1 Einleitung

Mit mehr Gelassenheit erleben, entscheiden und handeln zu können, ist das Ziel der Beratungs‑, Coaching- und Selbsthilfemethode „Introvision“, die in einem Langzeitforschungsprogramm unter der Leitung von Prof. Dr. Angelika Wagner an der Universität Hamburg entwickelt wurde (Wagner 2021). Ergebnisse einer großen DFG-Studie zu Strategien des professionellen Handelns hatten gezeigt, wie häufig Gedanken unproduktiv kreisen und die damit verbundenen Prozesse von bekannten Handlungsregulationsmodellen abweichen (Wagner et al. 1984). Daraus ging zunächst die Theorie Subjektiver Imperative hervor, verbunden mit umfangreichen empirischen Studien zur Entstehung, Struktur und Auflösung mentaler Konflikte sowie zur Analyse von Kernkonflikten (Wagner 2021, S. 43 f.). 1985 gründete Wagner die Forschungsgruppe „Mentale Selbstregulation“ (eine Übersicht über die Struktur des Forschungsprogramms s. ebd., S. 42 ff.). Im Jahre 2001 wurde der Begriff der Introvision eingeführt – wörtlich „Hineinschauen“. Geprägt wurde der Begriff von Prof. Dr. Telse A. Iwers, Koleiterin der Forschungsgruppe, die u. a. zum Coaching mit Introvision geforscht hat (Iwers-Stelljes 2005; Iwers-Stelljes et al. 2012). Introvision basiert auf dem Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmen (KAW), einer leicht einzuübenden fokussierten und gleichzeitig weitgestellten Form der nichtwertenden Aufmerksamkeit (Wagner 2007, 2021). Dabei wird zunächst mit Hilfe der empirisch fundierten (Selbst)befragungstechnik Nachträgliches Lautes Denken (NLD) der Kernkonflikt gefunden, um damit einhergehende automatische Stress- oder Hemmungsreaktion mit Hilfe des KAW zu entkoppeln und Gelassenheit zurückzugewinnen.

In vielen Anwendungsfeldern konnten die Wirksamkeit der Introvision empirisch belegt werden, u. a. beim Abbau von Rede- und Prüfungsangst (Wagner et al. 1988), Schreibblockaden (Möller 2008), chronischen Verspannungen im Nacken (Pereira Guedes 2010), zur Reduktion von Tinnitus (Buth 2012), zur Förderung der Merkfähigkeit (Wagner und Iwers-Stelljes 1999), im Leistungssport (Benthien 2010) und beim beruflichen Aufstieg (Oerding 2014). Darüber hinaus hat Wagner eine grundlegende Theorie zur Entstehung und Auflösung innerer Konflikte durch Eingreifen in die eigene Informationsverarbeitung entwickelt – die Theorie mentaler Introferenz (TMI) (Wagner 2007, 2019, 2021).

Im Rahmen dieser wissenschaftlich begründeten Methode der mentalen Selbstregulation wurde im Jahr 2018 das Gelassenheitsbarometer entwickelt (Kosuch 2021; Wagner et al. 2020). Es soll dazu beitragen, nicht nur psychische Anspannung besser wahrnehmen zu können, sondern auch die mentalen Abläufe, die zum Verlust von Gelassenheit beitragen, besser zu verstehen und zu regulieren – auch unabhängig von Introvision, einer Introvision vorgeschaltet, im Kontext von Fort- und Weiterbildung und/oder in der angewandten Forschung.

In Beratungs- oder Coachingprozessen, in denen es explizit um Selbstveränderung und Bewältigung geht, besteht die Gefahr, dass Coachees ihre angestrebten Ziele dem eigenen Bewusstsein aufzwingen, dadurch Stress und Druck weiter ansteigen und Veränderung gerade dadurch blockiert wird (Wagner 2021). Fehlende Gelassenheit der sie begleitenden Coaches kann Blockaden noch verstärken, denn diese überträgt sich in der Interaktion (Kosuch 2009). Daher ist es hilfreich, für das Ausmaß psychischer Anspannung sensibilisiert zu sein.

Im Folgenden wird das dem Selbstreflexionsinstrument zugrundeliegende Verständnis von Gelassenheit erläutert (Abschn. 2). Dabei wird auf ein bereits bewährtes quantitatives Instrument der Einschätzung des Ausmaßes an Gelassenheit Bezug genommen – die Psychotonusskala. Um die verschiedenen Arten der mentalen Verarbeitung – mit Gelassenheit oder mit Anspannung – geht es im Abschn. 3. Anschließend wird das Gelassenheitsbarometer theoriegeleitet vorgestellt (Abschn. 4) und auf bisherige Anwendungserfahrungen eingegangen (Abschn. 5). Im Anhang wird das Barometer in einer auf Basis der Anwendungserfahrungen leicht überarbeiteten Version gezeigt.

2 Begriffsklärung: Gelassenheit in der Alltagsbewältigung

Gelassenheit ist „ein Zustand innerer Ruhe, verbunden mit dem Gefühl der Mühelosigkeit und des Wohlbefindens – sowie der Abwesenheit von Konflikten in den bewussten mentalen Prozessen (Gedanken, Gefühle, Empfindungen)“ (Wagner 2021, S. 24). Mit Gelassenheit ist es möglich, zu „planen, wünschen, handeln, erfinden, schlussfolgern, spüren, genießen, träumen“ (ebd., S. 73). Diese Abwesenheit innerer Konflikte als zentraler Aspekt geht auf die zugrundeliegende Theorie mentaler Selbstregulation zurück. Es geht also um solche Anlässe, in denen Herausforderungen tatsächlich auch zu inneren Konflikten führen.

Mehr Gelassenheit gemäß der oben genannten Definition anzustreben, ist möglich – und das ist das Besondere an dieser pragmatischen Vorstellung von Gelassenheit –, ohne sich dabei Gelassenheit im Sinne einer Selbstoptimierung aufzuzwingen und dadurch wiederum unter Druck und Stress zu geraten. Denn erstens geht es nicht darum, sich grundsätzlich zu ändern. Es ist nicht von Bedeutung, ob jemand schnell oder langsam, expressiv oder eher verschlossen ist, wenn es darum geht, Gelassenheit bewahren zu können. Bei diesem Verständnis von Gelassenheit handelt es sich nicht um ein dauerhaft bestehendes Merkmal einer Person („trait“), sondern darum, eine Kompetenz zu erwerben, um in den so beschriebenen Zustand („state“) der Gelassenheit (zurück)kommen zu können. Eine solche Qualität – die gelassene Art und Weise der Weiterverarbeitung von Eindrücken, Gedanken und Gefühlen – kann durch Training und Anwendung der Introvision erlernt werden (Wagner et al. 2020). Das Wissen um die mentalen Prozesse, die mit dem Verlust der Gelassenheit verbunden sind, spielt dabei eine bedeutsame Rolle (ebd.). Das im Folgenden vorgestellte Gelassenheitsbarometer wurde als Selbstreflexionsinstrument entwickelt, um die Förderung einer gelassenen Erlebensqualität zu ergänzen, und zwar durch Sensibilisierung für Prozesse, die Gelassenheit rauben oder auch fördern.

Zweitens ist das Ausmaß psychischer Anspannung in diesem alltagstauglichen Verständnis von Gelassenheit im mittleren Bereich angesiedelt, wie an der von Wagner entwickelten Psychotonusskala deutlich wird (Stufe 4, s. Tab. 1). Das höchste Ausmaß von Gelassenheit mit der geringsten psychischen Anspannung ist demnach nicht automatisch das Beste, wenn es um den Alltag geht (s. Abschn. 3). Stufe 4 bezeichnet einen Zustand, den sich „Chefs bei ihren Mitarbeitern wünschen: Letztere sollen (…) dazu in der Lage sein, ‚einfach so‘ willentlich handelt zu können“ (ebd., S. 29).

Tab. 1 Die Psychotonusskala. (Nach Wagner et al. 2020, S. 27)

Mit der Psychotonusskala liegt bereits ein Einschätzungsinstrument zur Gelassenheit vor. Es bezieht sich jedoch inhaltlich auf die Folgen und stellt das Ausmaß in den Mittelpunkt. Das Gelassenheitsbarometer zur Selbstreflexion nimmt hingegen detailliert die mentalen Prozesse in den Blick, die bei(m Verlust von) Gelassenheit ablaufen. Gelassenheit wird dabei einer Nicht-Gelassenheit gegenübergestellt, aber nicht quantitativ erfasst.

3 Gelassenheit und Verlust der Gelassenheit im aktiven Alltag

Das Gelassenheitsbarometer (GB) kann dabei unterstützen, den Unterschied zwischen Stufe 4 (als willentliches Handeln ohne merklichen Widerstand) und Stufe 5 (als angestrengtes Handeln gegen innere Widerstände) zu spüren. Hier der O‑Ton einer mit Introvision vertrauten Person, die über den Unterschied zwischen diesen beiden Stufen auf der Psychotonusskala (Tab. 1) laut nachdenkt:

„‚Aha, so ist es.‘ Punkt. Das ist ja ein ganz anderer mentaler Zustand als: ‚Das darf doch nicht wahr sein, dass …!‘ Sehnsuchtsvoll schaue ich auf das ‚Normal-Null‘, den Gelassenheitspegel Stufe 4. Das Alltagswachbewusstsein, wach und handlungsfähig, ohne mich anzutreiben, ohne meinen inneren Schweinehund überwinden zu müssen, oder der Aufschieberitis anheimzufallen … Denken und Handeln, ohne mich selbst schlecht zu behandeln – so könnte ich durch meinen Tag gehen. Die Stimmungen und Eigenbewegungen meines Bewusstseins nehme ich wahr. Manchmal nutze ich das, was auftaucht, ansonsten lassen ich es wieder abklingen. Ich habe Zugriff auf meine Ideen, mein Wissen, meinen Methodenkoffer. Stattdessen bin ich immer wieder auf Stufe 5, 6 und manchmal 7. Und auch wenn ich Stufe 4 an die Kontaktlinie schicke – andere erleben mich entspannt und gelassen –, auch dann bin ich oft auf Stufe 5, oft ohne es selbst zu bemerken. Ist Stufe 5 vielleicht meine Alltagstemperatur? Bin ich nicht ständig dabei, mich dem, was gerade passiert, entgegenzustemmen, auch wenn es schon passiert ist, und mich zu kommentieren, ja zuzurichten? Und wie oft tue ich das mit dem dringlichen Satz: ‚Sei doch mal gelassener!‘? Ist das fortgesetzte Angehen gegen innere Widerstände nicht ein Grund für die erschöpfte Gesellschaft – und bin ich ein Teil davon?“

In Tab. 2 werden diese beiden Qualitäten einander gegenübergestellt, und zwar insbesondere mit Blick auf die Unterschiede an der Schnittstelle zwischen Psychotonusstufe 4 und 5. Die aufgeführten Verarbeitungsbereiche bilden die Basis für die Itementwicklung zur Selbstreflexion (s. Abschn. 4).

Tab. 2 Konstatieren mit Gelassenheit vs. Imperieren mit Anspannung

An dieser Stelle ist es sinnvoll, den Unterschied zwischen Gefühlen und Affekten in diesem Ansatz der mentalen Selbstregulation zu erläutern. Fühlen mit Gelassenheit bedeutet, zu fühlen, was sich innerlich einstellt, und es so wahrzunehmen, wie es sich (momentan) darstellt, ohne es zu bewerten oder sofort verändern zu wollen. Dann und nur dann sind Gefühle „wie Farben beim Sehen. (…) Sie helfen uns, unterschiedliche Zustände rasch erkennen und einordnen zu können“ (Wagner 2021, S. 278). „Die Basis von Emotionen sind Gefühle. Ein Gefühl kann durch Hinzufügen von Erregung und Anspannung aufgeblasen werden – dann spricht man von Affekten.“ Wird Gelassenheit wiedergewonnen, „wird aus einem Affekt (oder der Gefühlslosigkeit) wieder ein Gefühl“ (Wagner et al. 2020, S. 193).

3.1 Verlust von Gelassenheit – ein Notfallprogramm

Eine Situation als solche anzunehmen („So ist es.“) und sich dann dem zuzuwenden, wie damit umzugehen ist, statt sich mental gegen die Situation aufzulehnen, gelingt oft nicht. Doch welche Prozesse führen dazu, dass psychische Anspannung zunimmt – erlebbar als ein „Sich-Aufregen“ (= Öl ins Feuer gießen) oder „Zumachen“ (= hemmen, sich blockieren)? Die Antwort ist, dass ein für den Notfall sinnvolles Programm mentaler Weiterverarbeitung in unpassender Weise seinen Weg in die Alltagsbewältigung gefunden hat. Gedacht ist es im Grunde nur dafür, schnell und unter hoher Anspannung mentale Defaults – also Fehler in der Weiterverarbeitung – zu überbrücken. Wagner hat dazu eine grundlegende Regulationstheorie entwickelt, die Theorie der mentalen Introferenz (Wagner 2019, 2021). Sie nennt vier Arten von solchen Notfällen, in denen ohne mentales Eingreifen und Überschreiben keine Handlung möglich ist, und fasst sie unter dem Akronym „WILD“ zusammen. Diese werden am Beispiel des Umgangs mit einer Gefahrensituation durchgespielt.

  • Widerspruch: „A oder B: Beides zusammen geht nicht!“ Verteidigen oder Flüchten? Nur eine der beiden Möglichkeiten kann ausgeführt werden.

  • Inkongruenz: „Das stimmt nicht!“ (mit der Realität unvereinbar) Zu sehen ist ein ängstlicher Mensch, der zurückweicht; er wird aber dem feindlichen Lager zugeschrieben. Die Zuschreibung „Angreifer“ ist mit dem, was sich real gerade abspielt, nicht in Einklang zu bringen – die Zuschreibung stimmt also nicht.

  • Leerstelle: „keine Ahnung!“ Es fällt einem nichts ein, wie die Situation einzuschätzen ist, und dementsprechend auch nicht, was zu tun ist.

  • Diskrepanz: „Es läuft nicht so, wie es soll!“ (Hilflosigkeit) Weglaufen wäre das Richtige, der Weg ist aber nicht zu erkennen.

Die gegenläufigen oder ausbleibenden mentalen Handlungsanweisungen, die in die WILD-Defaults eingelassen sind, müssen in einem existenziellen Notfall schnell überschrieben werden mit der Information, dass es nur eine Art und Weise gibt, die Bedrohung zu beenden, auch wenn das in Wirklichkeit nicht so ist.

Wenn jedoch keine Lebensgefahr besteht, ist es nicht nötig, in einen solchen Zustand zu geraten, der mit Aufregung, Angespanntheit, Druck und einem Tunnelblick verbunden ist. „Hört dieses introferente Eingreifen auf, so stellt sich Gelassenheit ein“ (Wagner 2021, S. 35). Es geht demnach im ganz wörtlichen Sinne darum, etwas zu lassen, um gelassener erleben und handeln zu können.

Im Alltag sind es Konfliktumgehungsstrategien, mit denen eingegriffen und überschrieben wird. In der Alltagssprache finden sich viele Ausdruckweisen dafür, z. B. sich etwas einbilden, sich etwas vormachen, schwarzmalen, ausblenden, sich zusammenreißen, sich in etwas hineinsteigern, etwas abwerten, bagatellisieren, sich ärgern, sich aufregen usw. (Wagner 2021, S. 64).

Tauchen diese WILD-Fehler nun in einer nichtexistenziellen Situation auf, ist es grundsätzlich möglich und passend, im Modus der Gelassenheit damit umzugehen. Ein Beispiel:

„Beim Ansprechen eines ihr bekannten Teilnehmers auf einer Tagung gerät eine Teilnehmerin ins Stocken, weil ihr zwei widersprüchliche Namen (Widerspruch), ein falscher Name (Inkongruenz) bzw. der Name gar nicht einfällt (Leerstelle) oder ihr der Namen zwar präsent ist, sie ihn aber wegen einer plötzlicher Verwirrung nicht aussprechen kann (Diskrepanz, siehe auch Rohde und Kosuch 2023). Nun kann sie innerlich konstatieren, dass sie den Namen nicht weiß – ja, so ist es. Wenn sie das tut, steht ihr genug mentale Kapazität zur Verfügung, mit dieser Tatsache umzugehen. Je nachdem in welcher Beziehung sie zu dem Teilnehmer steht, kann sie mit dem Gegenüber kommunizieren. Gegebenenfalls fällt ihr, wenn sie gelassen bleibt, der Name sogar wieder ein.“

Oftmals sind Situationen, wie die im Beispiel genannten, über Imperativketten mit als existenziell erlebten inneren Konflikten verknüpft, z. B.: „Es darf nicht sein, dass ich so etwas Einfaches nicht weiß!“, „Wenn ich es nicht weiß und das rauskommt, stehe ich dumm da …“, „Es darf nicht sein, dass ich dumm dastehe!“, „Wenn ich dumm dastehe, bin ich inkompetent …“, „Ich bin inkompetent, das ist schlimm!“. An diesem Beispiel zeigt sich, wie die eingreifenden Bewältigungsversuche das Ausmaß der Anspannung und Erregung weiter steigern (genauer in Wagner 2021; Kosuch und Wagner 2019; Kosuch 2015).

Im Folgenden werden das Gelassenheitsbarometer und seine Entstehung im Einzelnen dargelegt.

4 Entwicklung und Aufbau des Gelassenheitsbarometers

Ausgangspunkt für die Entwicklung des Barometers war, dass Kenntnisgewinn über die mentalen Prozesse beim Verlust von Gelassenheit bereits ein erster Schritt zur Förderung von Gelassenheit ist. Daher wurden in den obigen Abschnitten diese Prozesse theoretisch fundiert erklärt; im Barometer selbst werden sie aber auf eine Weise beschrieben, die eine tiefere Auseinandersetzung mit den Grundlagen nicht voraussetzt.

Kontrastierung: Mithilfe des Barometers wird eingeschätzt, ob inneres Erleben in einer ganz konkreten Situation als (eher) gelassen oder als (eher) nicht gelassen erlebt wird. Ziel ist es, den Unterschied zunehmend besser zu bemerken. Daher wurde ein Polaritätsprofil mit Abstufungen der Zustimmung zu verschiedenen Aussagen gewählt. Ein weiterer Grund für die Kontrastierung war, dass Nutzer:innen, die sich in einer Formulierung wiederfinden, welche eine hohe psychische Anspannung beschreibt, zugleich deutlich wird, was sich mental anderes abspielen würde, wären sie gelassener. Denn oft wissen Menschen, wie etwas nicht sein sollte, haben aber keine Anmutung davon, wo eine innere Entwicklung hingehen könnte. Bei Ausfüllen wird also jederzeit erkennbar, was Menschen eigentlich genau erleben und tun, wenn sie ihre Gelassenheit verlieren oder behalten, was anschließend im Coaching gemeinsam reflektiert werden kann.

Nichtwertende Selbstbeobachtung: Ein weiteres Ziel im Entwicklungsprozess war es, Impulse für die Selbstbeobachtung zu geben, die möglichst wenig Selbstbewertung (und somit ggf. Selbstverurteilung) auslösen. Der Prozess des Ausfüllens selbst und der Blick auf das Ergebnis sollen zur konstruktiven Selbstreflexion anregen. Die Einschätzungen hinsichtlich der Art und Weise des inneren Erlebens geben zusammengenommen ein Bild über Tendenzen zur einen oder anderen Ausprägung, ohne dies in einem numerischen „Testergebnis“ festzuschreiben. Eine nichtwertende emotionale Gestimmtheit beim Ausfüllen soll zudem dadurch gefördert werden, dass die polar gegenüberstehenden Aussagen eher den Zustand in einer spezifischen durchlebten Situation (state) beschreiben und nicht die Vorstellung einer überdauernden Persönlichkeitseigenschaft (trait) auslösen. Daher ist es wichtig, die Aussagen im Barometer vor der Anwendung auf ganz konkrete Kontexte zuzuschneiden, indem die Textlücken entsprechend ergänzt werden. Das kann eine ganz konkrete Situation, ein klar einzugrenzender Zeitraum, aber auch ein spezifischer wiederkehrender Anlass sein, der zum Verlust der Gelassenheit führt (z. B. „Jedes Mal, wenn mir jemand ins Wort fällt, …“). Mit der fünfstufigen Skala ist das Barometer so konzipiert, dass eine Aussage auch als nicht relevant oder als nicht zutreffend eingeschätzt werden kann. Dann wird die Mitte angekreuzt, und das Item geht nicht in die Auswertung ein, kann aber trotzdem in der Reflexion berücksichtigt werden.

Itementwicklung: Zur Ausformulierung der Items galt es, Anzeichen herauszuarbeiten, an denen zu erkennen ist, dass mentale (Weiter)verarbeitungsweisen gelassenheitsförderlich ablaufen: Erstens gelingt es einer Person zwischen Dingen zu unterscheiden, die verändert werden können, und denen, die sie nicht ändern kann. Zweitens kann diese Person das eigene (ggf. wenig gelassene) Erleben annehmen, ohne überschreibend einzugreifen, sodass sie nicht in einen Tunnelblick gerät, sondern der Handlungsspielraum entsteht, mühelos passende Reaktionen auszuwählen. An den folgenden drei Aspekten ist dies zu erkennen:

  1. 1.

    Mental inhaltlich zeigt sich, dass sich das Erleben in einer annehmenden Haltung abspielt: „Ja, so ist er/sie/es (zurzeit)“.

  2. 2.

    In der Qualität des allgemeinen Erlebens zeigt sich das daran, dass nicht zusätzlich eingegriffen wird. Die Person gerät nur selten und wenig in zusätzliche (mentale) Anspannung angesichts des Verhaltens von anderen oder angesichts von bestimmten Gegebenheiten. Als Reaktion kommen Gefühle auf, die nicht zusätzlich intensiviert (z. B. Ärger, Wut), aber auch nicht blockiert werden (z. B. verstocken, innerlich aufgeben, Blackout erleben). Insgesamt zeigen sich also eher Gefühle als Affekte (s. Abschn. 3). Der Grundton des Erlebens ist Akzeptanz.

  3. 3.

    Der Handlungsspielraum ist nicht besonders eingeengt. Die betroffene Person kann auf vielfältige, ggf. auch neue Handlungsmöglichkeiten zugreifen. Anders formuliert, es ist möglich, nicht automatisch in einer bestimmten Weise – wie auf Knopfdruck – reagieren zu müssen. Gefühle werden als Gefühle erkannt, denen man folgen kann und aus denen man direkte Handlungen ableiten kann, oder auch nicht.

Anschließend wurden Items für die folgenden fünf verschiedene Verarbeitungsbereiche formuliert, die sich an den in Tab. 2 dargestellten Unterschieden zwischen dem angespannten Imperieren und dem gelassenen Konstatieren an der Schnittstelle zwischen Psychotonusstufe 4 und 5 orientieren: Selbstkommunikation, Selbstwahrnehmung, Umgang mit eigenen Gefühlen und Stimmungen, Umgang mit Grenzen der Beeinflussbarkeit sowie für den Bereich des Handlungsspielraums (s. Tab. 2; s. thematische Abschnitte im GB).

Der Prototyp des unspezifischen Gelassenheitsbarometers wurde bereits 2018 erstmals auf eine konkrete Zielgruppe zugeschnitten. In Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung eines Modellprojekts zur Gelassenheitsförderung sollte ein Selbstreflexionstool für pflegende Angehörige entwickelt werden. Die Ergebnisse der Auswertung von sechs Gruppeninterviews mit 51 pflegenden Angehörigen zum Thema Gelassenheit wurden herangezogen, um das Barometer abschließend in Hinblick auf Verständlichkeit sprachlich zu überarbeiten (Kabst et al. 2019).

Ausgewählte Items und Anleitungen: Zwei Bereiche der mentalen Weiterverarbeitung werden im Folgenden anhand von Item-Beispielen erläutert.

Selbstwahrnehmung: Das folgende Item greift auf, dass nicht nur Erregung, sondern auch das Blockieren und Sich-Aufzwingen von Verhaltens- und Verarbeitungsweisen Gelassenheit verhindern, aber nicht als „Gelassenheitsräuber“ wahrgenommen werden (Tab. 3).

Tab. 3 Item-Beispiel Selbstwahrnehmung

Umgang mit eigenen Gefühlen und Stimmungen: Am folgenden Item wird deutlich, dass es auch darum geht, dafür zu sensibilisieren, dass das Anstreben von Gelassenheit auch zum Verlust von Gelassenheit führen kann (Tab. 4).

Tab. 4 Item-Beispiel Umgang mit eigenen Gefühlen und Stimmungen

Hinter der alltagssprachlichen Formulierung des Annehmens steht ein mentales Weitstellen, das in der Introvision zunächst anhand der klassischen Sinne geübt wird – Weitstellen beim Sehen (Blick in die Ferne), beim Hören (alles auf einmal, Klangteppich) und beim Spüren (den Körper als Ganzes) –, um dann auf dieser Basis auch das Bewusstsein weitstellen zu können (z. B. Wagner et al. 2020, S. 90 ff.). Die anspannungsreduzierende Wirkung soll an einem Bild erläutert werden:

„Mit Gedanken, Gefühle und alle Eigenbewegungen des Bewusstseins annehmend umgehen zu können, gelingt mit Weitstellen besser als im ‚Tunnelblick‘ und somit in einer mentalen Engstellung. Kommt eine Irritation auf, ist das unter Bedingungen des Engstellens so, als falle ein Stein in einen bis zum Rand gefüllten Eimer. Dann werden selbst kleine konzentrische Kreise Wellen aufwerfen, die über den Rand schwappen. Fällt dieser Stein aber in einen großen See, bilden sich konzentrische Kreise, die sich in die Weite hin ausbreiten, und die Wasseroberfläche wird wieder glatt, ohne dass sie in größere Unruhe gerät oder Wasser in irgendeiner Weise überschwappt.“

Dem Gelassenheitsbarometer wurde abschließend eine Anleitung vorangestellt, in der zunächst das Ziel der Anwendung dargelegt und Gelassenheit erklärt wird. Es folgt die Anleitung, wie es einzusetzen ist. Zunächst soll ein Thema gewählt werden. Dabei ist zu entscheiden, ob die Einschätzung zu einer spezifischen oder zu einer wiederkehrenden herausfordernden Situation vorgenommen wird. Wenn es um die Nachbereitung einer konkreten Situation geht, reicht es, das Reflexionstool einmalig anzuwenden. Die Häufigkeit der Nutzung bleibt in den Händen derjenigen, die sich bezüglich ihrer Gelassenheit reflektieren wollen.

Auf der letzten Seite des Barometers werden Hinweise dafür gegeben, wie die einzelnen Einschätzungen als Ganzes so betrachtet werden können, dass eine Momentaufnahme zu gelassenheitsförderlichem oder -hinderlichem Erleben abgeleitet und ggf. im Coaching reflektiert werden kann.

5 Anwendungserfahrungen und Fazit

Das Gelassenheitsbarometer ist für die Selbstreflexion konzipiert. Nach den Einschätzungen der einzelnen thematisch ergänzten Items können Auswertung und Reflexionsprozess im Coaching begleitet werden.

Zu diesem theoriegeleitet entwickelten Reflexionstool wurden Anwendungserfahrungen bisher unsystematisch als Erfahrungsberichte gesammelt. Sie stammen vor allem aus einem Weiterbildungsseminar zur Introvision an der Universität Hamburg und dem Austausch mit ca. 20 Coaches in einem Webinar zum Gelassenheitsbarometer (www.introvision.de/webtalk-das-gelassenheitsbarometer-impulse-fuer-die-anwendung/). In verschiedenen Berichten wird deutlich, dass Coaches, die selbst mit dem Reflexionstool experimentiert haben, finden, dass sie weniger Druck auf ihre Coachees ausüben und deren Selbstannahme besser fördern können. Zudem unterstütze das Barometer eine Grundhaltung des forschenden Interesses sich selbst gegenüber und schütze vor beeinträchtigenden und unrealistischen Zielsetzungen. Weitere Rückmeldungen zeigen, dass das Gelassenheitsbarometer während der Selbsteinschätzung auf einen konkreten Kontext dazu beiträgt, Emotionen besser anzunehmen und einen hinderlichen Umgang mit Gedanken lassen zu können – ganz im Sinne des Begriffs der Gelassenheit. Die Reflexion mithilfe des Gelassenheitsbarometers ermöglicht zudem Rückschlüsse darauf, wo Veränderungen notwendig sind oder Unterstützung in Anspruch genommen werden sollte:

„… werde das GB im Schlaf-Coaching anwenden.“

„… ein wunderbares Tool, praktikabel und gut zu verwenden.“

„… es ermutigt sich zu trauen, auch in die Tiefe zu gehen, es ist kein Test, es gibt kein Richtig oder Falsch, es dient einfach der Selbsteinschätzung.“

„… hat mich durch die Anwendung schon etwas runterreguliert.“

„… ein spannendes Tool, das mir Entlastung bringt. Lösungsorientierung hingegen erhöht oft die Diskrepanz zwischen Ist und Soll – das macht Druck.“

„… die zugrundeliegende Definition von Gelassenheit als Alltagswachheit sehr hilfreich.“

„… Doppelnutzen zur Selbstreflexion als Coach, und um Coachees ihre mentale Verfassung deutlich werden zu lassen.“

Im Anhang ist das Selbstreflexionstool zusammen mit dem möglichen Anschreiben abgebildet. Die durch den Unterstrich markierten Lücken sind vor der Anwendung mit konkreten Anlässen und Beispielen zu füllen. Das Barometer unterscheidet sich gegenüber der bisher publizierten Version darin, dass ein wertendes Plus- und Minuszeichen entfernt wurde. Die darin implizierte Bewertung steht dem Grundgedanken des Konstatierens – des Annehmens von dem, was ist – entgegen. Außerdem wurden zwei doppelte Verneinungen entfernt und einige sprachliche Überarbeitungen vorgenommen.

Während sich mit der Psychotonusskala das Ausmaß psychischer Anspannung einschätzen und reflektieren lässt, so zielt das Gelassenheitsbarometer auf die Sensibilisierung für die damit verbundenen Abläufe im inneren Erleben. Der Fokus der Psychotonusskala liegt auf Quantität (mit qualitativen Anteilen); das Gelassenheitsbarometer setzt an der Grundfrage an, zu welcher Art und Weise der Weiterverarbeitung jemand in einem spezifischen Kontext neigt – mit dem Fokus auf Qualität (mit quantitativen Anteilen). Mit dem Gelassenheitsbarometer lässt sich einschätzen, wie sich Nicht-Gelassenheit und Gelassenheit innerlich anfühlen und was sich dabei mental abspielt. Dadurch und durch die anschließende Reflexion im Coaching kann dafür sensibilisiert werden, wann und auf welche Weise die Gelassenheit verloren geht oder wiedergewonnen wird.

Abschließend ist festzuhalten, dass das Gelassenheitsbarometer mit seinen fünf Dimensionen des Erlebens theoriebasiert als Reflexionsinstrument entwickelt wurde. Es handelt sich nicht um ein Testverfahren zur Einordnung und wird daher auch nicht quantitativ ausgewertet. Weitere Forschung zu Bedeutung und Auswirkung des Barometers steht noch aus.