Der Themenschwerpunkt „Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz und im Coaching“ wirft zweifelsohne ganz unterschiedliche und auch kontrovers zu diskutierende Fragen auf. Im Titel versteckt sich die Frage, was psychische Gesundheit und Coaching miteinander zu tun haben, bzw. ob es so etwas wie Gesundheitscoaching überhaupt gibt und wie es definiert ist. Wenn es um psychische Gesundheit geht, stellt sich auch die Frage nach einem spezifisch psychodynamischen Ansatz im Rahmen von Gesundheitscoaching. Wir, die Herausgeberinnen dieses Heftes, nähern uns dem Thema aus unterschiedlichen Positionen. Eine von uns, Eva-Maria Lewkowicz, ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre, die andere, Beate West-Leuer, psychologische Psychotherapeutin. Beide sind wir psychodynamische Business-Coaches. Als Vertreterinnen unterschiedlicher Fachrichtungen wissen wir um das spannungsreiche Gelände, in dem sich Aktivitäten im Rahmen eines psychodynamischen oder systermischen Gesundheitscoachings abspielen können. Denn Coaching ist im Bereich Personalentwicklung angesiedelt, Gesundheit im betriebsärztlichen Dienst, und die Psyche kommt in Organisationen häufig gar nicht vor, so hört man gelegentlich. Im folgenden Dialog wollen wir uns dem Thema annähern:

Liebe Beate, unser Schwerpunktthema führt zu der grundsätzliche Frage, was wir unter Gesundheitscoaching und speziell unter psychodynamischem Coaching verstehen. Das gilt es im Editorial zu erklären. Die Leser:innen werden dann abgleichen, wie die unterschiedlichen Beiträge in diesem Heft in diesen Kontext eingeordnet werden können. Wenn wir Gesundheitscoaching als Beratungsformat für Business Coaches formulieren, müssen wir uns gegenüber ärztlichen und psychotherapeutischen Angeboten präzise abgrenzen. Sonst würden wir nachvollziehbar Widerstände ernten. Also versuche ich zunächst eine Annäherung, was Gesundheitscoaching sein könnte: ein Beratungsprozess, in dem die Klient:innen ihre Arbeits- und Lebensumstände mit Blick auf ihr bio-psycho-soziales Gleichgewicht reflektieren. Idealerweise verstehen die Klient:innen in Folge das Zusammenwirken ihrer inneren und äußeren Belastungen und deren gesundheitliche Auswirkungen zunehmend besser. Sie fühlen sich im Verlauf des Beratungsprozesses inspiriert, bisher ungenutzte Ressourcen zu aktivieren, die ihnen helfen, ihre gesundheitliche Balance zu halten oder zu stärken. Damit ist Gesundheitscoaching keine Heilungsmaßnahme und auch keine Gesundheitsberatung im engeren Sinne. Es kann den Klienten aber bewusst machen, dass sie diese brauchen.

Coaching ist generell ein Angebot, Menschen Reflexionsräume zu eröffnen, in denen sie sich über ihre persönlichen Lebensumstände, Ziele, Herausforderungen, Konflikte, Wünsche und Ängste in einer persönlichen Beziehung zu einer oder einem Coach klar werden können. Im psychodynamischen Coaching beziehen wir dabei die Wirkmacht des Unbewussten ein, akzeptieren dessen bewegliche Irrationalität und versuchen, damit zu arbeiten. Wir kennen und nutzen Konzepte aus der psychotherapeutischen Beratung im Beratungsprozess, aber: In Abgrenzung zu therapeutischen Angeboten wollen wir nicht und können wir nicht psychische Erkrankungen heilen. Coaching bietet in meinem Verständnis eine temporäre Lebenshilfe, auch und gerade in Krisenzeiten, vom Setting her in Form zeitlich gestreckter Impulse zur persönlichen Weiterentwicklung.

Im Business-Coaching stehen berufsbezogene Anliegen im Vordergrund, im Gesundheitscoaching gesundheitliche Anliegen. Auch wenn das nicht überschneidungsfrei ist, ergeben sich daraus andere Zielvorstellungen und damit Lernprozesse. Wenn ich an die Beiträge in diesem Heft denke, die aufzeigen, welche gesundheitlichen Herausforderungen die zurückliegenden und aktuellen Krisen, aber auch Arbeitsverdichtung und Stress haben können, dann gehe ich davon aus, dass Gesundheitscoaching zukünftig ein wichtiges Komplementär-Angebot zu Business-Coaching sein wird.

Liebe Eva-Maria, ich würde an dieser Stelle gerne auf das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) verweisen. Das BGM hat die wichtige Aufgabe, die bio-psycho-soziale Gesundheit der Mitarbeiter:innen in das Leitbild und in die Kultur sowie in die Strukturen und Prozesse der Organisation einzubeziehen. Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen psychischer Erkrankungen nehmen stetig zu. Psychische Erkrankungen sind die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Frühberentung. Der Arbeitsausfall aufgrund von langen Arbeitsunfähigkeitszeiten und Frühberentung bedeutet hohe Kosten für das Unternehmen (von Wahlert 2012; Peter Angerer und Harald Gündel, in diesem Heft).

Um geeignete Maßnahmen zu finden, die die krankheitsbedingten Ausfälle und damit die Kosten reduzieren, werden im Rahmen des BGMs Belastungs- und Stressanalysen durchgeführt, Maßnahmenkataloge entwickelt und Arbeitsgruppen gebildet, die die Maßnahmen umsetzen sollen. Doch wirken diese gesundheitsförderlichen Maßnahmen seltsam abgekoppelt von den Entwicklungsstrategien der Unternehmensleitung, obwohl auch das betriebliche Gesundheitsmanagement eine Aufgabe von Management und Führung ist. Diese Abkoppelung ist in turbulenten und krisenhaften Zeiten besonders nachteilig. Denn gerade dann ist die „biopsychosoziale“ Gesundheit der Beschäftigten ein wichtiger strategischer Faktor. Insbesondere Führungskräfte – von der Unternehmensleitung bis hin zu den mittleren und unteren Führungspositionen – sind in Krisenzeiten sehr belastet. Von ihrer psychischen Belastbarkeit oder Resilienz (Axel Schmidt, in diesem Heft) hängt es mit ab, ob und wie schnell die Krise bewältigt wird. In Kontext des BGM wird jedoch selten unterschieden zwischen Maßnahmen im Bereich „bio“, „psycho“ oder „sozial“. Als psychodynamische Coaches wissen wir zwar um die Wechselwirkungen der drei Bereiche. Expertise haben wir jedoch in den Bereichen „psycho“ und „sozial“.

Liebe Beate, gesundheitsfördernde Maßnahmen bekommen noch lange nicht die Top-Management Aufmerksamkeit, die sie brauchen, interessanterweise auch in den Bereichen nicht, wo das Wissen über gesundheitsfördernde Maßnahmen qua Primäraufgaben fest in den Köpfen verankert sein sollte (West-Leuer 2014, 2019a). Das gilt sowohl für die Privatwirtschaft als auch für den öffentlichen Dienst. Manche Arbeitsumfelder, gerade auch im Gesundheitssektor, operieren dauerhaft im Krisenmodus, bieten kein gutes „psychosocial safety climate“ (PSC) (Angerer und Gündel, in diesem Heft) und sind auch wenig daran orientiert, sich strategisch umzustellen – obwohl die wirtschaftlichen Folgen immens und wohl auch bekannt sind. Unternehmen, die Maßnahmen ergreifen, die Resilienz ihrer Führungskräfte zu steigern, vermeiden ja nicht nur viele Krankheitstage, sondern verpassen auch weniger wirtschaftliche Chancen, die sich ergeben, wenn die Führungskräfte und Mitarbeiter mit Freude, Motivation und Wohlbefinden arbeiten. Insofern ist Gesundes Führen (Bernd Sprenger und Mathias Lohmer, in diesem Heft) kein Schlagwort, sondern eine menschliche und wirtschaftliche Notwendigkeit. Doch selbst da, wo viele Ressourcen in diese Bereiche fließen, bleiben unter Umständen hemmende Unklarkeiten, die das Top-Management übersieht (Nadyne Stritzke, in diesem Heft).

Wenn ich überlege, was in Unternehmen Veränderungen bewirkt, was erfolgreiche Change-Prozesse von weniger erfolgreichen abhebt: Es ist immer das Top-Management Commitment, das den Unterschied macht. Die Prägung der Gründer oder Vorstände ist ein wesentlicher Einflussfaktor auf die Organisationskultur (Lewkowicz und Neukom 2018). Gerade die Führungsebene steht aber unter besonderem Druck (Lewkowicz und West-Leuer 2016; Lewkowicz und Neukom 2019).

Liebe Eva-Maria, psychische Gesundheit wird ja auch von den Verhältnissen beeinflusst. Wir alle müssen ein Gleichgewicht im Spannungsfeld innerer und äußerer Einflussbereiche immer wieder neu herstellen. Umstrukturierung am Arbeitsplatz fordern von die Beschäftigten eine ganzen Reihe Anpassungsleistungen. Bewusste und unbewusste Dispositionen und Motive spielen in diesem Regulationsprozess zusammen (Lauterbach 2008; Ostermann 2010). Es sind insbesondere Führungsverantwortliche, die hohen Stressfaktoren ausgesetzt sind. Um nicht als schwach oder ängstlich zu gelten, versuchen sie häufig, erste Anzeichen psychischer Überforderung zu vertuschen, vielleicht sogar vor sich selbst zu verleugnen (von Wahlert 2012; West-Leuer 2019b). Wenn Führungskräfte dann doch, weil körperliche Symptome wie Schlafstörung, innere Unruhe, Antriebsschwäche nicht länger zu übersehen sind, gesundheitsbezogene Anliegen in ein Business- oder Exekutiv-Coaching einbringen, geht es ihnen häufig nicht darum, Strategien für gesundheitsförderliches Verhalten zu entwickeln. Vielmehr suchen sie nach Kompensationsmöglichkeiten, um den Arbeitsalltag zu meistern und sich besser an die bestehenden Verhältnisse anzupassen (Dold 2017).

Vor einiger Zeit habe ich versucht, ein Konzept zu formulieren, das psychodynamisches Coaching von psychodynamischem Gesundheitscoaching abzugrenzen versucht. Dabei habe ich mich im Groben an einem differenzierten Präventivverständnis orientiert und unterschiedliche Interventionsstrategien überdacht. Nach meiner Definition ist psychodynamisches Coaching dann angezeigt, wenn es sich um primärpräventive Beratung handelt (West-Leuer 2019b). In primärpräventiven Beratungssettings ist der Klient psychisch stabil. Der Coach wird eine aktive Haltung einnehmen und die Klient:innen durch Empathie und selektive Konfrontation motivieren und unterstützen, das Beratungsanliegen selbstständig zu lösen, um so die vorhandene Resilienz zu stärken. Psychodynamisches Gesundheitscoaching sollte Anwendung finden, wenn das Beratungsanliegen sekundär- und tertiärpräventive Maßnahmen erfordert oder gar eine Krise vorliegt. Das kommt insbesondere dann häufig vor, wenn die Primäraufgabe eines Unternehmens gefährdet und das Unternehmen kurz- oder langfristigen Veränderungen und Umbrüchen ausgesetzt ist.

Werden von der Führungskraft Stresssymptome bewusst wahrgenommen und im Coaching beschrieben, so ist die psychische Gesundheit angegriffen. Sekundärpräventiv ist in einer konsequenten Orientierung an der aktuellen Situation am Arbeitsplatz zu überprüfen: Stehen wichtige Ich-Funktionen wie Frustrationstoleranz, selbstreflexive Affekte, Reizschutz zur Verfügung? Wenn dem Klienten die Fähigkeit zur Priorisierung abhanden gekommen ist, wird der Coach aus der Vielzahl der Probleme ein spezifisches Dilemma oder einen bestimmten Konflikt auswählen und fokussiert bearbeitet. Diese strikte Fokussierung dient der „Abwehr“ psychischer Überforderung. Bei relativer Stabilität der Ich-Funktionen kann auch eine Interpretation der unbewussten Bedeutungen des aktuellen Umgangs mit dem Stress hilfreich sein. Tertiärpräventiv müssen stützende Interventionen zur Anwendung kommen, wenn als Folge negativer Ereignisse, die teilweise von der Führungskraft mit zu verantworten sind, innerer und äußerer Stress nicht alleine bewältigt werden kann (West-Leuer und Lewkowicz 2016). Das heißt, der Coach übernimmt vermehrt Hilfs-Ich-Funktionen: „Ich mache mir ein wenig Sorgen wegen Ihrer hektischen Betriebsamkeit. Vielleicht können wir zunächst gemeinsam überlegen, bevor Sie die nächsten Maßnahmen planen …“. Unbewusste Ursachen für die hektische Betriebsamkeit werden in dieser Situation nur sehr bedingt angesprochen (West-Leuer 2019b). In existenziellen Krisen muss in einer Art Notfallbewältigung sofortige Abhilfe von selbst-destruktiven Symptomen und Fehlanpassungen erreicht werden. Zunächst gilt es daher, Suizidalität auszuschließen. Erst nach der Stabilisierung wird der Klient verstehen können, dass aggressive Selbstbehauptung angemessener ist als die Selbstdestruktion und sich erstere darüber hinaus vorbildlich für die Neuausrichtung des Unternehmens auswirken kann (von Senarclens de Grancy und Haug 2020; West-Leuer 2019b; vgl. West-Leuer und Lewkowicz 2016).

Liebe Beate, viele Klient:innen suchen ja auch einen Coach auf, obwohl sie ein psychotherapeutisches Anliegen haben. Sie informieren sich über das Profil eines potenziellen Coachs und entscheiden, an wen sie sich wenden. Kommt sie oder er zu mir, ist klar, dass keine Therapie gewünscht ist – egal, was das Anliegen ist. Kommt sie oder er zu Dir und fragt ein Coaching an, ist die Intention ähnlich, obwohl Du auch Therapie anbieten könntest, was er oder sie aber nicht möchte. In beiden Fällen könnte ein Therapiewunsch mitschwingen; wendet sie oder er sich an Dich, ist der Wunsch u. U. bewusstseinsnäher. Der Umgang damit ist – in aller Regel – eine Frage, ob und wie beeinträchtigt die Klient:innen sich fühlen bzw. ob und wie selbstreflexiv sie mit sich umgehen.

Ist ein psychisch instabiler Klient im Coaching, wird er nach einer oder mehreren Sitzungen entscheiden, ob ihm das Coaching hilft – oder nicht. Der Coach ohne therapeutische Ausbildung wägt ab, ob er helfen kann oder nicht – und was er aushalten kann und will. An dieser Stelle hatte ich gelegentlich Debatten mit Prof. M. Franz (Franz 2016), der als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker die Auffassung vertrat, ich müsste alle Klient:innen mit seelischen Problemen ablehnen (vgl. Hamburger und Kretschmar 2019; Grimmer und Neukom 2009). Also nicht nur (leichte) Depressionen, sondern auch gesundheitsschädigendes Verhalten in jeder Form, Menschen, die mir von zurückliegenden Traumata berichteten, familiäre Verstrickungen, familiäre Konflikte im Familienunternehmen, um einige Beispiele zu nennen. Am Ende wäre bei dieser Definition kein psychodynamisches Coaching für Nicht-Psychotherapeut:innen möglich. Das hat mich Coachinganfragen sorgfältig prüfen lassen. Gelegentlich nutzen psychisch instabile Klient:innen die Beratung bei mir, um affektiv besetzte Anliegen zu konkretisieren und fokussiert zu klären. Parallel bereiten sie sich auf eine Therapie vor, wenn sie erkennen, dass ihr Anliegen auch unbewusst determiniert ist, was sie verstehen möchten.

Wenn wir über die konkrete Beratungspraxis sprechen, bereichern zwei Beiträge aus dem vorliegenden Heft unsere Diskussion: Axel Schmidt setzt sich mit psychodynamischem Coaching im Kontext der Resilienzförderung auseinander und zeigt Bezugspunkte auf. Norbert Hartkamp diskutiert, wie der Coachingprozess auf die Auseinandersetzung mit dysfunktionalen Erwartungen ausgerichtet werden kann. Der Beitrag von Simone Kauffeld und Britta Wittner sensibilisiert uns dafür, dass auch die Berufswahl von jungen Erwachsenen einen wichtigen Beitrag für die spätere Arbeitszufriedenheit spielt. Im Beitrag von Eva-Maria Lewkowicz wird das Erleben des Arbeitsplatzes Hochschule von Studierenden in und direkt nach der Corona-Pandemie am Beispiel der Westfälischen Hochschule vorgestellt. Dass schon im Kindergarten das professionelle Verhalten der Fachkräfte Basis für das soziale Lernen ist, führen uns Monika Zimmermann und Yvonne Reyhing vor Augen. Als Coaches und Wissenschaftler wissen wir um die Kraft von Modeerscheinungen, wie das allgegenwärtige Plädoyer zum Verlassen der Komfortzone. Quirin Schnack, Martin Fladerer und Katharina Schnitzler fordern diese main-stream Ansicht heraus.

Wir haben uns mit diesem Heft aus der Komfortzone gewagt. Die psychische Gesundheit in ihrer Vielfalt ist keine Modeerscheinung. Sie prägt die Kultur im Unternehmen und das Klima am Arbeitsplatz. Im Coaching und im Gesundheitscoaching gilt ein selektiv authentischer Umgang mit diesem sensiblen Thema.