verursachen werden, als zentrale Aufgabe zukommt. Die Erkenntnis verblasst gerade, dass es auch ordnungspolitische Maßnahmen braucht, da a) die Regulierung durch die Märkte eine Illusion ist und b) dem Einzelnen nicht die Verantwortung zur Weltrettung aufgebürdet werden kann, denn auch dazu dienen strukturelle Maßnahmen. Machtpolitische Erwägungen ersticken aktuell die Erkenntnis, dass es neben Abgabenpolitik auch Verhaltensanstöße braucht und eine kollektive Notwendigkeit besteht, Denk- und Verhaltensmuster bzw. Glaubenssätze zu überarbeiten, die für die aktuellen Herausforderungen nicht adäquat sind.

Stattdessen breitet sich aktuell ein gesellschaftliches Klima aus, das von viel Angst und Verunsicherung gekennzeichnet ist, bis dahin, dass ein demokratischer Kipppunkt befürchtet wird (32 % für die AfD in Umfragen im Land Brandenburg und auch in Thüringen). Um unsere Rolle als Coaches, Supervisor:innen und Organisationsberater:innen in diesem gesellschaftlichen Transformationsprozess auszuloten, haben wir uns für dieses Schwerpunktheft entschieden. In unserem Business beginnen wir üblicherweise zunächst einmal mit dem Verstehen der o. g. Phänomene.

2 Gründe und Hintergründe dieser Situation

Es geht ja ganz grundsätzlich um die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. In seiner Schrift „Das Unbehagen der Kultur“ nennt Freud (1930) uns einen „Prothesengott“, insofern technische Hilfsmittel uns in den Fortschritt geführt haben (vgl. Busch 2021). Geräte und Maschinen, die berühmte deutsche Ingenieurskunst, halfen, die Welt zu beherrschen. Wir waren stolz, gottgleich, jedoch immer in Kombination mit unguten Gefühlen, dem Unbehagen der Kultur, das nicht allein auf einer Unterdrückung der Sexualität fußt, vielmehr braucht auch die Aggression Ventile. Im Sinne der „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer 1967) richtet diese sich auf die uns umgebende Natur, die beherrscht, erobert und nutzbar gemacht wurde. Fliegen, Fahren, Verbrauchen, Bauen, Ausbeuten sind auch als Mittel der Affektabfuhr zu verstehen. Diese Allmachtsfantasien und Kontrollüberzeugungen haben uns lange Zeit getragen. Der Prothesengott fand Ausdruck in einer Orientierung auf Markt, Wachstum, Geld, Konsum und Erfolg als säkulare Religion, als heilige Entitäten. Alles, was wir psychisch an Abwehrformation zur Verfügung haben, scheint aktuell aktiviert, Rechtfertigungs- und Rationalisierungsstrategien finden wir allerorten. Selbst die Debatte um die sog. Sozialverträglichkeit ließe sich auf diese Weise lesen und wird – so mein Verdacht – auch aus Abwehrgründen missbraucht. Lieber glauben wir an efuils und grünen Wasserstoff als Ersatztechnologie, statt uns angesichts von Hitzewellen, Flutkatastrophen, Hungersnöten, zu erwartenden Migrationswellen aufgrund von Wassermangel unseren gesellschaftlich-psychischen Entwicklungsaufgaben zu stellen.

Viele wollen an der Illusion festhalten, es könnte alles so weiter gehen: Wir machen uns die Erde weiterhin untertan, auch durch Fetischisierung der Technik. Herrmann (2022) rechnet uns in ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ vor, warum das nicht geht. Dabei ist die ökologische Fakten- und Gefahrenlage (Busch 2021, S. 210) breiten Bevölkerungsschichten durchaus bekannt – der Club of Rome (1972) prophezeite uns unseren heutigen Zustand bereits vor mehr als 50 Jahren!

Worin besteht die Schwierigkeit bei der Transformation? Wir setzen sehenden Auges weiterhin unsere Beziehung zur Umwelt mit der traditionellen Idee des Beherrschens der Natur aufs Spiel. Der Verlust unserer intakten Umwelt hätte als angemessene Reaktion die der Trauer zur Folge und später dann – konstruktiv gewendet – die der Auslotung von Handlungskonsequenzen des Umsteuerns, Kritik und Selbstkritik. Es bräuchte die Anerkennung der Fehlentwicklungen als eine reife psychische Leistung! Ähnlich dem psychischen Prozess bei einem Objektverlust, müssen wir die Erschütterung unsere Identität als weiße Bewohner des globalen Nordens wahrnehmen und annehmen. Stattdessen scheint eine unbewusste Angst zu herrschen: das Abgleiten in die Depression, deren Entstehen bei Freud in „Trauer und Melancholie“ als eine vermiedene Trauer beschrieben wird (Freud 1915). So lässt sich die heutige gesellschaftliche Situation verstehen: Verschieben, Verharren, um nicht depressiv zu werden. Mit unserem momentanen Verhalten gefährden wir unsere Zukunft weiterhin, denn es ist keine Zeit mehr. Wir lavieren uns lieber autoaggressiv durch die Krise.

3 Individuelles Konsum- und Umweltverhalten

Im Laufe der Evolution haben die Menschen, als sie gemeinsam zu jagen anfingen, gelernt, das Verhalten der anderen und von sich selbst zu antizipieren. Auf emotionaler Ebene spielt die Angst als Affekt eine besondere Rolle. Gefahren, die von der Beute ausgehen oder die durch die Waffen der anderen Jäger entstehen, lösen rasch Angst aus und korrigieren das eigene Verhalten. Angst, als wichtige Voraussetzung für die Mentalisierung, entsteht somit im unmittelbaren Wahrnehmungsbereich. Mit der beginnenden Sesshaftigkeit gewinnt eine weitergehende Antizipation bei vorsorgender Lebensplanung im Neolithikum an Bedeutung. Kulturentwicklung steht nicht nur mit innerer Dynamik, sondern auch eng mit Antizipation und Angstbewältigung in Verbindung. Allerdings hat die Angstbewältigung den Nachteil, nur auf den eigenen Nahbereich gerichtet zu sein. Wir fürchten uns vor Ereignissen mit kurzen und eindeutigen Kausalketten, die rasch auf uns zukommen. Aus der Entwicklung des Angstsystems leitet sich ab, warum die Klimakrise so wenig Angst und Vorsorge auslöst. Komplexe Zusammenhänge, die in der Zukunft liegen, lösen weit weniger Angst und Vorsorge aus. Die Klimakrise ist hoch komplex und eine nicht leicht zu fassende Bedrohung für unsere Existenz. In dieser Hinsicht überfordert sie unser psychisches Angstsystem. Verleugnung und Verdrängung arbeiten effizienter, man könnte sagen, sie werden nicht rasch widerlegt, sondern durch die schleichende Veränderung scheinbar bestätigt.

Ein zweiter Grund schränkt unsere emotionale Reaktionsfähigkeit in der Klimakrise ein. Antizipationsfähigkeit und Empathie bezieht sich vor allem auf Menschen, mit denen wir zu tun haben. Sie richtet sich auf Familie, Freunde und Bekannte. Solange Auswirkungen der Klimakrisen an fernen Orten beobachtbar sind und wir die Menschen nicht kennen und nicht mit ihnen identifiziert sind, berühren sie uns weit weniger als alltägliche Ärgernisse, wie die Schramme im Auto (Buchartz 2023).

Ähnlich argumentiert Weinrobe (2023): Menschen verfügen innerlich über den fürsorglichen Teil der Empathie und des Mitfühlens und über den nicht-fürsorglichen Teil, in dem sie Gleichgültigkeit und Härte gegenüber anderen Menschen empfinden und entsprechend handeln. Einen wichtigen Schlüssel im Kampf gegen die Klimakrise sieht Weinrobe darin, dass Menschen ihre fürsorglichen Impulse als wertvolle Ressource wahrnehmen und aktiv ausdehnen, um auf diese Weise jene Emotionalität und Aktivität zu entwickeln, die notwendig ist, um für andere, ferner stehende Menschen solidarisch zu handeln.

„In der Konsumgesellschaft konserviert ein kulturelles Versprechen spezifische Formen der Größenfantasie. Wir sollen glauben, dass das Leben durch Leistung kontrollierbar wird. Wer genug leistet, kann sich Sicherheit und Glück kaufen“ (Schmidbauer 2023, S. 136). Vor diesem Hintergrund ist es nicht einzusehen, warum wir auf etwas verzichten sollen, wenn wir uns doch ausreichend anstrengen und genug Leistung bringen. Somit haben wir ein inneres Recht auf Glück und Sicherheit. Die Konsumgesellschaft ist mit der Angst verbunden, unser „normales Niveau“ zu unterschreiten. Intensiver Konsum wehrt diese Angst ab. Konsum verspricht aber auch Anerkennung durch unsere Bezugsgruppe, und diese soll erhalten werden. Wir fürchten kaum etwas mehr, als von unseren Peers abgelehnt werden zu werden. Ajzen (1991) kommt im Rahmen der Theorie des geplanten Verhaltens zur gleichen Schlussfolgerung. Neben den Einstellungen zur Nachhaltigkeit spielen besonders die Orientierung an dem Verhalten wichtiger Anderer als Faktor der Normbildung eine zentrale Rolle. Menschen orientieren sich an ihren Bezugsgruppen, und wenn diese große Wagen fahren und häufig vereisen, tun wir es ihnen nach. Kontrollüberzeugungen spielen eine weitere wichtige Rolle: Was sollen die Deutschen schon tun, da sie nur 2 % der Welt-Emission verantworten? Das Metamodell von Bamberg und Möser (2007) betont die Kraft der Gewohnheiten: Ich setzte fort, was ich begonnen habe.

Im Anschluss an die Denkfigur der technischen Prothesen (Freud 1930) formuliert Schmidbauer (2023) das Konzept der emotionalen Prothesen, die von der Kulturindustrie angeboten werden: einmal durch die Vielzahl der Konsumgüter, über die Menschen Identitätsarbeit leisten, und zum anderen durch die regelmäßigen Events, die zur Konsumgesellschaft gehören und ihrerseits Waren geworden sind. Diese emotionalen Prothesen werden zur wirksamen kollektiven Abwehr. Beim Event verschmilzt der Einzelne mit der Gesamtgruppe und nimmt am narzisstischen Höhenflug teil, bei der die Superlative; das größte Festival, das aufregendste Spiel, der ereignisreichste Wettkampf, einen Kokon um uns bilden, der immer wieder erneuert wird und dazu beiträgt, ängstigende Realität auszublenden.

Ändern wir unsere Perspektive von der psychologischen zur sozialen, so spielt das Konzept der sozio-technischen Systeme eine wichtige Rolle für die Auseinandersetzung mit der Klimakrise.

4 Der Einfluss der Nischen-Innovation auf stabile soziotechnische Systeme

Der gegenwärtige CO2-Ausstoß der Industriestaaten führt unweigerlich in eine Zuspitzung der Klimakrise. Auf individueller Ebene wird der ökologische Fußabdruck als relevante Messgröße verwendet. Diese Betrachtung blendet die Abhängigkeit der Individuen von den sozialen Verhältnissen aus (vgl. Neckel in diesem Heft). Ein Zugang zu sozialen Verhältnissen wird über das Konzept der sozio-technischen Systeme möglich. Darunter verstehen wir das Zusammenspiel verschiedener Komponenten, die gesellschaftlich entwickelt werden, um zentrale Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Sie entstehen aus der Koevolution der unterschiedlichen Komponenten dominierende Technologie, Industrieproduktion, wissenschaftliche Entwicklung, juristische Regulation, Nutzerpraktiken und Märkten sowie aus ihrer kulturellen Bedeutung. Zusammengefasst werden diese Komponenten im Begriff „sozio-technisches System“ (oder auch sozio-technisches Regime).

Das sozio-technische System ist somit ein Netz aus den angesprochenen Komplexen und ist als Verbindung von sozialen und technischen Komponenten zu verstehen. Es unterliegt einer weitgehenden Institutionalisierung und erzeugt eine hohe Stabilität dieser Prozesse (Geels 2004). Sozio-technische Systeme erzeugen auf der individuellen Ebene eine starke Pfadabhängigkeit oder „logins“, die das Verhalten der Bevölkerung bezüglich Konsum, Wohnen oder Mobilität etc. kanalisieren und die Individuen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf diesen Pfaden halten. Alternative Praktiken erfordern einen hohen Aufwand und bedürfen besonderer Auseinandersetzung und Anstrengung. Sozio-technische Systeme markieren somit stabile Grenzen für nachhaltiges Handeln.

In der Transformationsforschung wird neben den sozio-technischen stabilen Systemen als weitere Kategorie die „Nische“ bzw. die „Nischen-Innovation“ konzeptualisiert, die sich außerhalb des sozio-technischen Systems befindet und alternative Entwicklungen wesentlich leichter ermöglicht. Nischen umfassen Sonderwege in der Forschung und Entwicklung, kulturelle Alternativbewegungen oder Startups, in denen außerhalb des wirtschaftlichen oder regulatorischen Anpassungsdrucks Experimente gewagt werden. Innerhalb der Transformationsforschung wird große Hoffnung auf den Einfluss der Nischen-Innovation gesetzt. Diese nehmen globale Megatrends und Umweltvariablen wie den Klimawandel schneller auf und entwickeln Antworten darauf. Gemeinsam mit den Megatrends wirken sie somit auf das sozio-technische System ein und bewirken, dass derartige Innovationen in das System aufgenommen und verankert werden, so dass es sich verändert und damit neue Pfadabhängigkeiten entstehen, die den globalen Anforderungen mehr entgegenkommen.

Kommen wir nun zur Rolle des Coachings im Rahmen von sozio-technischen Systemen und Nischen. Coaching, das nachhaltige Ansätze in den Nischen begleitet, sei es, weil Führungs- und Managementkompetenzen gefördert werden, sei es, weil nachhaltige Ansätze durchdacht werden, leisten aus dieser Perspektive einen wichtigen Beitrag bei der Unterstützung der Nischen und ihren verändernden Einfluss auf das sozio-technische System.

5 Entscheider:innen im sozio-technischen System

Welche Rolle spielt Coaching im sozio-technischen System? Coaching mit Führungskräften und Entscheidungsträger:innen arbeitet mit Individuen innerhalb des stabilisierenden sozio-technischen Systems. Es werden Führungskräfte aus der Industrie, Wissenschaft, Regulatorik, Kultur und Sport etc. beraten. Diese Menschen sind über ihre Rollen mit ihren Organisationen verbunden. Ihre Verhaltensmöglichkeiten mit Vorschriften, Grenzen und besonders mit ihren Rollenspielräumen stabilisieren und verändern die Organisationen innerhalb des sozio-technischen Systems.

Die vielfältigen Abwehrvorgänge, die uns das Ausmaß der globalen Veränderung aus dem Bewusstsein halten, sind bereits thematisiert. Rollenträger in Organisationen unterliegen wegen des Fokus auf die (primären) Aufgaben, die sie erledigen müssen, einer spezifischen rollenbezogenen Abwehr. Menschen fokussieren sich auf die Aufgaben, sie versuchen, nächste Ziele zu erreichen, und sie denken handlungsorientiert und stellen die Lageorientierung (Kuhl 2001) zurück. Coaching fördert die Selbstreflexion und mildert die handlungsorientierte Abwehr, weil weitere Gesichtspunkte durch zusätzliche Perspektiven des Coachs in das Denken und Handeln integriert werden. Auf diese Weise verbündet sich Coaching mit den Ich-Funktionen der Führungskräfte: „Was muss ich über meine aktuellen Ziele hinaus berücksichtigen, damit meine Organisation in dieser Welt und die Welt als Rahmen überlebensfähig bleiben?“ könnte eine weiterführende Frage sein.

Coaching hat systemisch die Funktion, quer zur Hierarchie Themen in die Organisation hineinzubringen und Führungskräfte sprechfähig zu bestimmten Bereichen zu machen (vgl. Braun in diesem Heft). Aus dieser Perspektive könnte ein neues Thema in den Coaching-Prozessen sein, dass Führungskräfte als Entscheider:innen über Investitionen und Organisations- und Produktionsformen einen großen steuernden Einfluss auf Nachhaltigkeit haben. Sie beeinflussen im Rahmen ihrer Rollen das sozio-technisch System, das wiederum Verhaltenspfade vieler anderer Individuen definiert. Dies gilt für die unterschiedlichen Bereiche wie Technologie, Industrieproduktion, wissenschaftliche Entwicklung, juristische Regulation und Kulturproduktion.

6 Umgang mit Nachhaltigkeit – ein neues professionelles Hintergrundkonzept

Wenn Nachhaltigkeit als Change-Thema angesprochen wird, können Coaches diese Transformation mit ihren Instrumenten und Methoden unterstützen. Mit Hilfe ihrer Veränderungsmodelle (z. B. Change-Kurve, Change-Story, Stakeholder-Analyse etc.) beraten sie Führungskräfte und Projektleitende bei ihren jeweiligen Fragestellungen und wenden ihre Modelle auf die spezifischen Schritte dieser Transformation an.

Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit, wenn sie nicht im Fokus der Beratung steht? Professionelle Coaches verfügen aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrung über eine Reihe von theoriegeleiteten Hintergrundkonzepten, die sie bei Bedarf aktivieren und aus denen sie Interventionen ableiten können. Coaching erlaubt sich, bestehende Prozesse zu hinterfragen und Widersprüche zwischen konkurrierenden Ziel- und Werthaltungen zu thematisieren. Zum Beispiel werden Überlegungen aus der Gruppendynamik einbezogen, wenn innerhalb einer Teamdynamik Außenseiter produziert werden und dies als Verschiebung anderer Konflikte zu interpretieren ist. Bei Widerstandsphänomenen gegenüber Veränderungen werden Überlegungen zu Grundbedürfnissen (Sicherheit, Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit) aufgerufen und diskutiert, wie diese Bedürfnisse ggf. befriedigt werden können, ohne das Veränderungsvorhaben aufzugeben. Der Umgang der Kunden mit Nachhaltigkeit wird – wenn wir den Ernst der Lage akzeptieren – zu einem weiteren Hintergrundkonzept, aus dem sich Interventionen ableiten lassen.

Coaches, die sich mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen, verändern vermutlich ihre Containing-Prozesse (Bion 1990). Im Containment Prozess als wichtigem methodischem Instrument psychodynamischen Coachings nutzt die Coach ihren Bewusstseinsstrom (Reverie), um eigene Assoziation, Bilder und Hypothesen zur Verfügung zu stellen, durch die die Coachee ihrerseits neue Ansätze für ihre Themen und Fragestellungen erhält. In der Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit verändern Coaches ihre Reverie und damit ihre Bilder und Hypothesen, mit denen sich die Coachee auseinandersetzt.

Im Rahmen von Rollenberatungen (Giernalczyk und Möller 2018) kann Nachhaltigkeit auf die drei Kernfragen bezogen werden: Spielt Nachhaltigkeit bei der Interpretation der Rollenpflichten, der Rollengrenzen oder innerhalb des Rollenspielraums eine Rolle? Die mentalisierende Haltung, die in Coachings gefördert wird, löst oft überraschende Erkenntnisse aus, wenn sie nicht nur auf Kolleg:innen des eigenen Unternehmens, sondern auch auf die Familie (Kinder, Neffen, Nichten etc.) der Coachees bezogen werden. Gelegentlich wird damit eine Trennungslinie zwischen Privat- und Berufsleben berührt. Im Privatleben wird oft recht umweltbewusst (und statusbezogen) gehandelt und konsumiert. In der Arbeitssphäre wird dies (trotz Rollenspielraums) oft nicht praktiziert. Diese und andere Beobachtungen bilden den Ausgangspunkt für selbstreflexive Diskussionen.

7 Wo ist die Hoffnung? Wo die Veränderungszuversicht?

Eine Veränderungszuversicht entsteht jedenfalls nicht durch „Predigen“, denn eine mahnende Thematisierung der Krise scheint eher Reaktanz auszulösen. Bleiben wir auf Schuld- und Schamgefühlen sitzen, können wir nicht lernen, und es entsteht psychischer Widerstand. Das ist immer noch besser als Desinteresse, wie wir Beratenden wissen. Aber um Impulse für eine grundlegende Handlungsbereitschaft zu setzen, braucht es die Libido in der Veränderung. Die Idee des möglichen Zugewinns durch eine Transformation ist unterversorgt und muss bei Beratungsprozessen fokussiert stimuliert werden. An die Stelle von Scham- und Schuldgefühlen muss zudem Selbstwirksamkeitsüberzeugung treten.

Aber es gibt Gründe für Hoffnung: Als Moderatorin der Task Force Zukunft des Profifußballs der Deutschen Fußballliga (DFL) koordinierte ich (HM) das Abschlusspapier. Viele der 17 Handlungsempfehlungen berücksichtigen die ESG-Kriterien, also Umwelt- und Klimaschutz, Soziales und Menschenrechte und Unternehmensführung. Ökologische Nachhaltigkeit ist also immer einzubetten in größere Kontexte von Fairness und Steuerungskultur. Dies geschah mit viel Unterstützung der S 20, der wichtigsten Sponsoren im Profifußball. Heute ist das Thema Nachhaltigkeit in der Präambel des DFL e. V. verankert, es gibt eine eigene Kommission Nachhaltigkeit, und konkrete Nachhaltigkeitsmaßnahmen sind in die Lizensierungsordnung der 1. und der 2. Bundeliga aufgenommen. Das heißt, kein Verein bekommt eine Spielerlaubnis, der nicht bis zur Saison 2023/24 klare Maßnahmen nachweist. Die Verpflichtung zu verbindlichen Jahreszielen gilt ab 2024/25. Bislang sind Bestandsaufnahmen in jedem Club erfolgt, und die Ziele werden individuell festgelegt, da sich jeder Club von einer anderen Anfangssituation auf den Weg gemacht hat.

Manches Mal kommen uns die Unternehmen in Denken und Handeln reflektierter vor, als wir Beratende es sind, ohne Greenwashing und Nachhaltigkeit als Marketinggesichtspunkt leugnen zu wollen. Hoffnung macht uns der Generationenwechsel in den Unternehmen, denn junge Menschen denken und handeln mit anderen normativen Prämissen. Dächten wir nicht an Kinder, Nichten, Enkel, Patenkinder, wir Oldies würden die schlimmsten Konsequenzen unseres Umgangs mit der Natur nicht mehr erleben. In Diskussionen in Eigentümerversammlungen begegnet uns dieses Argument: Wir sind zu alt, für uns lohnt sich eine Photovoltaik-Anlage PV nicht mehr.

Wir brauchen ein emotionales Bewertungssystem – das kennen wir alle aus gesundheitlichen Präventionsprogrammen, die nur mühsam greifen: Notwendig ist der kleine Schmerz, um in Gang zu kommen. Mein emotionales Verständnis (H. M.) wurde getriggert, als am 9. April 2023 in Italien die neue Wasserverordnung bekannt gemacht und ein Zuwiderhandeln mit hohen Strafen belegt wurden: Wasser darf nur noch zur Essenszubereitung, zur Körperhygiene und zur Reinigung der Wohnung benutzt werden; kein Blumengießen, keine Wässerung von Gemüse im Garten, kein Pool, kein Autowaschen, keine Reinigung von Innenhöfen ist mehr zulässig. Seither fange ich das Duschwasser beim Warmwerden des Wassers auf. Ehrlich gesagt, hatte ich vor zwei Jahren bei der Erstellung eines deutschen Wasserplans noch gedacht: Die Verantwortlichen spinnen, hier in Deutschland regnet es doch immerzu. Auf diese Weise kann aus intellektuellem Verstehen ein Handlungsimpuls entstehen. Anlässe dieser Art gibt es im Augenblick ja leider zuhauf, die Berührbarkeit und eine globale Verantwortungsübernahme erzeugen können.

Zum Schluss ein paar Worte zur internationalen Perspektive: Auch wenn wir als Bundesrepublik Deutschland nur für 2 % der weltweiten schädlichen Immissionen verantwortlich sind, was oft als Rechtfertigung dafür vorgetragen wird, dass es sich dann ja nicht zu handeln lohne, können wir nicht nicht handeln. Der Kasseler Bürgerpreis 2018 wurde an Saúl Luciano Lliuya aus den peruanischen Hochanden vergeben. Er verlangt durch eine zivilrechtliche Klage von einem deutschen Energiekonzern, dem größten europäischen CO2-Emittenten, eine Beteiligung an den Kosten von Schutzmaßnahmen, um seinen Besitz vor der drohenden Überflutung durch einen Gletschersee zu sichern, da die Emissionen aus den Kraftwerken zur Erwärmung der Erdatmosphäre und damit zum Schmelzen des „ewigen Eises“ der Anden und zum Anstieg des Wasserspiegels beitragen. Es geht nur um 0,5 % der Kosten seines Hauses, so groß wie der Anteil, den RWE an der weltweiten Erwärmung zu verantworten hat. Mit dieser Initiative stellt Lliuya mit demokratischen Mitteln einen Zusammenhang zwischen klimarelevanten Produktionsweisen in Industrienationen und deren Auswirkungen auf Tausende von Kilometern entfernt liegende Regionen her. So appelliert er nicht nur für sich und sein Überleben, sondern für 50.000 in seiner Heimatstadt Huaraz ebenfalls bedrohte Menschen an ein weltweit orientiertes Verantwortungsbewusstsein. Seine Klage gegen die BRD wurde vom Oberverwaltungsgericht Hamm angenommen und gilt als Durchbruch in der juristischen Auseinandersetzung.

Im März 2021 hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes vom 2019 über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen. Von höchster Stelle wird die enkelgerechte Perspektive eingefordert.

Der Anspruch ist groß und gilt auch in der Beratung von international agierenden Hilfsorganisationen und den Internationalen Nicht-Regierungs-Organisationen (INROs). Es gibt eine Not-Wendigkeit einer Neuorientierung in den Haltungen und Praktiken der Zusammenarbeit. Akteure auf Seiten der Hilfsorganisationen sind in ihrem Selbstverständnis erschüttert. Wähnten sie sich lange Zeit auf der Seite der „Gerechten“, sind sie heute gezwungen, sich ebenfalls offensiv selbst zu hinterfragen, sich dem unconscious bias zu stellen, der unser aller mentale Modelle nach wie vor kontaminiert. Wie sollte es auch anders sein, denn wir alle sind Kinder unserer jeweiligen gesellschaftlichen Realität, und diese enthält nach wie vor als rassistisch zu markierende kognitive Verzerrungen, automatische Stereotype und hegemoniale Denkmuster. Es ist ein Machtverzicht der Repräsentierenden des globalen Nordens gefordert. Persönliche, organisationale oder nationale Interessen müssen zugunsten einer wirklichen Fairness im Hinblick auf anspruchsvolle Ziele und Werte der Solidarität hintangestellt werden.

Angesichts der beginnenden Prozesse der Selbstbefragung im Sinne der critical whiteness werden in Arbeitszusammenhängen auch oft lähmende Affekte wie Schuldgefühle und massive Scham wirksam. Diese müssen in konstruktives historisches Verantwortungsbewusstsein gewendet werden und mit einem hohen Maß an Ambiguitätstoleranz einhergehen. Die Prozessbegleitung braucht die hohe Kompetenz des Containments: traditionelle, auch unbewusste Kooperationsformen aufnehmen und gemeinsam mit allen Beteiligten in etwas Neues verwandeln, das nun ausprobiert werden kann.

8 Fazit

Wir haben in unserm Schwerpunktheft die sozial-ökologische Transformation im Hinblick auf unseren Beitrag als Coaches, Supervisor:innen und Organisationsberater:innen unter die Lupe genommen und gemeinsam unsere Rollen ausgelotet. Schließlich ist es nach einer Umfrage für 57 % der Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Supervision und Coaching (DGSv) bedeutsam, ökologisch nachhaltig zu beraten und zudem die Organisationen ökonomisch funktionsfähig zu machen. Viele Coaches, Organisationsberater:innen und Supervisor:innen stimmen dieser Orientierung vollkommen zu (Erlinghagen und Tietel 2022, S. 4) – sehr vernünftig angesichts dessen, was es kosten würde, wenn die Natur eine Rechnung stellte (Schanz 2022, S. 36).

Unsere Selbstreflexion und Auseinandersetzung ist also eingebettet in eine grundsätzliche Frage zur Identität von Coaching und den verwandten Beratungsformaten. So ist das Format Coaching in den letzten Jahren zu sehr als Mittel der Selbstoptimierung überstrapaziert worden. Leistungssteigerung, Adaption an den technologischen Fortschritt, mithalten können um jeden Preis, – das war leider zu oft erklärtes Ziel in vielen Coaching-Prozessen und stand im Zeichen neoliberaler „Psychopolitik“ (Han 2016). Es geht um neue Haltungen: Selbstausbeutung und die Ausbeutung der Erde können hier gemeinsam gedacht werden. Statt eindimensionaler Optimierung von Kund:innen und Prozessen müssen wir unsere Arbeit neu fassen, auch bisherige Vorstellungen von Wachstum kritisch hinterfragen.

Thrivability (Gedeihlichkeit) ist vielleicht der bessere Begriff für unsere Aktivitäten, denn Nachhaltigkeit ist oft inhaltsleer geworden, der Begriff wird wie der des Coachings inflationär genutzt und droht allergische Schübe auszulösen. Aber: Wir sind keine Missonar:innen! Darf ich als Beratende ökologische Themen ansprechen, auch wenn ich dafür nicht direkt mandatiert wurde? Eine Frage, zuweilen ein Vorwurf, der in dieser Debatte oft zu hören ist. Aber können wir als Beratende denn aktuell überhaut abstinent sein? Wertfrei beraten angesichts dessen, dass es ums Ganze geht? Ein einfach weiter so, wie immer, das scheint nicht wirklich zu gehen.