1 Einführung

Die Islamische Republik Iran (I.R.I.) besteht seit dem 1. April 1979. Das politische System ist autokratisch. An der Spitze der Regierung steht ein gewählter Präsident. Staatsoberhaupt ist der religiöse Führer; als höchste Instanz fungiert ein Religiöser Rat. Die vom Parlament verabschiedeten Gesetze werden aus dem Koran und der islamischen Tradition hergeleitet. Verletzungen von Menschenrechten sind allgegenwärtig. Oppositionelle und Dissident:innen werden mit drakonischen Strafen verfolgt (vgl. Buchta 2020; Topa 2022).

Plädoyer der Menschenrechtsaktivistin Parastoo Fatemi Footnote 1

„The Shah left Iran 44 years ago. However, the monarchy was not replaced by a democracy, but by an Islamic dictatorship. Many of my generation blame their parents and their families for the revolution. The revolution has thrown us back in time. I’m not saying the monarchy was good, there were numerous human rights violations. But women had more rights back then, such as the freedom to dress however they wanted. Our families say today: We could not imagine that the revolution would end in this Islamic dictatorship in which we have now been living for 44 years.

After Islamic Republic government came to power, they banned the activity of all political parties and my parents were fired from their official jobs and they sent them to exile to the south of Iran. I was born there in Bandar Abbas. I know what it means to migrate and be a refugee. Several years we tried to deal, reform and finally after arrest during the green movements in 2009 we had to leave our lovely country and it is 14 years since we cannot go back and we did not see our family members.

Iranian people are dealing with a lot of pressure and suppression from the government. Women, children, persons with disabilities and other marginalized groups are facing most suppression from I.R.I.

Iranian women are leading the charge, coming from all ages and backgrounds, demanding justice, reform, and their rights. Control over a woman’s body has long had political overtones in Iran. Under Iran’s Islamic Penal Code, Iranian women’s rights are severely restricted, a form of gender apartheid. Women must comply with the Islamic Republic’s mandatory hijab laws from the onset of puberty, and they are unequal in matters of marriage, divorce, custody, inheritance and more. In the Fall of 2022, hundreds of protesters, including dozens of children, have been killed by Iranian authorities. These nation-wide protests were triggered by the tragic death of 22 year old Jina Mahsa Amini who died in police custody after being arrested by Iran’s ‚morality police‘ for failing to properly cover her hair.

Thousands of people came to the streets in the different cities and they said ‚death to the dictator‘. Supreme leader Ali Khamenei is the main target of the protest. He is considered a dictator for citizens. More than 500 persons were killed including more than 50 kids. 20.000 persons got arrested. Lawyers of victims and their family got arrested, journalists who cover this news are in jail. Several musicians, filmmakers, actors, workers, doctors got arrested and went to jail in the last months. These policies are not new to us, as this government has repeatedly acted like this for many years. Iranians outside of Iran organized hundreds of demonstrations; they tried to be the voice of their people in the big hostage“ (Fatemi 2023)Footnote 2.

Dieses Selbstzeugnis ist ein Beispiel dafür, wie die iranische Opposition im Ausland die Protestierenden zu unterstützen versucht. Wenn Fatemi den religiösen Führer für den Terror verantwortlich macht, geht sie über die europäische Berichterstattung und Forderungen vieler internationaler Medien hinausFootnote 3. Diese sprechen zwar von einem angestrebten „maximalen Druck“, ohne jedoch konkrete Maßnahmen zu benennen und ein Abdanken der Machthaber zu fordern. Fatemis explizite Verurteilung des religiösen Führers unter ihrem Klarnamen ist für sie riskant, obwohl sie nicht im Lande lebt. Die Verwendung des Klarnamens erfolgt nur bei Menschenrechtsaktivistinnen, die das Land verlassen haben. Die im Lande lebenden Kritikerinnen äußern sich entweder anonym oder nehmen die Konsequenzen in Kauf, so wie die Juristin Nasrin Sotudeh (Amiri und Tekkal 2023), die auch in Taxi Teheran auftritt (s. unten).

Der folgende Beitrag widmet sich daher der Frage, ob und wie in diesem politischen Klima kritische Stimmen – seien sie von Einzelnen oder von Gruppen – Gehör finden und Wirksamkeit entfalten. Als Referenztheorie zur Einordung der Wirksamkeit solcher Critical Voices wird auf die Theorie der Critical Juncture rekurriert, die Bedingungen für die Stabilisierung oder Destabilisierung autokratischer Systeme formuliert. Nach dieser Theorie ergibt sich für ein autokratisches System dann eine kritische Situation, eine Critical Juncture, wenn zwei von drei das System stabilisierenden Säulen Legitimation, Repression und Kooptation Schwächen aufweisen. Für die Analyse, wie Kulturschaffende und Dissident:innen eine solche Situation herbeizuführen versuchen, werden zwei Filme des Regisseurs Jafar Panahi herangezogen.

2 Ein Modell autokratischer Herrschaftsstabilisierung und -Destabilisierung

Der Historische Institutionalismus hat ein Modell entwickelt, das Legitimation, Repression und Kooptation als die drei wesentlichen regimetragenden Funktionen in autokratischen Systemen versteht. Die Stabilität autokratischer Regime hängt ab von den Interaktionsbeziehungen zwischen Herrschenden und Herrschaftsunterworfenen in diesen drei Funktionsbereichen. Kurzfristig kann eine Säule die Schwäche in einer anderen Säule kompensieren. Langfristig können jedoch die Defizite einer Säule auf die anderen überspringen. Solche Defizite akkumulieren sich so zu einer Critical Juncture – einem Moment, in dem die grundlegende Ordnung des autokratischen Regimes erschüttert ist, vielleicht zur Disposition steht.

Mit Legitimationsmaßnahmen adressieren die Machthabenden die Bevölkerung als Ganzes; Repression richtet sich an Regimegegner:innen und Oppositionelle bzw. an alle Akteur:innen, die aktiv gegen das Interesse des Regimes handeln; Kooptation bezieht sich auf die Zusammenarbeit mit Eliten aus Wirtschaft und Gesellschaft. Legitimation kann im autokratischen Kontext über politische Ideologien, nationalistische oder religiöse Geltungsansprüche, gemeinsame historische Schlüsselerlebnisse, tradierte Werte und Normen oder auch das persönliche Charisma einer Führungsfigur erzeugt werden. Unter Repression wird der von einem Regime ausgeübte oder angedrohte Gebrauch von Sanktionen gegenüber einem Individuum oder einer Organisation verstanden. Es gilt zwischen zwei Formen repressiver Maßnahmen zu unterschieden: Offene, meist direkt sichtbare „harte“ Repressionsmaßnahmen beinhalten den Gebrauch physischer Gewalt gegenüber prominenten Einzelnen oder großen Gruppen von Oppositionellen (high intensity coercion). Indirekte, subtilere „sanfte“ Formen zielen hingegen darauf ab, durch die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten die Kosten der Opposition für Einzelpersonen oder Organisationen so zu erhöhen, dass diese sich auch ohne direkte physische Gewalt regimekonform verhalten (low intensity coercion). Kooptation ist der Prozess, durch den die politische Führung ein regimestützendes Bündnis bildet und die Loyalität, Kooperation und Unterstützung der Mitglieder dieses Bündnisses sicherstellt. Dadurch können Bedrohungen gegenüber der Führung neutralisiert und zum Nutzen der Machterhaltung transformiert werden (Tab. 1).

Tab. 1 Stabilisierung und Destabilisierung der drei Säulen (Gerschewski et al. 2012)

Eine Legitimationskrise findet ihren Ausdruck häufig in Demonstrationen und (Massen‑)Protesten der Bevölkerung. Dies kann vorübergehend hingenommen werden, wenn eine solide Elitenkohäsion (Kooptation) gewährleistet ist und Aufstände effizient niedergeschlagen werden bzw. eine Androhung von Niederschlagung glaubhaft ist (Repression). Bei dauerhaften Legitimationsdefiziten mit entsprechenden Protesten werden Teile der regimetreuen Eliten ihre Ressourcen in Gefahr sehen. Nimmt die Bevölkerung eine Uneinigkeit innerhalb der Elite wahr, kann die Androhung von Sanktionsmaßnahmen zunehmend ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Hält die Legitimationskrise an, nimmt das Kooptations- und Repressionsvermögen des Regimes ab. Das Regime wird infrage gestellt (Gerschewski et al. 2012).

3 Das politische Kino Jafar Panahis – Zwei Beispiele

Jafar Panahi (geb. 1960) ist ein in Ost-Aserbaidschan geborener iranischer, vielfach ausgezeichneter Filmemacher. In Iran sind seine Filme verboten – in Europa gefeiert. Im Jahr 2010 wurde Panahi festgenommen, inhaftiert und zu sechs Jahren Haft und einem 20-jährigen Berufs- und Ausreiseverbot verurteilt. Seither stand Panahi unter Hausarrest. Trotz des Berufsverbots hat Panahi seit 2010 heimlich und illegal vier Filme gedreht. Zwei davon werden im Folgenden vorgestellt. Taxi (Taxi Teheran) hatte 2015 bei der Berlinale in Berlin Premiere und wurde mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, Khers Nist (No Bears) hatte 2022 bei der Biennale in Venedig Premiere und wurde mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet (Catani 2022).

Mit Hilfe des Genres „Dokufiktion“, einer Mischung aus Dokumentarfilm und Spielfilm, gelingen Panahi Filme, bei denen ganz gezielt verunklart wird, welche Teile davon der Wirklichkeit jenseits der filmischen Inszenierung zugehören und welche für den Film generiert und arrangiert sind (Catani 2022). Die handlungstragenden Rollen werden teilweise mit Schauspieler:innen besetzt, teilweise spielen die Protagonist:innen sich selbst. Dieses undurchsichtige Oszillieren zwischen authentischem Selbstzeugnis und schauspielerischer Darbietung spiegelt die alltägliche Notwendigkeit vieler Menschen in einem Staat, in dem Verfolgung, Verhöre, Folter und Gewalt durch staatliche Institutionen drohen (vgl. Brunner 2009).

3.1 Taxi (Taxi Teheran): ein Leben im Goldfischglas

3.1.1 Handlung

Die Hauptrolle spielt Panahi selbst.Footnote 4 Sein Alter Ego ist Regisseur und arbeitet aufgrund eines Berufsverbots als Taxifahrer. Im Taxi bringt Panahi die unterschiedlichsten Charaktere vor die im Taxi montierten Kameras und kommt mit ihnen ins Gespräch; dabei entsteht ein Profil der städtischen Gesellschaft Teherans. Einige Fahrgäste werden von Schauspieler:innen dargestellt. Seine Nichte Hana Saeidi wie auch die Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Nasrin Sotoudeh spielen sich selbst. Die Fahrgäste steigen ein und auch wieder aus, und so entsteht ein Film aus einer Reihe narrativer Vignetten, die ineinander verwoben sind.

3.1.2 Psychodynamische Interpretation

Um in einem Staat, der Menschenrechte nicht achtet, willkürlich misshandelt und foltert, psychisch zu überleben, sind die Menschen darauf angewiesen, die allgegenwärtige Bedrohung zu verdrängen. Nur so können sie es vermeiden, sich permanent von der durch die Bedrohung ausgelöste Angst paralysieren zu lassen. Um Vertrauen in der Welt der Mitmenschlichkeit bedingt aufrecht zu erhalten, bedarf es sicherer „Räume“, die über das rein private Umfeld hinausgehen und in denen es Bezugspersonen gibt, die zuhören und zugewandt sind (Brunner 2009).

Der Taxifahrer alias Jafar Panahi stellt den Fahrgästen einen solchen Raum zur Verfügung. Denn der Innenraum des Taxis ist ein halböffentlicher Raum, ein „Zwischenraum“ (Catani 2022), in dem ein kritischer Austausch über das Regime anonym und vertraulich möglich scheint. Der Taxifahrer ist für die Fahrgäste Projektionsfläche. Als einem aufmerksamen Zuhörer werden ihm quasi therapeutische Rollen angetragen, mit denen er sich mal mehr mal weniger identifiziert. Gerade weil der Taxifahrer kaum eingreift und wenig interpretiert, haben die Fahrgäste „Raum“ zum Sprechen. Und so zeigen die Vignetten ganz unterschiedliche Facetten des Umgangs der städtischen Gesellschaft mit dem theokratischen Polizeistaat.

In der ersten Vignette fordert ein kleinkrimineller Taschendieb die Todesstrafe für einen Autoreifendieb. Um die eigene Angst vor den drakonischen Strafen des Systems zu bewältigen, identifiziert er sich mit den Mächtigen und greift zu dem Abwehrmechanismus „Identifikation mit dem Aggressor“. Die Mitfahrerin, eine Grundschullehrerin, hält dagegen. Taschendieb und Grundschullehrerin projizieren auf den Taxifahrer die Rolle eines Schiedsrichters, eines „objektivierenden“ Dritten. Dieser reagiert aber erst, nachdem der Taschendieb ausgestiegen ist. Sein Kommentar „Was war denn das für einer?“ zeugt von einer eher negativen oder komplementären Gegenübertragungsreaktion, ohne ihn jedoch zu entwerten.

In der nächsten Vignette versucht Omid, ein kleinwüchsiger Schwarzhändler, der verbotene Filme vertreibt, sich des Regisseurs als eines Selbstobjekts (Kohut 1987) zu bemächtigen, und gibt Panahi bei einem Kunden als seinen Partner aus. Durch diesen Übergriff versucht der Videohändler, sich und seine illegale Tätigkeit aufzuwerten. Der Regisseur konfrontiert Omid mit dieser Vereinnahmung, ohne ihn als Person zu erniedrigen. So kann Omid seinen Übergriff auf den von ihm idealisierten Regisseur annehmen und aufrichtig bedauern.

Eingeschoben in diese Vignette ist eine Episode mit einem verunfallten Mopedfahrer und seiner Frau. Das blutüberströmte Aussehen des Unfallopfers weckt Assoziationen an Folteropfer und macht – im Übertragungs-Gegenübertragungsgeschehen – auch den Nicht-Beteiligten Angst. Indem Panahi wie ein Traumatherapeut interveniert und „große Angst“ diagnostiziert, verliert diese Angst ein wenig von ihrem Schrecken. Noch vorher und ganz in diesem Schrecken gefangen diktiert der Mopedfahrer sein Testament in Panahis Handy; er will sicherstellen, dass die Ehefrau sein Haus erbt und nicht seine Brüder. Nachdem der Mann im Krankenhaus außer Gefahr ist, bedrängt die Ehefrau den Taxifahrer wiederholt mit Anrufen und Bitten, ihr das Video auszuhändigen. Es gelingt Panahi nicht, sie in ihrem histrionischen Verhalten zu beruhigen. In ihrer Lebenssituation ist es ihr – so scheint es – nicht möglich, Vertrauen zu einem männlichen Testamentsverwalter zu entwickeln.

Panahis ehemaliger Nachbar hat Vertrauen zu Panahi und benötigt Vertraulichkeit, um über eine verstörende Erfahrung zu sprechen. Er ist brutal überfallen worden und hat die Angreifer erkannt. Doch obwohl er von diesem Überfall traumatisiert ist, wird er die Täter nicht bei der Polizei anzeigen. Er weiß um das drakonische Strafmaß. Hier schließt sich ein Kreis. Für den Taschendieb konnte die Strafe für einen anonymen Autoreifendieb nicht hart genug sein. Einen Bekannten auszuliefern, ist für den Nachbarn dagegen nicht möglich. So erträgt das Opfer die traumatisierende Wirkung der brutalen Aggression, weil ihn dies psychisch weniger beschädigt, als die Täter dem islamischen Recht auszuliefern. Dieses Verhalten wirkt wie eine zweifelhafte Alternative, die sich als Reaktion auf die inhumanen staatlichen Strafmaßnahmen im kollektiven Unbewussten der Stadtgesellschaft entwickelt haben mag.

In den abschließenden Vignetten stehen Panahis etwa zehnjährige Nichte Hana und die Anwältin Nasrin Sotudeh im Mittelpunkt. Hanas Schulprojekt, einen „vorzeigbaren“ Kurzfilm zu drehen, ist Anlass, die Zensur des Kinos ins Visier zu nehmen. Um zu verstehen, was ein „vorzeigbarer“ Film sei, diskutieren Nichte und Onkel, wie der Nachbar, der überfallen wurde, aussehen müsste, um als guter Mensch in Hanas Film aufzutreten. Ein kleiner Bart wäre notwendig, eine Krawatte darf in keinem Fall sein. Schnell ist klar, dass nicht nur der Nachbar, auch der Onkel diese Attribute nicht vorweisen kann. Als Regisseur für „vorzeigbare“ Filmen ist Panahi disqualifiziert.

Hana versucht nun, ihr Schulprojekt an die offiziellen Vorgaben anzupassen. Als sie einen Jungen dabei filmt, wie er sich Geld, das zufällig aus der Hosentasche eines jungen Mannes fällt, einsteckt, wird es eng mit der „Vorzeigbarkeit“. Denn Diebstahl kommt in der offiziellen Version der iranischen Öffentlichkeit nicht vor. Ihr Film würde durch dieses Verhalten „unzeigbar“, sagt sie dem Jungen, wenn er aber das Geld zurückgebe, bekäme er die Rolle eines Helden. Sie versucht den Jungen zunächst durch persönliche, dann durch magische Appelle aus der Ferne zu steuern. Den Jungen kümmert dies wenig. Ein Held in Hanas Film zu sein, ist für ihn „Quatsch“. Er behält das leicht verdiente Geld.

Mit Hilfe ihres kindlichen magischen Denkens hält Hana sich Handlungsspielräume offen. Auf der einen Seite versucht sie an primärprozesshaften Vorstellungen festzuhalten, die ihr Macht verleiht, Realitäten nach eigenen Wünschen zu gestalten; auf der anderen Seite zwingen Erfahrungen und Logik zur sekundärprozesshaften Einsicht, dass die Außenwelt nach Gesetzen funktioniert, die nur bedingt beeinflussbar sind (vgl. Resch 1994). Dieser für die kindliche Selbstentwicklung so zentrale Prozess wird vom Regime durch den willkürlichen Umgang mit der Realität empfindlich gestört, wie das folgende Zitat zeigt. Hana erzählt über die Lehrerin:

„(Sie) hat nur immer wieder gemeint, wir sollen im Film die Realität zeigen. Aber auf keinen Fall etwas Unwirkliches. Und wenn die Realität unschön und düster ist, dann sollen wir sie doch lieber nicht zeigen. Ich verstehe echt nicht so richtig, was der Unterschied zwischen der Realität und der Unwirklichkeit sein soll. Also das will mir nicht ganz in meinen Kopf gehen“ (Institut für Kino und Filmkultur 2015).

Panahi lässt Hana gewähren. Ihr Ringen mit einem vorzeigbaren Film wiederholt auf kindlicher Ebene seine eigenen Erfahrungen mit einem Regime, das Moral vorgibt und Terror praktiziert.

Kurz danach springt Panahi aus dem Taxi, weil er eine laute Stimme und Geschrei gehört haben will. Als die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Nasrin Sotoudeh ins Taxi steigt, erklärt er seine Reaktion. Er habe geglaubt, die Stimme seines Vernehmungsbeamten zu hören. Sie antwortet ihm, dass es allen Inhaftierten so ginge: Die Stimme des Vernehmungsbeamten vergesse man nicht. In dieser dokumentarischen Vignette bricht die staatlich verantwortete, „unschöne und düstere Realität“ (s. oben) konkret in den Film ein. Nasrin Sotoudeh war 2010 Panahis Anwältin. Sie ist Freundin und Gleichgesinnte im Kampf gegen Unrecht im Regime und teilt Panahis traumatischen Erfahrungen mit der Sicherheitspolizei.

Was sie während der Fahrt über ihren aktuellen Fall berichtet, gibt Einblicke in die Verhörpraktiken des Staates. Sie möchte zu ihrer Mandantin Ghoncheh Ghavami ins Evin-Gefängnis. Die 25-jährige Studentin befindet sich im Hungerstreik. Sie wurde zusammen mit anderen Aktivistinnen am 20. Juni 2014 verhaftet, als sie ein Volleyballspiel (Iran – Italien) anschauen wollte. Im Iran ist es Frauen nicht erlaubt, Männer in Sportkleidung anzusehen. Während die anderen jungen Frauen wieder frei gelassen wurden, kam sie in Einzelhaft und wurde endlosen Verhören ausgesetzt. Sotoudeh erzählt von einem Besuch der Mutter von Ghoncheh Ghavamis im Gefängnis. Als sie der Tochter Essen bringen möchte, soll sie per Videobotschaft erklären, ihre Tochter sei nie im Hungerstreik gewesen; von der Tochter erwarten die Machthaber die gleiche Botschaft. Beide Frauen lehnen dies ab. Der Erpressungsversuch zeigt, wie Realität „unwirklich“ gemacht und wie den Opfern – in einer Art malignem Double Bind – die Verantwortung für die Inhaftierung selbst zugeschrieben wird. Wenn Tochter und Mutter kooperierten und die gewünschte Videobotschaft sendeten, könnten sie unbehelligt leben. So sind sie selbst schuld an ihrem Schicksal (vgl. Brunner 2009).

Leichtigkeit und Lachen erzeugt eine Vignette über zwei ältere Schwestern, die davon überzeugt sind, dass ihr Leben vom Überleben ihrer Goldfische abhängt. Hanas kindliches magisches Denken ist hier zum Aberglauben mutiert. Das Goldfischglas zerbricht im Taxi. Es ist an Panahi, die Goldfische zu retten. Auf der Symbolebene zeigt die Vignette: Das Leben in Iran ist ein Leben im Goldfischglas, durchsichtig und zerbrechlich. Auch der Innenraum eines Taxis ist von der öffentlichen Überwachung nicht unberührt. Am Ende des Films werden die im Taxi montierten Kameras von zwei jungen Motorradfahren „konfisziert“. Doch gelingt es ihnen nicht, die Speicherkarte zu finden. So kann der Film das Land verlassen und zugänglich gemacht werden.

3.1.3 Fiktionalisierung harter und sanfterer Repressionen

In Taxi fiktionalisiert Panahi, der selbst Geschädigter ist, die traumatische Wirkung staatlichen Repressionen. Die Geschichten und die Dialoge der „Fahrgäste“ offenbaren, wie in der Psyche der Menschen Repressiv-Gesellschaftliches und Persönliches zusammenfließen. Einstellungen, Affekte und Motive, ebenso wie Handeln und Verhalten der Fahrgäste sind – ohne dass ihnen dies immer bewusst ist – beeinflusst vom repressiven Einwirken eines autoritären Staates; man kann sagen: nachdem der Staat bis in die letzten Fasern des sozialen und privaten Lebens vorgedrungen ist, erhebt er den Anspruch, die Gedanken, selbst die Träume und Wünsche, seiner Subjekte zu bestimmen. Als Auswirkung von Verhören, Folter und Misshandlungen entwickeln die Opfer eine tiefsitzende Angst, Symptom einer Posttraumatischen Belastungsstörung (Brunner 2009). Um mit dieser psychischen Belastung umzugehen, können Abwehr- oder Bewältigungsmechanismen einen Schutzwall aufbauen, hinter dem das Geschehene unzugänglich gelagert werden soll. Eine einzelne laute Stimme kann jedoch – wie Panahi im Film illustriert – diesen Schutzwall einreißen.

Eine resiliente Form, die psychischen und psychosomatischen Folgen zu bearbeiten, besteht in der „Kunst“, das Erlebte zu symbolisieren. In dieser Lesart ist Taxi Teheran ein Schritt des Regisseurs, Diskriminierung, Verfolgung und Inhaftierung zu symbolisieren und dadurch die eigene Sprache und Stimme zurückzugewinnen (Brunner 2009). Im Kontext der Referenztheorie soll der Film die Destabilisierung der Säulen Legitimation und Repression befördern. Er ruft nicht nur internationalen Protest wegen des Terrors gegen den Regisseur hervor; am Beispiel der Paradoxien der Filmzensur verweist er auch auf Doppelmoral und Erosion staatlicher Normen und Werte.

3.2 No Bears: Don’t Fear. Big Brother Is Watching You

3.2.1 Handlung

Auch in Khers Nist (No Bears) spielt Jafar Panahi die Hauptrolle und will einen Dokumentarfilm über ein Paar drehen, das mit gefälschten Pässen nach Frankreich fliehen will. Als Drehort wurde eine türkische Stadt an der Grenze zu Iran gewählt. Panahi hält sich in einem iranischen Dorf in der Nähe des Drehorts versteckt. Von hier aus versucht er sein Filmteam über Video anzuleiten. In seiner freien Zeit fotografiert er das Dorfleben und mischt sich dabei unabsichtlich in die Angelegenheiten der Menschen dort ein. Der Ältestenrat stattet ihm einen Besuch ab und bittet ihn um ein Foto. Dieses zeige ein Liebespaar; allerdings sei die junge Frau einem anderen versprochen. Am Ende des Films kommt es zur Katastrophe: Die beiden jungen Männer sind tot; sie haben sich gegenseitig erschlagen. Auch die Dreharbeiten in der Stadt enden in einer Tragödie. Das Filmteam konnte für den Ehemann keinen Pass besorgen. Als die Ehefrau erfährt, dass ihr Mann sie belogen hat und sie nicht auf ihrer Flucht begleiten wird, begeht sie Suizid.

3.2.2 Psychodynamische Interpretation

Im Dorf löst ein imaginäres Foto ein Eifersuchtsdrama mit Totschlag aus, in der Stadt ein gebrochenes Versprechen einen Suizid. Vordergründig ist es Panahi, der durch seine Besessenheit, Zwischenmenschliches mit Bildern zu dokumentieren, Totschlag und Suizid heraufbeschwört. Tatsächlich zeigt der Film die traumatisierende Wirkung, die das staatliche Unterdrückungssystem in der Gesellschaft entfaltet.

Die wesentlichen Szenen dieses Films spielen in einer dörflichen Gemeinschaft. Auf dem Lande ist die Überwachung durch das Mullah-Regime eingeschränkt. Das konservative Reglement im Dorf ist älter als die rigide islamische Gesetzgebung; die Modernisierungsmaßnahmen der Pahlevi-Dynastie (1925–1979) haben wenige Spuren hinterlassen. Das fiktionale Dorfleben bietet daher Einblicke in die Tiefenschichten des kollektiven Unbewussten einer Gesellschaft, zerrissen zwischen Tradition und Moderne und einer religiös-legitimierten Führungsideologie mit narzisstischem Potenzial, das in der Psyche der Einzelnen Spaltung und regressiv-narzisstische Prozesse befördern kann.

Auf dem Lande werden Ehen nicht nur von den Eltern, sondern von der ganzen Sippe arrangiert. Dieses Arrangement auch einzulösen, ist für den jungen Mann, einen der Protagonisten des Films, Ehrensache. Nach der Heirat wird er Verfügungsgewalt über seine Frau bekommen, sie wird sein Eigentum. Wie viele junge Frauen in Iran möchte seine Verlobte diesem Schicksal, in dem ihr keine Eigenidentität zugestanden, sondern sie Selbstobjekt (Kohut 1987) des Mannes wird, entfliehen. Zu diesem Zwecke hat sie sich in einen anderen Mann aus dem Dorf verliebt, der mit ihr in die Stadt ziehen wird; dort hofft sie auf ein selbstbestimmtes Leben.

Dieses Vorhaben stellt einen tiefen Bruch mit der Kultur der dörflichen Gemeinschaft dar (vgl. Sedehian 2015). Bei Panahis Befragung durch den Ältestenrat geht es nur vordergründig um ein kompromittierendes Foto; es ist der Versuch, die „Realität“ an die Tradition anzupassen (s. oben). Aufgrund Panahis aufrichtig wirkende Versicherung, kein solches Bild zu besitzen, erklärt der Ältestenrat die Angelegenheit für erledigt. Doch die traditionellen Regeln haben ihre Ausschließlichkeit verloren. Die arrangierte Ehe wird nicht vollzogen. Für den Verlobten bedeutet diese Entwicklung eine massive Demütigung und existentielle Bedrohung, die er gewaltsam abzuwenden sucht. Dass sich traditionelles und modernes Kulturverständnis gegenseitig ausschließen, macht den beiden jungen Männern eine intrapsychische Kompromissbildung unmöglich. Sie glauben, ihre Identität nur durch die Auslöschung des Anderen retten zu können, und nehmen dabei den eigenen Tod in Kauf. Die junge Frau bleibt dauerhaft stigmatisiert zurück.

Die Protagonistin in der Stadt, Ehefrau des migrationswilligen Paares, begeht Suizid, weil sie nicht ohne ihren Ehemann emigrieren wird. Obwohl dieses Paar eine moderne Ehe zu führen scheint, ist die Protagonistin tief mit der traditionellen Rolle der Frau identifiziert. So scheint ihr ein Leben im Ausland ohne den Ehemann sinnentleert, da Selbstverwirklichung und Selbstkonzept iranischer Frauen auf einem harmonischen Miteinander mit Ehepartnern und Familien gründen. Die Scham darüber, von ihrem Ehemann bei der erfolglosen Suche nach einem Pass nicht einbezogen, sondern belogen worden zu sein, empfindet sie als tiefe Verachtung und Entwertung für ihre Person und in ihrer Rolle als Ehefrau (vgl. Sedehian 2015). So entstehen Trostlosigkeit und Gefühle depressiver Leere (Milch 2006). Ihr nach Durkheim als fatalistisch einzustufender Selbstmord spiegelt die Forschungsergebnisse, wonach es in Iran mehrheitlich junge verheiratete Frauen sind, die sich suizidieren. Während in den westlichen Staaten auf drei männliche Suizide nur eine Frau kommt, begehen in Iran mehr Frauen als Männer Selbstmord (Sedehian 2015, S. 38).

In einem gesellschaftspolitischen Klima, in dem körperliche oder seelische Gewalt jederzeit möglich scheint, reagieren die Betroffenen in Stress-Situationen in auffälliger Weise. Eine in der Außenwahrnehmung zwar kränkende, aber doch erträglich wirkende Erfahrung wird als schwere Erniedrigung aufgefasst und löst innerlich eine Lawine aus. Sie geht einher mit Gefühlen, die den Verlust der eigenen Identität bis zu einer Fragmentierung des Selbst bedeuten. In dieser psychischen Verfassung unternehmen die Betroffenen alles, um den quälenden Wahrnehmungen eines Selbstverlustes zu entgehen (Milch 2006).

3.2.3 Spiralen der Gewalt als Ausdruck fiktionalisierter Ausweglosigkeit

Seine Systemkritik inszeniert Panahi als personalisierte psychische Sackgasse. In einer Szene des Films weist Panahis Regieassistent seinem Chef nachts einen geheimen Weg zum Drehort des Films. Vor dem Übertreten der Landesgrenze weicht Panahi zurück. Er kann oder will den Iran nicht verlassen. Ein Heimatverlust käme einem Identitätsverlust gleich. Obwohl ihn niemand gesehen habe, weiß das Dorf, wo Panahi in der Nacht gewesen ist. Bären gebe es dort nicht, erläutert einer der Dorfbewohner, es bestünde also kein Grund zur Angst. Diese Beschwichtigung ist Verleugnung und ironische Bestätigung der realen Gefahr, die von einem Regime ausgeht, in dem Gewalt und gesellschaftliche Entwicklung in Richtung malignem Narzissmus zusammenlaufen. No Bears inszeniert, wie diese Entwicklung in den Einzelnen regressiv-narzisstische Prozesse befördern kann, sodass Todestrieb und primitive Aggression wiederbelebt werden, die im Film zu Totschlag und Suizid führen (Diamond 2006).

Der Film lässt am Ende offen, ob dem Regisseur selbst die Flucht aus dem Dorf gelingt. Bei der Premiere von No Bears in Venedig konnte der Regisseur nicht anwesend sein. Im Juli 2022, zwei Monate vor den Filmfestspielen, hat er wegen „Propaganda gegen das Regime“ seine sechsjährige Haftstrafe im Evin-Gefängnis angetreten. Dieser Schwenk der Machthaber von der eher sanften Repressionsmaßnahme des Hausarrests hin zur harten Maßnahme der Inhaftierung wird von der pessimistischen Grundstimmung des Films vorweggenommen, die in No Bears durchgängig dominiert, ganz anders als die Leichtigkeit in Taxi Teheran.

Als Destabilisierungpotenzial in Sinne der Referenztheorie bietet der Film Einblicke in die desaströsen Auswirkungen der narzisstischen Ideologie des „Gottesstaates“, in dem das Bewusstsein der Einzelnen untergraben wird, ohne dass diese notwendigerweise eine Persönlichkeitsstörung aufweisen. Beide Filme thematisieren, dass sich das Mullah-Regime nicht nur auf oppositionelle Gruppen traumatisierend auswirkt, sondern auf die ganze Bevölkerung, sei es in der Stadt oder auf dem Land.

4 Hoffnungsträger „Critical Junctures“

Die Filme No Bears und Taxi Teheran sind Beispiele, wie Oppositionelle das Mullah-Regime als Unrechts- und Gewaltregime kritisieren und die internationale Öffentlichkeit zu Protesten anzuregen versuchen. Als Critical Voices versuchen sie, eine Critical Juncture zu befördern. Sie machen Angebote zur emotionalen Identifikation und wollen so unterstützende Handlungsimpulse von Einzelnen, Gruppen oder auch Staaten auslösen. Das macht sie für das Regime gefährlich. Das iranische Regime geht folgerichtig gezielt gegen die Kultur- und Unterhaltungsszene vor. „Diese Personen – etwa Regisseure, Schauspieler und Sportler – sind oftmals besonders prominent. Entsprechend hoch ist der Druck, den das Regime auf sie ausübt, wenn sie sich gegen es wenden. Harte Urteile gegen sie haben im Kalkül des Regimes darum eine besonders abschreckende Wirkung“ (Knipp 2022).

Der Protest dieser Critical Voices richtet sich gegen die Säulen Legitimation und Repression. Eine Destabilisierung des Systems, die von einer Critical Juncture ausgeht, basiert jedoch auf der Unterstützung der drei Säulen. Das Verhalten der Eliten auf der Kooptationssäule ist undurchsichtig. Dies zeigt sich z. B. bei Panahis Haftantritt im Juli 2022. Das Urteil gegen ihn stammt aus dem Jahre 2010. Es wurde bereits am 15. Oktober 2022 vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. Die zehnjährige Verjährungsfrist war erreicht. Trotzdem wird der Regisseur nicht entlassen. Das Justizsystem, nicht gewählte Institution und Teil der Eliten, hat das Urteil gegen Panahis aufgehoben, um ihn dennoch nicht frei zu lassen. Panahi kommt erst am 03.02.2023 auf Kaution frei, nachdem er 48 h zuvor erneut, wie 2010, in einen trockenen Hungerstreik getreten ist. Solange das Bündnis der Eliten aus Wirtschaft und Gesellschaft die machthabenden Institutionen stützt, können Bedrohungen gegenüber der Führung neutralisiert und zum Nutzen der Machterhaltung transformiert werden (vgl. Gerschewski et al. 2012). Für Dissident:innen und Menschenrechtsaktivist:innen sind daher internationale Unterstützung von großer Bedeutung. Sie könnten das Gleichgewicht des Kosten-Nutzen-Kalküls in Frage stellen und eine Spaltung der Säule Kooptation herbeiführen. Dieser Essay will einen kleinen Beitrag zur Unterstützung leisten.